Literaturen – Homosexualitäten – Biographien
Homosexualitäten schreiben
Vom Festival Empfindlichkeiten: Homosexualitäten und Literatur sowie dem Werk von Friedrich Kröhnke im Literarischen Colloquium Berlin
In seiner Eröffnungsrede zum Festival Empfindlichkeiten: Homosexualitäten und Literatur erinnerte Thorsten Dönges daran, dass es zu den Zeiten, als Heinrich von Kleist seine Dramen, Erzählungen und nicht zuletzt als Redakteur und Autor seine Berliner Abendblätter schrieb und publizierte, es den Begriff Homosexualität noch nicht gegeben habe. Das Wissen von der Homosexualität und dessen Ausdifferenzierung findet erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der vor allem juristisch geprägten Literatur von Karl Heinrich Ulrichs statt.[1] Bei Hubert Fichte liegt die Frage der Homosexualität im unvollendeten Romanzyklus Die Geschichte der Empfindlichkeiten gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder anders.
Hubert Fichte war einer der ersten Gäste des von Walter Höllerer 1963 in der Villa Am Sandwerder 5 gegründeten Literarischen Colloquium Berlin. Er kam zum Schreiben und zum Reden über Literatur an den Wannsee. Die Schriftsteller der Gruppe 47 fanden sich dank Höllerer hier ein. Nun widmete ihm das LCB das Festival und eine Ausstellung mit Fotografien seiner Lebensgefährtin Leonore Mau, die noch bis 30. September zu sehen ist. 1963 hatte Hubert Fichte gerade Aufbruch nach Turku bei Hoffmann & Campe in Hamburg veröffentlicht. Das war vor Die Palette von 1968, mit der die längst versunkene halbseidene und schwule Szene am Hamburger Gänsemarkt Literatur wurde. 1968 oder eben kurz ՚68!
Die Geschichte der Empfindlichkeiten, die in gewisser Weise auch an Marcel Prousts À la recherche du temps perdu anknüpft, entfaltet zwischen 1987 mit Hotel Garni und Hamburger Hauptbahnhof=Register, 1994, ein Spektrum literarischen Schreibens nicht nur von der Homosexualität. Kathrin Röggla sprach in ihrer Festivalrede Fichte zu Fuß auf ebenso inspirierte wie anregende Weise von den verschiedenen Fichtes, die in den Erzählungen, Forschungen und Leseerlebnissen heute unterwegs sind. Hubert Fichte verstarb 1986 im Hamburger Hafenkrankenhaus, das seit seiner Gründung auf Epidemiologie, tropische Infektions- und Geschlechtskrankheiten spezialisiert war. Es war die Zeit, als sich AIDS auch in Deutschland epidemieartig ausbreitete. Für Hubert Fichte gab es AIDS nicht, der Spiegel schrieb von einer „Tumoroperation“.[2] Die Scham war groß, der Nachruf ein wenig heruntergelästert gegen den belesenen, schreibenden Flaneur vom Hamburger Hauptbahnhof.
Das Verhältnis von Homosexualität und Literatur war in Hamburg vielleicht immer ein wenig anders. Immer ein wenig verdreht. Erst die Literatur und dann die Homosexualität. Immer ein wenig Understatement mit Hardcore Parties in der Villa des Kaufmanns Wilhelm Amsinck im Hamburger Amsinckpark, Dachgeschoss. Also so in etwa: Hauptbahnhof, demgegenüber Hamburger Schauspielhaus mit einem herumgeisternden Hans Henny Jahnn, „Fritze“ Raddatz immer im Porsche cuisend und dann einzelne Villen an der Elbchaussee. Immer wieder auch Fehlspekulationen. Ein plötzliches Ende. Fritz ist ja alt geworden und hat sie alle überlebt, um sie autobiographisch ran- oder wegzuschreiben. Hubert Fichte wie Hans Eppendorfer mittendrin und im Schweinekeller des Tom’s. So in etwa.
