Leben – Angst – Faszination
Funken sprühend lebendig
Zu VIVID als neue Grand Show im Palast über das Leben in binären Zeiten und Welten
VIVID sprüht nicht nur vor purer Lebensfreude, die neue Grand Show an der Friedrichstraße stellt auch die Frage nach dem Leben auf den Kopf. Das liegt nicht nur an den Hüten auf den Köpfen der Artist*innen und Körperkünstler*innen. Die Hüte sind von Philip Treacy aus dem Landkreis Galway im ländlichen Irland. Doch Treacy hat es auf märchenhafte Weise aus der Landschaft des robusten Tweed laut Vogue zum „perhaps … greatest living milliner“ in der Hauptstadt aller Hut- oder Putzmacher gebracht, nämlich London. Kein Event der Royals ohne Hut als Ersatzkrone. R’eye in VIVID bekommt dagegen einen funkelnden Android-Helm verpasst, um in der „Binären Welt“ robotergleich alles sehen, aber kaum erleben zu dürfen.
Die erste Show, die nach 99 Jahren der durchaus wechselvollen Bühnengeschichte des Friedrichstadt-Palasts von einer Frau, Krista Monson, geschrieben und inszeniert worden ist, setzt neue Maßstäbe im Revuetheater bzw. der Grand Show. Frau und Revue an der Friedrichstraße waren fast 100 Jahre lang Frau und Banane. Josephine Baker trat am 14. Januar 1926 erstmals in fast nichts als einem Rock aus phallischen Bananen in Berlin auf. Beinahe gleichzeitig brachte Erik Charell die Girlreihe aus London nach Berlin. Je länger die Reihe gleichgroßer und -schlanker, gleichgekleideter sowie synchron tanzender junger Frauen wurde, desto größer die Begeisterung und lauter das rhythmische Klatschen im Publikum. Krista Monson macht es nun etwas anders.
Zunächst allerdings vermochte es Barbara Eden auf dem Roten Teppich zur Weltpremiere von VIVID Tumulte und ein Blitzlichtgewitter der Agentur- und Magazinfotografen auszulösen. Es sind am Roten Teppich tatsächlich Männer mit Kameras und Spezialobjektiven in der Überzahl. Barbara Eden hat sich seit 1965 auf eine Geste mit größtem Wiedererkennungswert für in and out of Hollywood spezialisiert. Sie hält die Arme verschränkt in Schulterhöhe vor ihren Körper und nickt blinzelnd wie die hollywood-orientalisch gekleidete Frau aus der us-amerikanischen Serie I dream of Jeannie oder Die bezaubernde Jeannie. Jeannie zauberte sich mit der Geste an verschiedene Orte und in verschiedene Geschichten hinein. In der Zeichentrick-Intro wird Jeannie als zufälliges, orientalisches Fundstück eines, natürlich amerikanischen, Astronauten, der in seiner Raumkapsel auf einer Pazifikinsel landet, eingeführt.
Jeannie als Figur einer weiblichen, eher leicht bekleideten Frau – nabelfrei in einer Art Bikini mit Hose und Schleiern – wurde nach der kindlichen Erinnerung des Berichterstatters von einem mächtigen Flaschengeist beherrscht, der sie in einer Flasche als Wohnstube festhielt. Sie selbst konnte allerdings zeitweilig entkommen, um im Zeitalter von Raumkapsel und analogem Telefon mit ihrer Geste zu zaubern. Sie stiftete meistens einige Verwirrung mit ihren Zaubertricks. Doch beherrscht wurde Jeannie von 1965 bis 1970 von einem Dschinn, der größer war als sie, und sie immer wieder in ihre Wohn-Flasche zauberte. Die psychoanalytische Ebene des Verhältnisses von Tony Nelson, dem Astronauten, und Jeannie blieb dem Kind verborgen. Doch Barbara Eden als Jeannie faszinierte den Jungen fast ebenso sehr wie Marilyn Monroe. Entzog sich Jeannie als 2000 Jahre alter Flaschengeist dem Mann? Oder wurde sie gleich einer Hausfrau der 60er Jahre in der Flasche unter Verschluss gehalten?
