Die "Maßnahmen" im Schmalfilm gebannt - Egon Bahr eröffnet die Premiere des Schmalfilm-Opus' Bis an die Grenze in der Urania

Schmalfilm – 8mm – Berliner Mauer

 

Die „Maßnahmen“ im Schmalfilm gebannt

Egon Bahr eröffnet die Premiere des Schmalfilm-Opus’ Bis an die Grenze in der Urania

 

Egon Bahr (geb. 1922) ist einer der intimsten, lebenden Kenner und Akteure der Ereignisse um den 13. August 1961 in Berlin. Obwohl er nur 2 Jahre Bundesminister für besondere Angelegenheiten (1972-1974) und 2 Jahre Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1974-1976) war, gebührt ihm der Vergleich mit Henry Kissinger. Am Donnerstagabend eröffnete er den Premierenabend mit schonungslosen Formulierungen ebenso wie mit schlagfertigen Antworten.

Der Kieler Filmemacher Gerald Grote und sein Kameramann Claus Oppermann haben mit Bis an die Grenze nach 8mm Kieler Woche (2007) und Schnee von gestern (2008) ihr bereits drittes 8mm-Projekt realisiert. Sie haben damit ein neues Genre entwickelt: Schmalfilm als Schnittstelle von historischem Zeugnis, oral history des Mediums und Imaginarium des Wunsches, selbst Filme zu machen. Der Film wurde im Humboldt-Saal der Urania gefeiert.

Die Urania als Premierenkino war für den vom Tagesspiegel produzierten Film durchaus der richtige Veranstaltungsort. Seit 1888 widmet sich der Verein Urania Berlin e.V. zunächst in der Invaliden- später in der Taubenstraße und seit 1945 An der Urania 17/Kleiststraße 13-14 in Schöneberg der Vermittlung aktueller natur- und geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse an eine breite Öffentlichkeit. Pate standen für dieses Konzept, das heute u.a. beratend von der Akademie der Wissenschaften unterstützt wird, Alexander von Humboldts Kosmos-Vorlesungen (1827/28) in der Singakademie Unter-den-Linden.

Humboldts der Berliner Öffentlichkeit zugänglichen Kosmos-Vorlesungen können als Beginn der heute von der Langen Nacht der Wissenschaften, die nächste findet am 2. Juni 2012 statt, über die Urania bis zu den Mosse-Lectures reichenden modernen Öffentlichkeitsarbeit der Berliner Universitäten, Forschungszentren, Akademien und forschenden Großunternehmen wie Siemens gelten. - Die Medienwissenschaft, wie sie beispielsweise Gerald Grote und Claus Oppermann mit ihren Filmen betreiben, kommt im Programm der Urania indessen eher marginal vor.

Welche Bilder produziert der Schmalfilm? Was machen Amateurfilmer anders als professionelle Filmer? Was lässt den Amateurfilmer zur Kamera greifen? Wo sind die Übergänge zur Professionalisierung? Manch ein Amateurfilmer wurde zum professionellen Kameramann oder zur wichtigen Filmfrau. In den 70er Jahren entdeckten Filmemacher und Kamerafrauen wie Ulrike Ottinger oder Elfi Mikesch den Schmalfilm, um politisch unabhängige Filme zu machen.

Der Schmalfilmer ist auf andere Weise in sein Filmemachen verwickelt. Sein Filmemachen betrifft, beispielsweise schon weil er sich keine Schauspieler leisten kann, seine unmittelbare Lebenswelt, sein Privates. Richard Groschopp (1906-1996) zum Beispiel wurde 1932 Mitglied des Bundes der Filmamateure und drehte 1935 einen Film über seine Tochter Renate, Bommerli. Er verfasste neben seiner Arbeit als Konditor Artikel für die Zeitschrift Film für Alle und filmte erst mit einer 9,5mm-Ausrüstung, dann 16mm und ab 1936 auf 35mm beim Film Olympia von Leni Rieffenstahl sowie nach 1945 bei der Defa.