In Hamburg gab’s Diskurs zum Sex. Gesprächsmontag. War öfters gut besucht wegen des Sprechens und der anschließenden Praxis. Ins Eichholz, das Hafentor an den Landungsbrücken heißt, wehte noch bis Mitte der 90er eine Brise von 68 und Diskurs in den Laden mit Keller, den weißen Kerzen und den Gitterstäben. Fichte kommt heute von weiter her, um näher dran zu sein. Oder wie es Kathrin Röggla formuliert:
Ich weiß nicht, wie Fichte einem heute unterkommen könnte, wie er noch daherkommen könnte, in jedem Fall zu Fuß, so viel ist sicher, „der wichtigste Körperteil im Leben eines bisexuellen Ethnologen und Schriftsteller bei der Erforschung einer bikontinentalen Kultur sind die Füße“. An die Füße habe ich mich nur ein wenig gehalten, schon lange nicht mehr gehalten, die Füße, sagte ich mir, sind sowas von 70er, allenfalls 90er – in den 10er Jahren des 21. Jahrhunderts gibt es keine Füße mehr oder nur noch wenige Füße, manchmal notwendig, aber in einer Stadt wie Saõ Paolo etwas Absurdes geworden, auch in Rio gibt es keine Füße mehr und in Belém, na, vielleicht in Belém noch, aber was weiß ich von Belém, im Grunde nur das, was ich bei Fichte gelesen habe.[3]
Das Empfindlichkeiten-Festival war an drei Tagen Mitte Juli wichtig, um ins Gespräch zu kommen. Das Publikum und die Beteiligten waren generationen- und geschlechterübergreifend gemischt. Dram-Queen Oszillaʀ tritt in einem Outfit aus Textseiten auf und verdreht die Augen. Schreiben und Penetration liegen beieinander. Oszillaʀ fällt das Sprechen über Literatur und Homosexualitäten nicht ganz leicht. Dieses Problem hat nicht zuletzt und bereits Hubert Fichte Anfang der 80er Jahre formuliert.
Gibt es so etwas wie einen Stil der Homosexuellen, gibt es homosexuelle Romanciers im Gegensatz zu Schriftstellern mit homosexuellen Neigungen? Henry James veräppelt Mrs. Penniman, die Wörter kursiv setzt. Henry James setzt kursiv, in Anführungsstriche, in Klammern. Schwule Sprache ist uneigentlich, ist indirekte Sprache. Nirgends so viele Anführungsstriche wie auf dem Plakat zum Faschingsfest in der Stricherbar. Aber sind Sousentendus, Verfremdungen, Übertreibungen, Ironie, Travestie bei Henry James häufiger als bei Guy de Maupassant oder bei Norman Mailer – die Wahl der Beispiele drückt kein Qualitätsurteil aus –, es ist nur so schwer, erklärt heterosexuelle Schriftsteller zu finden. Von homosexuellen Autoren, von homosexueller Literatur sprechen, setzt voraus, daß es heterosexuellen literarischen Stil gibt, heterosexuelle Kriteria. Und: Kann es die Aufgabe der Literaturkritik sein, biologistische Kriterien zu kanonisieren, die von den Biologen jede Saison ausgewechselt werden?[4]
Die postume Veröffentlichung der Geschichte der Empfindlichkeit mit ihren literarischen Wucherungen und Verästelungen in geradezu proustischer Weise hat viel mit dem Schreiben selbst und seinen Formaten zu tun. Bei Hubert Fichte gibt es immer Übergänge, Passagen. Kritik der Literaturkritik und Kritik der Kanonisierung von Literatur. Was ist Literatur? Und was nicht? Sollte nicht besser im Plural von Literatur gesprochen? Fichte schrieb gegen die Gruppe 47 als „literarische Objektivierungsveranstaltung“ und gegen den Kanon wie die Kanonisierung von Literatur. Doch sein Empfindlichkeiten-Projekt wurde postum noch als Homosexualität und Literatur herausgegeben. In der wiederum erst 2006 veröffentlichten Ausgabe von Die zweite Schuld wird das LCB als Gesprächsraum selbst zum Literaturstoff. Kathrin Röggla formuliert das auf folgende Weise:
Eine Rede über Fichte hier im Literarischen Colloquium kann … nur radikal subjektiv, naja, nicht radikal, aber subjektiv sein, schließlich ist hier einer seiner Orte, seiner Schauplätze, zumindest der des Showdowns einer einstigen literarischen Objektivierungsveranstaltung, der Gruppe 47 – der Überprüfung auf den Kanonisierungsgehalt der Texte. Es sind jugendherbergsartige Szenen, die man in der „zweiten Schuld“ nachlesen kann.[5]
Das Reisen wird nach Röggla zum „Material“. Das Reisen eröffnet immer neue Gesprächsräume und Erzählungen. Reisen, wie es Hubert Fichte praktiziert hat, findet als Lektüre und Übertragung statt. Es gibt immer Echoräume, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders groß und nachhaltig sind. In den 90er Jahren werden die Echoräume schwieriger. Störsignale tauchen auf. Doch das sind dann auch nicht mehr Hubert Fichtes Reisen. Röggla spricht von einer „Erstwahrnehmung“ bei Fichte und zitiert dafür aus Explosion, die ebenfalls postum, nachträglich veröffentlicht wurde. Ein seltsames Werk. War eine „Erstwahrnehmung“ vor 1986 möglich? Und wie verhält es sich mit der „Erstwahrnehmung“ bei Marcel Proust als konzeptionellem Anknüpfungspunkt? Vielleicht war es so, dass Hubert Fichte mit der Figur Jäcki die „Erstwahrnehmung“ jenseits der Erzählungen, die er alle schon gehört hatte, zu schreiben suchte. Der Vielleser Fichte suchte das Wissen literarisch zu umgehen und sieht als Jäcki die erotischen Versprechen der Copacabana.
Ein Schleier aus Gischt.
Zehn Meter hoch.
Schien es Jäcki. Die Sonne stieß hindurch.
Die Wolkenkratzer wackelten.
Die Autos hüpften.
Die Welle sank in sich zusammen.
Die nächste spritzte zwischen den Hochhäusern hoch.
Das war Copacabana – eine verstopfte Hauptverkehrsader,
voller Auspuffgase, nach der heiligen Jungfrau hieß,
nackte nasse Afrikaner, nackte glitzernde Indianer, nackte
überperlte Portugiesen.[6]
Woher kommt Jäckis Faszination für den „Schleier aus Gischt“? Folgt man der Erzählung, dann ist sie stark gebrochen zwischen einer Verkehrswelle und der Gischt, die sogleich übergeht in die Wahrnehmung von nackten Körpern. Noch heute wirkt der Mythos der Copacabana nach. Doch heute erinnert, wie im Juli 2014 besprochen, nicht zuletzt Bernardo Kucinskis Roman K an die brutale Militärdiktatur in Brasilien zwischen 1964 und 1985, die Hubert Fichte auf die eine oder andere Art irgendwie mitbekommen haben muss. Und im Sportteil der ZEIT schreibt Thomas Fischermann mit „Bucht der Träume“ gerade nicht vom „Schleier aus Gischt“, sondern von einer „Schmutzige(n) Idylle: Fischerboote in Guanabara, wo die Segler bald um Medaillen kämpfen“.[7] War Fichte jemals eins oder schrieb er sich gezielt in eine Vielzahl von Huberts und Fichtes und Jäckis? Röggla sagte, dass er mit der Geschichte der Empfindlichkeit „sozusagen zu einem Vielfüßler (mutierte)“.