Barbara Eden als Jeannie stimmte in gewisser Weise auf den populären Mythos von Frau und Zauberei ein. Die Fotografen schrien „Barbara“ und sie zauberte die Geste. Die ganz große Inszenierung der Weltpremieren im Friedrichstadt-Palast verknüpft mit dem Roten Teppich Mythen der Popkultur, wie anlässlich der Weltpremiere von The One(2016) detaillierter entfaltet und beleuchtet wurde.[1] Einerseits erfüllt Barbara Eden (*1931) eine Zeugin-Funktion für Menschen, die sich an sie erinnern, was die solvente Generation 50Plus wäre. Wenn Barbara Eden/Jeannie dorthin geht, dann muss die Show besonders sein. Andererseits bietet die Zauberin Jeannie die Möglichkeit zur Verknüpfung mit dem Mädchen R’eye (Devi-Amanda Dahm) und dem Guru (Mehmet Yilmaz), der die zauberische Ebru-Malerei showreif vorführt. Jeannie war eine in gewisser Weise witzige Zauberin, die ein Frauenbild bediente und sich den Männerphantasien zugleich entzog.

Stay (© Brinkhoff-Moegenburg)
Die Girlreihe, im Englischen Kickline, war immer eine Männerphantasie. Sie kombiniert den disziplinierten, schlanken Körper der Frau mit dessen Verfügbarkeit durch die nahezu industrielle Vervielfältigung, obwohl Erik Charell als Homosexueller vielleicht gar nicht daran dachte. Die Girlreihe wurde nicht nur zu einem Markenzeichen des Friedrichstadt-Palasts, vielmehr wurde sie zum Körperbild der disziplinierten Frau, die die Lust am Seriellen weckte. Ihre kulturellen Tiefenschichten reichen paradoxer Weise bis zu Turnvater Jahn, der in der Hasenheide von Anfang an das Turnen bzw. die Körperertüchtigung als nationalpolitische Übung einführte. Geturnt wurde ab dem 19. Juni 1811 vor den Toren Berlins in der Hasenheide, um für die Nation und die Preußischen Befreiungskriege gegen Napoleon fit zu werden. Krista Monson bedient und durchbricht mit ihrer Geschichte von R’eye auf raffinierteste Weise diese Tradition der Girlreihe.

Der Intendant und Produzent von VIVID im Palast, Dr. Berndt Schmidt, erhält bei der Weltpremiere am 11. Oktober stürmischen Applaus und Bravos, als er zur Begrüßung sagt, dass Krista Monson als erste Frau in der Geschichte des Hauses Regie geführt habe. In den letzten Jahren hatten Roland Welke und/oder Jürgen Nass die Regie durchaus innovativ, doch nach bekanntem Schema ausgeführt. Mit Krista Monson und Oliver Hoppmann als Co-Autor und Co-Regisseur ändert sich doch noch einmal mehr als erwartet. Der Palast und sein Team übertreffen sich ein weiteres Mal. Das ist der Haltung und dem Gespür von Berndt Schmidt zu verdanken. Nach #MeToo, aber auch schon vorher, war zu überdenken, ob eine Profi-Frau an den Schräubchen des Revue-Formats etwas verstellen könnte. Denn die Revue ist durchaus ein Geschlechter-Format.
VIVID ist aufregend nah an den Fragen der Zeit dran. VIVID spielt jetzt. Anders als in Show Me – Glamour is back (2012) oder The One Grand Show (2016) greift diese Revue die Geschlechterfrage in der aktuellen, öffentlichen Diskussion auf. Einerseits erzählt VIVID vom Leben und feiert es, andererseits wird R’eye zum „Android“, also in einen menschenähnlichen Roboter verwandelt. Was heißt dann Leben? Lebt ein Android? Oder ist ein Android eine tote Maschine? Inwieweit verwandeln sich Menschen tagtäglich durch die Künstliche Intelligenz der Apps in roboterartige Wesen? Wenige Tage zuvor hatte der Theaterkritiker Michael Skasa in der Uraufführung von Uncanny Valley in den Münchner Kammerspielen gesessen und den „Cyborg“ auf der Bühne für den Autor Thomas Melle gehalten.[2] Das Unheimliche war ihm die mimische Menschenähnlichkeit der Maschine als Ende des Menschen, wie wir ihn kennen.