Im Schmalfilm hat die Familie ihren großen Auftritt. Später kommen Reisefilme, Sportfilme, Trickfilme, Naturfilme, Tierfilme usw. hinzu. Dabei machte der Schmalfilmer Filme für Alle - und seine Familie. Doch die private, nicht-kommerzielle Filmproduktion war immer auch teuer. Schnitt und Bearbeitung eines Films auf Zelluloid waren neben dem Beruf kostspielig und zweitaufwendig. Deshalb erhielt Christine Krüger, Amateurfilmerin seit 1959, bei der Premiere auch verständnisvolles Lachen, als sie im Film sagt:

… wir haben immer sehr schnell geschwenkt. Ich finde das eigentlich unmöglich heute. Aber dadurch sind alle drauf. …

Dem Schmalfilmer geht’s um Alles.

Einen kleinen, aber sehr intensiven Ausschnitt der Ereignisse um den 13. August 1961 erzählte Egon Bahr zu Beginn auf dem Podium. Er war Presse- und Informationssprecher von Willy Brandt im Schöneberger Rathaus und einer seiner engsten Mitarbeiter. Bahr analysierte die „Maßnahmen“, wie die offizielle Sprachregelung lautete, messerscharf und machte sie zum Leitfaden für sein politisches Leben und Handeln, das nicht zuletzt in der Vereinigung beider deutscher Staaten 1989 bzw. dem 2+4-Vertrag vom 12. September 1990, der am 15. März 1991 in Kraft trat, seine Erfüllung fand.

1961 war noch gar nicht an ein 2+4 zu denken. Es existierten und agierten die Vier-Mächte in Berlin. Die beiden deutschen Staaten waren „Objekte“ und Opfer. Dies zeigte sich für ein letztes Mal an den „Maßnahmen“ um den 13. August nach Egon Bahrs Verständnis. Denn Ost-Berlin handelte ohne Absprache mit den Westmächten. Doch die Alliierten Stadtkommandanten im Westen schritten gegen die Provokation nicht ein. Dadurch wurden die West-Berliner Politiker, allen voran Willy Brandt zum Handeln gezwungen. Er und die Deutschen waren fortan nicht mehr „nur“ Opfer.

Egon Bahr sparte nicht mit dem Zitat drastischer Ausdrücke, die Willy Brandt gebraucht haben soll, als er nach einer Unterredung mit dem Alliierten Kontrollrat im Berliner Kammergericht am Kleist-Park zurück ins Schöneberger Rathaus kam:

Diese Scheißer trauen sich nicht einmal, Jeeps auf die Straße zu schicken.

Die Ohnmacht gegenüber den „Maßnahmen“, die sozusagen als dreitägige Testphase vor dem Baubeginn der Mauer im Legen von Stacheldraht als Sperren bestanden, wurde von Egon Bahr deutlich illustriert.

Gregor Gysi, der 1961 als Dreizehnjähriger sich gerade in den Sommerferien außerhalb Berlins befand, konnte mit den brillanten Formulierungen und Schilderungen Egon Bahrs als politischen Akteur kaum mithalten. Was bei Egon Bahr politische Aktion war, musste bei Gregor Gysi in der Erzählung des Privaten stecken bleiben. Gysis Vater agierte in Ost-Berlin als Funktionär. Doch er selbst konnte sich nur an eine frühe Äußerung seiner Mutter erinnern, die aus Anlass eines Kongresses in West-Berlin gewesen war.

West-Berlin ist wirklich furchtbar. Überall stößt man an die Mauer.

Die eher beiläufige Formulierung der Mutter brachte möglicherweise den Blinden Fleck der Funktionäre in Ost-Berlin zur Sprache. Denn sie waren in Ost-Berlin (nicht) eingeschlossen. Gysi selbst als Politiker und Anwalt bezieht in eher allegorischen Erzählungen von kranken Menschen und Buddhisten Stellung, indem er die Mauer schon früh „inhuman“ fand. Das allerdings unterscheidet den Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Deutschen Bundestag, Gysi, dann doch von seiner Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch!

Das Private und das Gefühl der Ohnmacht spielen auch in den Schmalfilmen, die in Bis an die Grenze verschnitten wurden, eine entscheidende Rolle. Anders als der politische Akteur Egon Bahr geht ein Amateurfilmer seit 1949, Günter Scheler, am 13. August 1961 auf der Straße des 17. Juni zum Brandenburger Tor. Er geht im Gefühl der Ohnmacht dorthin. Wie es dazu kam, dass Scheler nicht nur mit seiner Kamera filmte, sondern offenbar auch ein Tonbandgerät mitnahm, wird im Film nicht näher erläutert. Die Weltpremiere eines Fundstückes.