Marokko gehörte für Hubert Fichte und Leornore Mau auch zu den faszinierenden Reisezielen. Doch es ist im sagenhaften Marokko nicht allein wegen islamistischer Terroranschläge schwieriger geworden. Dafür liest Abdellah Taïa seinen Text The 99 Names of Allah. In der autobiographischen Erzählung geht es um den Tod des Vaters, die Homosexualität, einen Literaturprofessor aus der Schweiz, einen älteren marokkanischen Kellner und wie die 99 Namen Allahs zum Leben und denken des Ich-Erzählers gehören. 2013 ist im Passagen Verlag der von Abdellah Taïa herausgegebene Band Briefe an einen jungen Marokkaner erschienen. In seiner Einleitung schreibt er schon 2009:
In Marokko gibt es eine Gefahr. Das islamistische Gedankengut breitet sich aus. Hat leider schon gewonnen. Die Machthaber lassen es zu. Wie lange noch?
In Marokko gibt es Handlungsbedarf: die Forderungen der Zivilgesellschaft, diese mutig für eine Veränderung der Gesetze und den der persönlichen Freiheiten einsetzt, müssen politisch durchgesetzt und mitgetragen werden.[8]
Mit seinem Buchtitel knüpft Abdellah Taïa an eine lange literarische Tradition der Briefe an. Briefe funktionieren anders als Romane, obschon sie romanhaft und erzählerisch gestaltet sein können. So erzählt Taïa zunächst von einem verlorenen, geradezu sagenhaften Brief, den der Vater einer Kommilitonin von einem marokkanischen Intellektuellen und Reformer erhalten hat. In der französischen Literatur gehören die Lettres Persanes (1721) von Montesquieu zur Aufklärungsliteratur schlechthin. Abdellah Taïa bezieht sich nach Margret Millischer allerdings auch auf Rilkes Briefe an einen jungen Dichter zwischen 1903 und 1908. Es sind schließlich Briefe gegen die Angst:
Ein Brief, um zu existieren. Um die anderen existieren zu lassen. Ein Brief, um zu versuchen, keine Angst zu haben. Sich nicht mehr zu unterwerfen. Paternalismus und Machismus zu brechen. Zu sprechen und zu handeln. Sich nicht zu verschleiern. Sich nicht mehr, wie so viele in Marokko, damit zu begnügen, den weltfremden Intellektuellen zu geben. (S. 15)
Der Tod des Vaters, wie er von Abdellah Taïa mit seinem Text zur Eröffnung des Festivals explizit im Feld von Literatur, Homosexualität, Koran und den 99 Namen Allahs erzählt wird, spielt bereits für Der Chaouche in Briefe an einen jungen Marokkaner eine entscheidende Rolle. Der Tod des Vaters wird als eine durchaus ambivalente Geschichte eines Verlusts erzählt. Denn der „Chaouche“ als Bürodiener, Faktotum, Hausmeister hat im marokkanischen Französisch eine ebenso ordnende wie subalterne Funktion.[9] Die Vaterfigur wird bei Abdellah Taïa eine zutiefst ambivalente, die durch das Schreiben des Briefes an seinen Cousin Adnan erinnert und wiederbelebt werden soll, so wie er ihn durchs Sprechen wiederbeleben wollte.
Ich sprach leise, damit meine Mutter und meine Schwestern, die in den anderen Zimmern weinten, nicht meine Zeremonie stören kamen, mein Wunder, das soeben im Gange war. Ich redete und redete eine Ewigkeit lang.
Ich redete. Ich sprach. Ich betete. Ich liebte. Ich gab. Ich las aus dem Koran. Aus den Hadithen und Gedichten. Ich erfand die Spiritualität neu. Ich erinnerte mich an die Dschinnen, die Heiligen, alle, alle rief ich sie an. Ich war ihm Arzt. Krankenpfleger. Liebhaber. Sohn. Kleinkind. Baby.
Ich rief zu Gott. Ich streckte die Hand aus. Lange Zeit.