Was macht die fortschreitende Künstliche Intelligenz, wie sie für Schüler*innen und Erwachsene in den Apps der Smartphones arbeitet, mit uns? „Pling“. „#tellAda: Hallo, ich bin Ada. Ich kann dir helfen, wenn du dich nicht wohlfühlst.“[3] „Brechen Sie das Eis und lernen Sie Alexa noch besser kennen, Sagen Sie einfach: „Alexa, guten Morgen.“| „Alexa, wie geht es dir?“ | „Alexa, was ist dein Lieblingsfilm?“[4] Wie witzig ist das denn, wenn wir uns an einem „Wortspiel“ von Alexa erfreuen?[5] Das Mädchen aus dem Publikum lässt sich wie weiland Alice in Wonderland von „Androiden“ mit einem Helm oder „Hut“ aus 1.800 LEDs und 200 einzelnen Laserpunkten in die „Binäre Welt“ entführen. Androiden, Cyborgs, nicht zuletzt Roboter als Entertainer in der Altenpflege bevölkern zunehmend den Unterhaltungssektor.[6] Die Medizin lässt sich derart verdaten, dass Ada einen Arztbesuch ersetzten könnte. Denn Ärzte haben auch nur ihr Diagnose-Tool und müssen nach Schemata Medikamente und Behandlungen gegenüber den Krankenkassen abrechnen.
Die ganz große Kunst der Revue in ihrer Ästhetik der permanenten Überbietung besteht darin, mit den Mitteln der Poesie eine elastische Geschichte zu erzählen, in der vielfältige Wahrnehmungen möglich werden. VIVID setzt von und mit Krista Monson, die zuvor schon als Artistic Director für die Show O in Las Vegas mit dem Cirque du Soleil zusammengearbeitet hat, neue Maßstäbe in der Kombination von New Circus und Revue im Großformat. Ständig passieren auf der Bühne mehrere Aktionen gleichzeitig, die sich kaum noch erfassen lassen. Es bewegen sich neben The Entertainer (Andreas Bieber) zahllose Menschen und Kostüme auf der Bühne. Während die vier Artistinnen der Troupe Ayasgalan als Kontorsionistinnen in Schlangenkostümen in Jungle Extravaganza atemberaubende Pyramiden bilden, bevölkern unzählige Mischwesen (16) aus Tier und Mensch oder Mensch und Pflanze mit den atemberaubendsten Hut- bzw. Kopfkreationen die Bühne. R’eye steht fasziniert mittendrin.

Die Überbietung führt zu einer gewissen Unübersichtlichkeit der Vielfalt. Nun könnte genau diese Unübersichtlichkeit als Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Aktionen und Blickwinkel Angst machen. Ist es doch die Unübersichtlichkeit der Welt, die durch permanente Informationssturzfluten heute Ängste auslösen kann. An der Sequenz Jungle Extravaganza lässt sich die irritierende Gleichzeitigkeit und Vielfalt genauer beschreiben. Würde sich der Zuschauer nur auf die Schlangenmenschenfrauen konzentrieren, entgingen ihm die Raupenfrau und der Pavianmann oder die Schmetterlingsfrau und der Faltermann mit Orchideenelementen. Vorgeführt wird eine verführerische Vielfalt, die sich nicht in einer Aktion oder einem Bild fassen lässt. Der Songtext (Jasmin Shakeri) für den Entertainer feiert gleichzeitig die Vielfalt:
Bisher hast du dich nicht getraut
Alles auszuleben, war Dir innewohnt.
Doch genau diese Vielfalt gilt es zu leben.
Erforsche die Grenzen, umarme die Angst.