Der Schmalfilm, 8mm, war Stummfilm. Schmalfilme wurden in der Regel erst im Nachhinein mit Musik und Kommentar vertont. Deshalb ist Schelers Film eine besondere Rarität. Scheler kommentiert auf der Tonspur nicht etwa die Bilder von den Menschen, die sich zielstrebig, aber ohne zu wissen, ob sie etwas ausrichten können, zum Brandenburger Tor bewegen. Er kommentiert und dokumentiert vielmehr sein Filmen und Sprechen. Und es verschlägt Scheler die Sprache. Man hört die Menschen rufen und pfeifen, was Scheler kommentiert, indem er sagt:

… Meine Stimme versagt. Ja, wie gesagt, ich stehe hier 200 Meter hier vom Brandenburger Tor entfernt. Dieses Symbol der Freiheit und zugleich der Teilung dieser Stadt… Für mich geht es darum ein Filmdokument zu schaffen… Wenn ich so stockend rede, so liegt es auch daran, dass ich hier nicht so schnell einen Gedanken fassen kann. Außerdem hören wir ein Pfeifkonzert…

Schelers „Filmdokument“ ist vor allem deshalb für die Frage nach dem Medium des Schmal- bzw. Amateurfilms erhellend, weil es ihm im Moment des Ereignisses nicht möglich ist zu sprechen. Während Kamera und Tonband laufen, versagt dem Amateur die Stimme, stockt die Rede und wird es ihm schwer „einen Gedanken (zu) fassen“. Mit anderen Worten: das Dokument gehorcht nicht dem Produzenten, sondern schafft sich aus sich selbst heraus, gerade weil der Amateur im Dokumentarischen des 8mm-Films verschlungen ist, wird es ihm möglich ein Dokument durch das Laufenlassen zu erzeugen.

Mehr als die retrospektiven Selbst-Kommentare der Amateurfilmer über ihre Erlebnisse und warum sie Amateurfilmer wurden, verrät Schelers Film durch seine Erzählung dessen, was sich nicht erzählen lässt, den Ursprung des Amateurfilms. Die Amateurfilmer des Mauerfilms halten die Kamera drauf, wenn die Menschen Taschentücher wedelnd diesseits und jenseits der Grenze stehen. Es sind erstaunlich viele Einzelszenen, die das Wedeln der Taschentücher zeigen. Vielleicht waren es so gar noch mehr Szenen in noch mehr Filmen. Vereinzelt sieht man eine Person von der anderen Seite der Grenze rufen, deren Ruf im 8mm-Film indessen stumm bleibt.

Der Amateurfilm, der sich selbst als Der private Blick auf die Berliner Mauer im Untertitel des Films von Oppermann und Grote formuliert, trifft allererst auf ein Moment der Sprachlosigkeit. Die Sprachlosigkeit über die „Maßnahmen“, die eben noch nicht Mauer heißen, artikuliert sich im Wedeln der Taschentücher, im kleinen Höckerchen, auf das man/frau sich stellt, um besser zu sehen und gesehen zu werden, und das dennoch nur zum Zeichen der Hilflosigkeit eines Gesehen-werden-wollens wird.

Der medial bedingten Sprachlosigkeit des 8mm-Films entspricht ein Wunsch, das Unsagbare zu zeigen, zu dokumentieren, obwohl genau dies fehlgehen muss. Dabei spielt möglicherweise das Übergehen des Schnitts im Amateurfilm eine wichtige Rolle. Erinnert man sich an Christine Krüger, die schnell schwenkte, um „alle drauf“ zu bekommen, so wurde durch den schnellen Schwenk gerade das fast unsichtbar, zumindest unscharf, was sie „drauf“ bekommen wollte.

Amateurfilme wurden und werden nur selten geschnitten. Ist der Schnitt für das Medium Film einerseits konstitutiv, so zeichnet sich die kurze 8mm-Filmspule von 15,2m bis höchstens 30m dadurch aus, dass sie selten vom Amateur geschnitten wurde. Für die Rollen des Projektors wurden die Filme eher ungeschnitten zusammengeklebt. Wird die Filmspule geschnitten und das Filmmaterial ausgewählt, bezeichnet dies bereits die Schnittstelle zum Profi. Je mehr geschnitten wird, desto professioneller wird der Amateur und sein Film, ließe sich formelhaft formulieren. Insofern führen die 8mm-Film-Projekte von Claus Oppermann und Gerald Grote zur Professionalisierung des Amateurmaterials.

