Botschaften aus der Zukunft - Yoko Tawada erhält den Preis der Japan Foundation und ihr Science-Fiction-Roman Kentoshi erscheint als Sendbo-o-te

Katastrophe – Roman – Zukunft 

 

Botschaften aus der Zukunft 

Yoko Tawada erhält den Preis der Japan Foundation und ihr Science-Fiction-Roman Kentōshi erscheint als Sendbo-o-te 

 

Am 18. Dezember lud der Botschafter von Japan, seine Exzellenz Takeshi Yagi, zur Feier der Verleihung des prestigeträchtigen Preises der Japan Foundation 2018 an Yoko Tawada in seine Residenz ein. Der Preis wird seit 1973 alljährlich an 3 Personen oder Organisationen verliehen, die den kulturellen Austausch Japans mit anderen Ländern oder gar der Welt befördert haben und fördern. Für wen könnte dies aktuell besser zutreffen als für die in Berlin lebende Schriftstellerin Yoko Tawada. Kürzlich erhielt ihre amerikanische Übersetzerin Margaret Mitsutani für The Emissary (Kentōshi) den National Book Award der Vereinigten Staaten. Zu Beginn des Jahres hatte sie die Carl-Zuckmeyer-Medaille „für Verdienste um die deutsche Sprache und um das künstlerische Wort“ erhalten.

 

Ebenso wie die mehrdeutige Schreibweise Sendbo-o-te an Boten und Botschaften wie Boote erinnert, lassen sich im Japanischen die Schrift-Zeichen lesen, aber nicht hören in Kentōshi. In der deutschen Übersetzung wird dieser Unterschied noch vom Übersetzer angeschrieben, während er im amerikanischen emissary untergeht. Die unterschiedlichen Schreibweisen generieren Sprachspiele und Witz. Wie könnte es mit Kentōshi anders sein, als dass der über hundertjährige Urgroßvater Yoshiro gleich zu Beginn des Romans ein „deutsches Brot nach Shikoku-Art, mit seiner Farbe wie angebrannte Dunkelheit, dem Gewicht von Granit und mit seiner knarrend festen Kruste“ auspackt?[1] Ein „deutsches Brot“, wie es in der japanischen Sprache und Kultur wahrgenommen wird, generiert in der Übersetzung von Peter Pörtner weitere Drehungen des Sinns.

 

Peter Pörtner hat den Roman Sendbo-o-te aus dem Japanischen und seinem Schriftsystem mit Gespür für die Zeichenkombinationen ins Deutsche übersetzt. Yoshiro betreut seinen Urenkel Mumey, der gerade seine Milchzähne verliert. Yoshiro hat mit Mumey Großes vor. In der Zeit nach einer Katastrophe hat sich alles verkehrt. Was genau passiert ist, erfährt man nicht. Doch der 2014 in Japanisch erschienene Roman gibt einen Wink auf die Dreifachkatastrophe von Fukushima 2011. Das Seebeben, der Tsunami und die Nuklearkatastrophe erschütterten Japan schwer. Das Trauma einer Natur- wie Öko-Katastrophe, das sich fast gar nicht erzählen lässt. Sendbo-o-te entfaltet sich im Kontext der großen Katastrophen- und Science-Fiction-Romane der Weltliteratur von Aldous Huxley, Georg Orwell oder – warum nicht? – Charles Fourier, den Roland Barthes bekanntlich zu den „Formulierer(n)“ zählte.[2]  

 

Die Schreibweisen eines Botschafters sind andere als die der Schriftstellerin Yoko Tawada. Doch der Botschafter Takeshi Yagi, der in München studiert hat, ließ in seinem Grußwort auf Deutsch außerordentlich redegewandt seine Freude an der Literatur der Preisträgerin erkennen. Er versprach sogar die Buchliteratur und -verlage mit seiner Frau durch den Kauf der Bücher von Yoko Tawada zu unterstützen, was Erheiterung und Beifall bei den Gästen auslöste. Er betonte besonders, dass Yoko Tawada über 1.000 Veranstaltungen, Lesungen, Vorträge, Vorlesungen und Workshops bestritten habe. Die stellvertretende Generalsekretärin der Japan Foundation und des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin, Tokiko Kiyota, berichtete in ihrer Laudatio auf die Preisträgerin in ebenfalls geistreich-witziger Weise von der literarischen Karriere in Deutschland und Japan bzw. in Deutsch und Japanisch.