Nichts… Nichts erschien… Wir wurden im Stich gelassen, mein Vater und ich. […] Der Chaouche von Hay Salam, unserem angestammten Wohnviertel, ist tot. Mohammed Taïa. Sechsundsechzig Jahre. Nur sechsundsechzig Jahre? (S. 184)
Homosexualität wird im Brief an Adnan nicht thematisiert. 2006 hatte Abdellah Taïa im marokkanisch-französischen Journal TelQuel sein Coming-Out als erster marokkanischer Schriftsteller und wurde dafür schwer angegriffen. Mit dem Titel TelQuel – „wie es ist“ – knüpft das Nachrichtenmagazin seit 2002 nicht zuletzt an die gleichnamige französische Literaturzeitschrift der 60er und 70er Jahre in Paris an. 2013 gab Taïa sein Debut als Regisseur und Drehbuchautor des Films L‘armée du salut als Adaption seines gleichnamigen Romans von 2006. Der Film ist in Deutschland offenbar nicht gelaufen, obwohl er auf den Filmfestivals von Angers, Tanger, Venedig und Toronto gelaufen ist und ausgezeichnet wurde. Das autobiographische Schreiben und Erzählen wird von Taïa als Gesellschaftskritik und Interpretation des Koran eingesetzt. Es trägt damit nicht nur zu einer Geschichte der Homosexualitäten bei, vielmehr noch wird es zu einer Koran-Lektüre, die im fundamentalistischen Islamismus gelöscht werden soll.
In Briefe an einen jungen Marokkaner schreibt Rachid Benzine an Fatima-Ezzahra unter dem Titel Den Koran heute lesen, indem er sich pointiert gegen den Fundamentalismus ausspricht. Rachid Benzine ist Schriftsteller und Professor für Wirtschaft und Politikwissenschaft am Institut Protestant de Théologie de Paris und befasst sich mit der Hermeneutik des Koran. 2004 veröffentlichte er Les Nouveaux Penseurs de l’Islam. Mit seinem Ansatz des Lesens in einer Pluralität wendet er sich gegen den Anspruch der Fundamentalisten einer „buchstabengetreuen Auslegung“. Als Autoren, an die er anknüpft, nennt er in einem Interview mit Dominique Mataillet Paul Ricoeur, Michel Foucault und Jacques Derrida.[10] Benzine liest den Koran sozusagen dekonstruktivistisch und multiple.
Ich weiß sehr wohl, dass manche Gruppen von Muslimen die Sprache des Koran als „göttliche Sprache“ im wahrsten Sinne des Wortes ansehen, ihn, ausgehend von den arabischen Buchstaben mystisch untersuchen und damit eine geradezu esoterische Arbeit leisten. […] Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Bedeutungen des Korandiskurses unerschöpflich sind und dass uns die Sprache des Korans zum Studium, zur Arbeit mit dem Text aufruft.[11]
Die Überschneidung der Diskurse von Homosexualität und Koran wird an den Briefen von Taïa und Benzine deutlich. Die 99 Namen Allahs werden ebenso post-kolonial wie post-fundamental formuliert. Und doch spielen bei Taïa Tradition und Familie eine wichtige Rolle. Den Koran als einen Text in seiner, als Literatur in ihrer Unerschöpflichkeit zu lesen, verknüpft einen dekonstruktiven Ansatz mit einer befreienden Praxis des Lesens.