Was auch immer dich dir selbst näher bringt,
hier kannst du es leben.[7]
Vielfalt lässt sich nicht erfassen oder verorten. Das Leben ist vielfältig. Während die Revue als Bühnenformat mit der Girlreihe beispielhaft einer Vereinheitlichung, Disziplinierung und Standardisierung huldigte, feiert VIVID ein Leben und eine Lebendigkeit der Vielfalt, die unfassbar ist. Der Kulturphilosoph Jacques Rancière hat in seinem Buch Aisthesis „ästhetische Regime der Kunst“ analysiert, indem er u.a. die „Berichte von Aufführungen des Théâtre des Funambules oder der Folies-Bergère“ entfaltet hat.[8] Was schrieben die „Denker() oder Kritiker(), deren Ruhm längst verblasst ist“?[9] Welche Wechselwirkungen entstehen zwischen Kunst und Gesellschaft? Rancière nennt seine „vierzehn Episoden“ „Mikrokosmen, in denen man sieht, wie sich die Logik dieses Regimes herausbildet, sich verändert, ganz neue Gebiete einschließt und sich dazu neue Schemata schmiedet“.[10] VIVID mit seiner Regisseurin und ihrem ganzen Team, das Berndt Schmidt nicht unwesentlich zusammengestellt hat, ist in einem hohen Maße eine Team- und Gemeinschaftsproduktion aus einem gesellschaftlichen Diskurs heraus.

Passion and Breath (© Brinkhoff-Moegenburg)
Am Genre Revue generierten die Geschlechterfragen spätestens seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eine permanente Faszination. Tiere werden gezähmt, dressiert und vorgeführt, um nicht zuletzt den Menschen auf der Bühne in Szene zu setzen, wie noch 2014 in der Grand Show The Wyld. Die Tierdressur, und sei sie noch so artgerecht, bestätigte und bestätigt immer den Menschen und „Herrchen“. Einerseits werden in der 20er Jahren die Attraktionen wie La Revue Nègre mit Josephine Baker durchaus als Berauschung an dem anderen Geschlecht bzw. Rasse versprochen, andererseits werden die Geschlechter wie in Kurt Tucholskys Skript Seifenblasen als Rollenmodelle unterlaufen. Der Widerhall dieses Regimes, um terminologisch an Rancière anzuknüpfen, generiert Figuren wie The Entertainer in weißen High Heels als androgynen Führer durch die Revuewelt. Was hat sich verändert seit Kurt Tucholsky den Damenimitator Paulus erfand, der eigentlich Barbara heißt und vor seinen/ihren Verehrerinnen fliehen muss?
Wir sehen auf der Bühne noch den letzten Tanzakt der Girls – dann geht der Vorhang herunter – Zwischentaktsmusik – kein Fräulein Nummer, sondern Ankündigung durch leuchtende Nummern an der Seite der Bühne – und man spürt, wie unter dem Programmgeraschel die Leute sich gegenseitig auf die Nummer aufmerksam machen, deretwegen sie hergekommen sind: Paulus, der Damenimitator Paulus.[11]
Barbara als Damenimitator Paulus führt auf mehrfache Weise vor, worauf es in der Revue ankommt: die Kategorie des Geschlechts wird ausgehebelt, weil sie als Verkleidung der Verkleidung vorgeführt wird. Zum Damenimitator wird Barbara nur, indem sie in den Kleidern ihres Bruders beim Revue-Direktor vorspricht. Als Mann, der Frauen spielt, wird Barbara nur noch umso begehrenswerter. Kurt Tucholskys kühne literarischen Abfassung eines Skripts für einen Film, das sich in seinen sprachlichen Operationen – „kein Fräulein Nummer“ statt Nummernfräulein – einer Verfilmung mehr entzieht, als sie einfordert, gibt einen Wink auf das Genre und seine Konstruktionen selbst. Das Geschlecht und die Geschlechtlichkeit als Zauber bzw. Illusion.