 

 

Yoko Tawada hat in beiden Sprachen und Kulturen wie Ländern die wichtigsten Literaturpreise verliehen bekommen, weil sie die beiden Grammatiken beider Sprachen für einander kreativ einsetzt. Sie lässt Sprachgrenzen für die Literatur produktiv und durchlässig werden. Mit den Worten der Japan Foundation: 

Als zweisprachige Schriftstellerin dieses Kalibers ist sie eine einzigartige Persönlichkeit, die in der modernen japanischen Literaturgeschichte noch nie zuvor gesehen wurde. Ihre Kreationen haben die internationale Kommunikation über Grenzen und Sprachen hinweg belebt. Tawada hat einen neuen Grenzbereich der Literatur geschaffen und dabei geholfen, die japanische Literatur weiter zu befreien von den Sprachbarrieren, die es einschränken…[3]

 

Der kreative Einsatz der Grammatiken entfacht wie in Sendbo-o-te ein Feuerwerk an Sinnüberschneidungen. Aus der Katastrophe, die im Roman wiederholt als eine sprachlich-lexikalische Einschränkung thematisiert wird – Wörter werden vergessen oder ersetzt –, entspringt ein Nachdenken über Sprachen. Zugleich verändern die Wörter, die gebraucht werden, das Leben des über hundertjährigen Yoshiro. Das wird von Yoko Tawada unterhaltsam und witzig an Yoshiros Gebrauch von Handtüchern erzählt. 

Yoshiro legt das Tuch über die Stange draußen und befestigt es mit einer Wäscheklammer. Irgendwann haben sie aufgehört, große westliche Handtücher zu benutzen und nur noch kleine, tenugui genannte Tücher zu gebrauchen. Wenn man die großen Handtücher wäscht, dauert es wirklich lange, bis sie trocken sind. Und man hat nicht immer eines zur Hand. Aber wenn man ein tenugui über die Stange auf der Veranda hängt und den Wind herbeiruft, dann flattert es sanft. Und ist irgendwann plötzlich trocken. Früher hat Yoshiro diese dicken, riesigen Badetücher vergöttert.[4]  

 

Der Gebrauch eines 手拭oder 手ぬぐいalso tenugui hat im Roman nicht zuletzt eine ökologische Relevanz. Denn nach der Öko-Katastrophe gibt es keine Waschmaschinen und keinen Strom mehr in Japan. 手 als Schriftzeichen oder Kanji für Tuch und 拭 für wegwischen bilden im Japanischen, das was man im Deutschen ein Handtuch aus Baumwolle nennen müsste. Der Berichterstatter, der sich sofort über das Wort tenugui gefreut hat, als er es las, benutzt eines, mit einem blauen Blütendekor und einem goldenen Muster bedruckt, als Kopftuch beim Marathonlaufen. Man könnte auch sagen, dass es dadurch ein Schweißtuch wird, weil es die Sportler davor schützt, dass ihnen Schweiß in die Augen rinnt. Überhaupt werden in Japan für den Sport häufig Handtücher als Kopftücher benutzt. Eigentlich wäre es wohl richtiger, von einem Wischtuch zu sprechen. Aber heute sind die oft kunstvoll bedruckten 手拭い viel zu wertvoll zum Wischen. In dem Roman Sendbo-o-te wird das tenugui zum Zeichen für die Katastrophe, die passiert ist.

Während der zeremoniellen Preisverleihung mit ihren Gruß-, Lob- und Dankesworten spielten Botschafter Takeshi Yagi und die stellvertretende Generalsekretärin Tokiko Kiyota wiederholt auf den einzigartigen Sprachwitz in der Literatur von Yoko Tawada an. Er ist vergnüglich und spannend, poetisch und kritisch, spielerisch und kämpferisch, beiläufig und punktgenau. Das Lesen in den Schriftzeichen und den Grammatiken erzeugt in Sendbo-o-te eine Dramatik des suspence. Dieser kaum auszuhaltende suspence, der in Deutschland insbesondere mit den Filmen Alfred Hitchcocks in den Wortschatz eingegangen ist, lässt sich kaum übersetzten. Spannung, Schwebe, Ungewissheit sind nur einige Begriffe, mit denen suspence ins Deutsche übersetzt worden ist.