Lässt man sich auf diese spannende Aufgabe (des Textstudiums, T.F.) ein, dann wird man zuerst feststellen, dass der Koran einen bestimmten Typus von Diskurs darstellt, dass er einer bestimmten Form von Literatur angehört. Generell hat man es mit rhythmischer Prosa zu tun, die der dichterischen Sprache nahesteht, weshalb der Koran mehr andeutet als er tatsächlich aussagt. Er vereint mehrere literarische Gattungen in sich: Er ist ein apokalyptischer, narrativer, juristischer, ethischer, spiritueller, poetischer Text… (S. 83)
In der Ausstellung Empfindlichkeiten werden Fotos von Leonore Mau mit Textausschnitten von Hubert Fichte konstelliert. Darunter das berühmte Maskenfoto von 1979: Hubert Fichte mit Dan-Maske. Hubert Fichte blickt durch das rechte Auge der Maske mit dem linken. Der Ethnologe blickt mit einem Auge, dem linken, durch. Und doch ist es nicht nur ein Bild vom Ethnologen. Vielmehr lässt sich das Foto auch als Identitätskonstruktion durch Masken lesen. Maske und Gesicht, das bekanntlich gelesen wird, überschneiden einander. Halb Maske, halb Gesicht und das Auge, das durch die Maske hindurchschaut. Was sieht das eine Auge, was das andere nicht sieht? Was verraten Gesicht und Maske vom Ich? Leonore Mau, die in diesem Jahr 100 Jahre geworden wäre und mit 97 2013 verstarb, lässt es in ihren Fotografien nicht an Inszenierung fehlen. Literatur und Fotografien korrespondieren. Leonore Mau in einer Spiegeleinstellung verdreifacht mit Zigarette. Dazu ein Textausschnitt.
Der Stoff ist mein Kiff.
Schnee.
Sind die Wörter nicht schon so kernig, dufte, glatt, bewegen sich wie der Primus Ballerinus aus der Staatsoper unter dem Kronleuchter beim Empfang im Rathaus: Ganz natürlich im historischen Rahmen stilisiert – oder wie der nackte Fischgrätmantelmann im wackelnden Licht von Jäckis Eppendorfer-Krankenhauslampen; Jürgens Wörter über sein Leben. […]
… Vorgänge und Wörter.
Schlechten Stoff.
Siebzig Romane.
Einen Roman über die Palette in Katalogform:
Was essen die Gammler?
Was haben die Gammler für Krankheiten?
Was ziehen die Gammler an?
Welche Empfindungen haben die Gammler?
Einen Roman nur aus Empfindungen.
Einen Roman nur aus Erzählungen der Gammler über Gammler.[12]
Es geht um Homosexualitäten. Und wie es der Zufall und nichts als der Zufall will, spricht Kathrin Röggla eine Woche später in tödlich schöner Sommerabendatmosphäre auf der Terrasse des LCB hoch über dem Wannsee mit Friedrich Kröhnke über Das Werk. Sein Werk mit Campari-Sonnenuntergang und feinem Riesling. Kathrin Röggla liest Hubert Fichte und Friedrich Kröhnke, der gerade erst einmal seinen Sechzigsten gefeiert hat. Nein, nicht seinen sechzigsten Roman, vielmehr den Geburtstag. Begonnen wird mit der Atterseekrankheit. Dem umfangreichsten Roman des Autors. Und Röggla und Kröhnke kommen ins Gespräch und werden sich fast einig, dass Die Atterseekrankheit eine Hypochondrie ist. Dies nicht zuletzt, weil sie die Krankheit der Literatur von sich selbst ist. Phobien sind auch literarische Krankheiten. Aber für die Hypochondrie muss man sich schon was einfallen lassen.
Mein Zwilling, hieß es, hat ebenfalls Herzerweiterung oder Herzverkleinerung, aber später kam man davon ab. Mein Zwilling hat nie die Tetanie gehabt. Auch hat er ja nur zeitweise an den Romanen mitgeschrieben, die von den Weltreisen des Dachses handelten und die meine Mutter von uns in die Schreibmaschine diktiert bekam. Mein Zwilling hatte ja auch nicht die Sobota-Nase.
Ein Herzkranker, der auch die Tetanie hat, kann sein Schlafzimmer nicht mit dem der beiden Brüder teilen, und so bekam ich mit etwa zehn Jahren das Mädchenzimmer, das nach der Abschaffung des Kindermädchens weiterhin so genannt wurde.