Die Kürze der Filmspule erforderte andererseits immer wieder Unterbrechungen von dem, was gefilmt werden sollte. Ständig musste die Filmspule in Dunkelheit oder unter einem verdunkelnden Tuch gewechselt werden. Die zeitliche Kürze, die im analogen Belichten der Filmspule begründet war, unterbrach auch immer wieder längere Handlungen, die entweder gestoppt werden mussten oder von denen auf der Rolle immer etwas fehlen sollte.

Wurde der Film belichtet, ratterte der Automatismus so laut, dass eine gleichzeitige Tonaufnahme so gut wie ausgeschlossen wurde. Das Rattern beruhigte damit, dass es den Filmer von der Belichtung des Films überzeugte. Doch das reibungslose Rattern konnte, wenn der Filmer geheim bleiben wollte, ihn auch verraten. Insofern war das Drehen eines Films durch vielfache visuelle und akustische Hindernisse stark eingeschränkt. Und im Knattern eines Schmalfilm-Projektors kehrte meist im privaten Rahmen die tonlose Aufnahme wieder.

Grote und Oppermann haben für Bis an die Grenze Christopher Evans Ironside und Michael Stöckemann als professionelle Filmkomponisten gewinnen können. Denn ohne Ton kann man heute keinen Film mehr zeigen. Auch und gerade keinen Schmalfilm. Denn das Filmmaterial muss mit einem Sound und einer historischen Erzählung versehen werden, damit sich die Bilder entwickeln können. Zu Beginn wird die Dramatik der Bilder durch einen Minimalmusicsound, der an Phil Glass erinnert, erzeugt. Dazwischen Interviewausschnitte und historischer Sprecher-Text.

Beim Studio Stacheldraht kommt wieder O-Ton aus dem RIAS-Archiv zum Einsatz. Studio Stacheldraht nannte sich ein Radio-Programm, das mittels Lautsprecherwagen an den Grenzen, die Vopos „aufklären“ sollte. Dergleichen „Aufklärung“ fand wenig später von der anderen Seite der Mauer statt.

Zwar klingt der Titel von Sebastian Scholz’ Tagesspiegel-Artikel zum Film vom 9. August ein wenig pathetisch – Bewegtes Leben, bewegendes Leiden. Doch es kommt in der auf den Schmalfilm gemünzten Formulierung eben jene vieldeutige Verschränkung von Film als bewegtem Leben und Gefühl zur Sprache. Die heute meist über siebzigjährigen Berliner Schmalfilmer vom 13. August 1961 haben ebenso ein „bewegtes Leben“ von den ersten „Maßnahmen“ bis zum Fall der Mauer hinter sich.

In Bis an die Grenze kommen Ost-Berliner Schmalfilmer wie Peter Guba ebenso wie West-Berliner zu Wort. Peter Guba war bis Mai 1962 selbst Volkspolizist und verrichtete seinen Dienst zwischen Bernauer Straße und Brandenburger Tor. Dadurch standen ihm als Schmalfilmer indessen auch Perspektiven offen, die den West-Berlinern verschlossen bleiben mussten. So konnte der Schmalfilmer Guba in seiner scheinbar unverdächtigen Lust am Filmen beispielsweise auf das Brandenburger Tor und von oben filmen, wie die Autos bis zum 13. August meist unbehelligt zwischen den Sektoren hin- und herfahren konnten.

Heute herrscht Verkehrsberuhigung unter dem Brandenburger Tor. Auf der Bernauer Straße Ecke Ackerstraße wurde die zentrale Gedenkstätte Berliner Mauer heute eröffnet. Nichts wird, wie es einmal war im Schmalfilm.

 

Torsten Flüh      

 

Bis an die Grenze

Ein Film von Claus Oppermann und Gerald Grote

Der private Blick auf die Berliner Mauer

Inklusive Bonusfilm:

Transit nach Berlin

Privataufnahmen einer Autobahnfahrt.

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Categories: Film

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