In der Herren-Abteilung aber sitzt ein ernster, junger Mann, der läßt sich gerade die Haare schneiden, er raucht und liest die Zeitung. Enttäuscht zieht der Gendarm wieder ab, und Barbara sendet ihm, was wir im Spiegel sehn, einen verschmitzten Blick nach. Es klappert die Schere des Friseurs, die Haare fliegen.[12]
Die Verwandlung von R’eye in eine Androidin durch Helm und Maschinenkörper mit weiblichen Brüsten als Anzug funktioniert in VIVID auf ähnliche Weise. Beiläufig wird im Programm von Berndt Schmidt auf die Mehrdeutigkeit von vivid als lebendig, hell, farbenprächtig, strahlend und als Logogryph für ID wie Identität hingewiesen. Welche Identität hat R'eye? Indem das Mädchen zum Roboter wird, werden ihre weiblichen Körpermerkmale auf dem Anzug grafisch nur umso stärker hervorgehoben. Die von Menschen verkörperten, tendenziell geschlechtslosen Androiden bedürfen umso stärkerer Geschlechtsmerkmale als Kostüme (Stefano Canulli). Die Maschine führt das Geschlecht auf, weil es wie ein Anzug am Körper anliegt. Natürlich geht es in den Bodysuites der Artist*innen in der Revue immer darum, einen Körper durch Überzeichnung herzustellen. Die 32 Androidinnen, die Androidonna (Glacéia Henderson) in High Heels und Latexsuite mit einem, sagen wir, verdrehten Heiligenschein auftreten lässt, um R’eye mit der „Binären Welt“ zu faszinieren, bilden die Girlreihe.

Die Storyline von VIVID ist besonders stark als Projektionsfläche ausgeprägt. Die Ängste werden mit den Danger Boys und Fallen Angels, deren High Heels an Hummerscheren erinnern, visualisiert. Auf subtile Weise entfaltet sich VIVID als eine Art hypermoderner Bildungsroman, in den die Leserzuschauer*innen eintauchen können. „R’eyes Reise“ lässt sich mit dem Programmtexten noch stärker als Bildungsreise des Publikums in einer unübersichtlichen Welt lesen. Durch die Reise als zauberhafte Revue wird im Idealfall ein Selbstfindungsprozess mit einer Legitimation der Individualität ausgelöst.
R’eyes Reise zu sich selbst führt sie zwangsläufig auch in die Tiefe ihrer Seele. Ein gefährlicher Ort, van dem man sich verletzen kann. Aber wir sind alle einzigartig und so steckt die Wahrheit über uns nur in uns. Das Spiel mit der Gefahr und Selbsterkenntnis übt großen Reiz auf R’eye aus.[13]
Die Grenzen des Lebens und der Geschlechter werden in VIVID zunehmend in eine Vielfalt aufgelöst. So wird in Passion & Breath „das Sonett 43 von William Shakespeare in arabischer Sprache, ein Ausdruck von Liebe und eine Darstellung dieser schönen Gesangssprache“, zitiert.[14] Das erschließt sich in der Show selbst gewiss nicht so leicht, wenn man das Programm im Heft nicht genau mitliest, wofür es eigentlich keine Zeit gibt. Doch die arabische Übersetzung des Sonetts von Dr. Badr Tawfeeq mit der arabisch anmutenden Musik von Dave Kochanski in der Choreografie von Leo Mujić verknüpft hier wiederum sehr unterschiedliche Bereiche von europäischer „Hochkultur“ und Bildung, arabischer Kunst und Popmusik. Das hat etwas mit Berlin zu tun, mit Erfahrung, Bildung und Wissen. Vom Berliner Ensemble winkt sozusagen Bob Wilson mit Shakespear's Sonnets (2009) herüber. Die perfekte Revue erweist sich als Collage und Transformation.
Gerade in seiner Rätselhaftigkeit und Poesie gehört diese Sequenz zu meinen Höhepunkten der Show. Dass es sich bei William Shakespears Sonetten wenigstens dem Genre nach um Liebesgedichte an einen Freund und Geliebten handelt, macht deren Transformation in eine Revuenummer besonders subtil. Einerseits erweist Passion and Breath Shakespeare wie der arabischen Sprache Respekt, andererseits fordert es von der arabischen Kultur Respekt für die Liebe unter Männern ein. Das ist in der Gegenwart mutig und beweist Haltung.
When most I wink, then do mine eyes best see,
For all the day they view things unrespected;
But when I sleep, in dreams they look on thee,
And darkly bright are bright in dark directed;
Then thou, whose shadow shadows doth make bright,
How would thy shadow's form form happy show
To the clear day with thy much clearer light,
When to unseeing eyes thy shade shines so?
How would, I say, mine eyes be blessed made
By looking on thee in the living day,
When in dead night thy fair imperfect shade
Through heavy sleep on sightless eyes doth stay?