Über meinem Kopfende hing ein Kreuz, vor dem ich bei meinem heimlichen Abendgebet kniete. Auf einem Nachttisch zu meiner Rechten stand ein Röhrchen mit harmlosen Calciumtabletten – die roten Perlen mußte ich nie nehmen, zumal meine Tetanie bald in Vergessenheit geriet -, stand der Lippenstift, saß der Dachs.[13]
Die Atterseekrankheit ist nicht nur wegen der „Herzerweiterung oder Herzverkleinerung“ und der „Tetanie“ eine literarische, vielmehr noch in ihrer Vieldeutigkeit. Sie kann ebenso eine Schwäche für die Mutter und ihren Schriftstellerinnen-Beruf wie ihren Tablettenkonsum sein. Die „Atterseekrankheit“ funktioniert im literarischen Modus der Übertragung und der Imitation. Insofern als der Roman in seiner Autobiographik immer auch das Ich erzählt und ironisch unterläuft, weil der Schreibende sehr wohl um die kommunikative Funktion der „Röhrchen“ weiß, nimmt die „Atterseekrankheit“ unter anderem in der etymologischen Bedeutungsvariante als Schwäche gar eine Wendung zu jungen, vierzehnjährigen Knaben.
Ich erzähle von mir. Ich tu so, als erzähle ich dir. Ich erzähle auch von dir, bis zuletzt nicht genug, ich weiß. Man könnte es für eine Gespreiztheit halten, damit da nicht einfach – als wäre es einfach! – einer sein Leben erzählt. Es verhält sich damit aber anders. Du wirst ja nicht nur angeredet. Ich will ja was von dir. Es wäre so gut, wenn du Ja sagtest. Bis aus dem Erzählen, der zweiten Person Singular Erzählen der bescheidene Appell wird, auf den ich hinauswill, bekommst du – und alles leitet zu diesem Punkt hin – hundert Geschichten berichtet, die du fast alle kennst. (S. 53)
Wer ist das Du? Auf die fragende Formulierung „Nicht daß ich wüßte, was Lieben ist, und ob das, was man so nennt, so geht“ antwortet das Ich mit dem Erzählen. An wen wendet sich das Erzählen, wenn nicht an den Leser oder die Leserin. Neben der Schwäche für die Knaben gibt es in der Atterseekrankheit die Liebe zu zwei Frauen. Von der Schwäche für die Knaben oder Männer erzählt es sich möglicher Weise leichter bei den Frauen, denen Geheimnisse gelüftet werden können, auf die Männer abwehrend reagieren. Kathrin Röggla jedenfalls hatte in der Sommernacht am Wannsee einen Sinn für die Vertracktheit des Liebens und Erzählens wie für die dafür zu suchenden Sprachen.
Torsten Flüh
Leonore Mau - Hubert Fichte:
Empfindlichkeiten
nach den Abendveranstaltungen oder nach Vereinbarung
Literarisches Colloquium Berlin
Am Sandwerder 5
14109 Berlin
Abdellah Taïa (Hg.)
Briefe an einen jungen Marokkaner
Passagen Forum 2013
208 Seiten
Preis 25,90 EUR
__________________________
[3] Kathrin Röggla: Fichte zu Fuß. Fichte 2016. Berlin 2016. (Manuskript der Rede) S. 1.
[4] Hubert Fichte: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Homosexualität und Literatur I (1982). Herausgegeben von Torsten Teichert. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1987 S. 457.
[5] Kathrin Röggla: Fichte … [wie Anm. 3] S. 5.
[7] Thomas Fischermann: Bucht der Träume. In: Die Zeit (Print), 21. Juli 2016, S. 18.
[8] Abdellah Taïa (Hg.): Briefe an einen jungen Marokkaner. Wien: Passagen Verlag, 2013, S. 15.
[9] Ebenda S. 203.
[11] Abdellah Taïa (Hg.): Briefe … [wie Anm. 8] S. 79.
[12] Zitiert nach Ausstellung.
[13] Friedrich Kröhnke: Die Atterseekrankheit. Zürich: Ammann Verlag, 1999, S. 29.
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