 

 

Der Katastrophen- wie andersartige Science-Fiction-Roman ist full of suspence. Die Katastrophe wird in der Zukunft stattgefunden haben und generiert sich aus einem sprachlich-wissenschaftlichen Schreibprozess. Er funktioniert ebenso durchdacht wie zufällig. Neuartige Formulierungen führen zu Zukunftsvisionen. Gleichfalls kommt in der Eröffnungssequenz ein öko-logisches Wissen zum Zuge. 

Die arme Waschmaschine durchlief alle Leiden, wenn sie diese schweren Tücher im Kreis in ihrem Bauch herumwälzen musste. Das nahm sie so mit, dass sie nach drei Jahren, völlig erschöpft, an Überarbeitung starb. So sind eine Million tote Waschmaschinen auf den Grund des Pazifiks gesunken, wo sie den Fischen als Kapselhotels dienen.[5]  

 

Die „riesigen Badetücher“, die Yoshiro „vergöttert“ hat, haben die „arme Waschmaschine“ getötet, könnte man durch die (grammatische) Subjektivierung sagen. Die Katastrophe und gar Auslöschung der Waschmaschinen bleibt in Sendbo-o-te indessen in der Schwebe, weil sie nun den „Fischen als Kapselhotels dienen“. Von Satz zu Satz ereignen sich Sinnsprünge und der deutsche Neologismus „Kapselhotel“ ermöglicht weitere Assoziationsketten. カプセルホテルkapuseru hoteru werden nämlich in Japan jene Hotels für Menschen genannt, die aus Schlafkapseln bestehen. Unweigerlich liest man im Deutschen allerdings auch all jene Waschmittel-Kapseln mit, die in der Werbung von den großen Herstellern angepriesen werden. Unterdessen verhalten sich die Fische wie Menschen, wenn sie Waschmaschinen als Kapselhotels benutzen. – Das erste Kapselhotel eröffnete übrigens 1979 in der Hafenstadt Osaka, wie sich heute Online schnell mit Wikipedia wissen lässt. Im Roman ist nach der Katastrophe das Internet zusammengebrochen.

 

In ihrer Dankesrede führte Yoko Tawada mit den Kanjis der Japan Foundation - 国 際 交 流 基 金 – vor, wie sie mit der Schrift und Sprache arbeitet. Denn die piktographischen Zeichen generieren sich im Japanischen – wie Chinesischen – aus wiederum bildlichen Elementen, die sich lesen lassen. Sie liest die Zeichen in den Spuren ihrer Bestandteile, um sie in Erzählungen zu verwandeln. Jedes Kanji, wie es in der Kombinatorik für den Namen Japan Foundation verwendet wird, enthält und generiert eine eigene Historio-Graphie. So sprach sie über das Schriftzeichen ryū („Fluss“), das im Namen der Stiftung vorkommt. Sie betonte bei der Verleihung des Preises am 16. Oktober im luxuriösen Okura Hotel in Tokyo wie in der Residenz des Botschafters, dass es in der Kultur keine internationalen Grenzen gibt, die wie Wasser fließen, sich vermischen und sich verändern, während es immer reicher wird.[6]

 

Kanjis als ursprünglich chinesische Schriftzeichen enthalten mit verschiedenen Strichen und Punkten selbst eine Kombination aus Zeichen. Bei einem Namen wie dem japanischen der Japan Foundation nehmen die kombinierten Zeichen durch Kombination eine ganz andere Bedeutung an. Derartige Namen bezeichnen nicht nur etwas, sie bringen auch onomatologisch Bedeutungsschichten zum Verschwinden. Yoko Tawada erinnert quasi etymologisch an diese Schichten, wenn die Bestandteile von 国際kokusai  für international, getrennt als kuni, Land und , sai wie wann jedes einzeln Zeichen bedenkt. Das ältere Zeichen für Land, Staat oder Nation im Japanischen wie Chinesischen lässt sich als eine Kombination aus Grenzen und Hellebarden lesen. Die Grenzen müssen gezogen und verteidigt werden, um graphologisch ein Land oder eine Nation hervorzubringen.