All days are nights to see till I see thee,
And nights bright days when dreams do show thee me.[15]
Die Revue/Show lässt sich nicht nur bühnentechnisch als eine große Maschine, in der alles aufeinander abgestimmt ist, formulieren. Das Maschinelle der Revue wird final mit dem Double Wheel of Steel in Prismatic Release gefeiert und, weil im wahrsten Sinne des Wortes von Menschenkörpern super schnell in Rotation versetzt, als akrobatische Herausforderung an die Menschen vorgeführt. Im Kontext des Lebens in einer „Binären Welt“ wird Prismatic Release zum anderen Bild der lichtschnellen Datenströme aus 0 und 1, an die eröffnend mit Typography als Video durch die Videodesigner von MAXIN10SITY erinnert worden war. Die maschinellen Zahlenkolonnen aus 1 und 0, die die Wirklichkeit nicht nur der Grand Show längst mitbestimmen, werden in der hyperschnellen Akrobatik am Double Wheel of Steel vorgeführt. Dafür gab es in der Weltpremiere Standing Ovations.

Doch die eigentliche Pointe der Grand Show blitzte im ausgetüftelten Timing von VIVID für einen Moment in der Girlreihe auf. Nicht nur das Timing der einzelnen Nummern wie in Prismatic Release muss exakt stimmen, vielmehr muss der Rhythmus aus schnellen, hyperschnellen und ruhigen Sequenzen für das Publikum funktionieren. Die fast hypnotische Ebru Malerei verdankt sich der Schnelligkeit von Mehmet Yilmaz, um zugleich beruhigend zu wirken. Die Comedy Sequenzen mit Jimmy Slonina sind eher langsam, aber ohne Längen. Die Wechsel der Szenen sind immer wieder medial fließend, so dass die Collage der Themen und Elemente stimmig wird. In Stay, der Girlreihe der 32 Androidinnen nun, setzt das rhythmische Klatschen schnell ein, um in einen Jubel auszubrechen, als sich die verdrehten oder auch queeren Heiligenscheine, die „Kickline Hüte“ von Philip Tracey nacheinander für einen Moment in den Regenbogenfarben der LGBTI*-Community erleuchten. Es ist fast wie eine Befreiung der Girlreihe aus der Geschlechtsbestimmung.
Torsten Flüh
VIVID
Grand Show
Palast Berlin
Nächste Vorstellungen.
___________________________
[1] Siehe: Torsten Flüh: Die Bloggerin, das Model, der Weltstar und die Königin. Ein Bericht vom Roten Teppich zur Weltpremiere von The One im Friedrichstadt-Palast. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2016 21:23.
[2] Michael Skasa: Alles wackelt. Die Münchner Kammerspiele erforschen in zwei Aufführungen den Anfang und das Ende des Menschseins. In: DIE ZEIT Nr. 42/2018, 11. Oktober 2018.
[6] Stefan Schultz: Roboter als Altenpfleger – hier ist es bereits Realität. In Spiegel+ 14. Juni 2018.
[7] Siehe Programmheft VIVID. Berlin: Friedrichstadt-Palast, 2018.
[8] Jacques Rancière: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen Verlag, 2013, S. 15.
[11] Kurt Tucholsky: Seifenblasen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 2017, S. 35.
[13] Programmheft WIVID … [wie Anm. 7].
[15] Wenn ich im Schlaf die Augen schließe, dann bieten sie das Beste,
Den ganzen Tag über sehen sie Dinge unbeachtet;
Aber wenn ich schlafe, in Träumen schauen sie auf dich,
Und dunkel hell sind hell im Dunkeln gerichtet;
Dann du, dessen Schattenschatten hell werden,
Wie würde deines Schattens Form dich fröhlich zeigen?
Zu dem klaren Tag mit deinem viel klareren Licht,
Wenn zu blinzelnden Augen dein Schatten so scheint?
Wie würden, sagen wir, meine Augen gesegnet werden?
Indem ich dich am lebenden Tag anschaue,
Wenn in der toten Nacht dein unvollkommener Schatten ist
Durch schweren Schlaf auf blinden Augen liegen bleibt?
Alle Tage sind Nächte zu sehen, bis ich dich sehe,
Und Nächte helle Tage, wenn Träume dich mir zeigen.
(Übersetzung T.F.)

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