 

Yoko Tawada generiert nicht nur Poesie und Witz aus einem Erforschen der Kanji, sie kann zugleich Austausch bieten und erinnert an die Praxis des Tauschens. Den das Chinesische Verb jiāo ist besonders elastisch in seinen Bedeutungsmöglichkeiten von mit jemandem Umgang haben, sich kreuzen, austauschen, abgeben, verkehren, übergeben. Es geht um eine breitere Praxis des Tauschens und des Verkehrs könnte man sagen. Und in der Kombinaton und als kōrūy wird dann der Tausch oder Austausch noch einmal stärker betont. Im Gebrauch des Namens bleibt Wissen fraglos. Doch glasklar mit den Zeichen gelesen entspringt gerade mit ryū für Fluss Gegenentwurf zum Konzept von Staat und Nation. Das Zeichen enthält nicht nur mit den Wasser-Punkten und den Fluss-Zeichen viel Wasser, es hebt auch besonders die verändernde Kraft des Flusses und des Fließens besonders hervor. Durch den Austausch mit anderen Ländern wird das Land wie seine Literatur und Kultur selbst verändert.

 

Abschließungen und Grenzen, wie sie sich im Kanji kuni zeigen, sind auch in Sendbo-o-te ein Teil der Katastrophe. Schnell bekommt der Leser mit, dass Yoshiro sich an Worte erinnert, die er nicht mehr benutzen darf. Wie ein Wink fällt dem Leser Ray Bradburys dystopischer Roman Fahrenheit 451 ein. Seine Tochter verrät sich sogar als älterer Mensch aus einer Vorzeit, dass sie noch Bedeutung für ON und OFF kennt. Die Kommunikation zwischen Yoshiro und seinem Urenkel Mumey hapert auch an der Sprache. Was versteht Mumey, der manchmal an ein weises Kleinkind erinnert und an anderer Stelle dann schon fünfzehn Jahre alt ist? Überhaupt ist das Schicksal der Kinder unheimlich, weil sie auch Waisen sind, wenn nur der Urgroßvater sich um sie kümmert. Yoshiro darf Mumey bestimmte Dinge nicht erzählen. 

Mumey schien verstanden zu haben; und wieder auch nicht. Yoshiro war immer bemüht, seinem Urenkel nicht klar zu sagen, dass er eigentlich gegen die Abschließungspolitik war.[7]

 

Die Benennungen und Kategorien als ein Problem der Sprache überhaupt verwandelt Yoko Tawada in witzige Erzählungen, die bisweilen am Heiligsten der japanischen Kultur rühren. An exponierter Stelle ist in der Residenz des Botschafters ein, wie man im Deutschen pragmatisch sagt, Gesteck mit einer Chrysantheme platziert. Man darf davon ausgehen, dass es kein Gesteck, sondern ein Kadō, ein 華道, meditativer Weg der Blume war. Den kaiserlichen Chrysanthemen-Thron umgeben ja nicht nur geheimnisvolle Riten und Redeweisen, sie werden ebenso zum Gegenstand von Nation und Abschließungspolitiken gemacht. Die Residenz des Botschafters von Japan in Berlin schmückt eine vergoldete Chrysantheme über dem Portal. Zieht man die Bedeutungskraft der Chrysantheme in Betracht, wird der übergroße Löwenzahn im Roman beinahe zu einer Identitätsfrage. 

Neuerdings gibt es Löwenzahnblüten, deren Blütenblätter bis zu zehn Zentimeter lang sind. Es passierte einmal, dass bei einer der alljährlichen Chrysanthemen-Leistungsschauen jemand eine Löwenzahnblüte mitbrachte und fragte, ob man sie nicht als Chrysantheme akzeptieren könnte? Als die Gegner diese Idee aber behaupteten: »Eine so große Löwenzahnblüte ist keine Chrysantheme, sondern nur eine plötzliche Mutation eines Löwenzahns!« führte der Einwand, dass »eine plötzliche Mutation« ein »diskriminierender Ausdruck« sei, zu einem monatelangen Disput.[8]

 

Eine Löwenzahnblüte ist keine Chrysantheme, die über dem Portal der Residenz in der Dunkelheit extra angeleuchtet wird. – Über der goldenen Chrysantheme scheint am 18. Dezember 2018 ungefähr um 8 der Mond silbern. – Aus dem Problem der floralen Kategorie, dass nämlich Löwenzahn wie Chrysantheme zur Familie der Korbblütler oder Asteraceae gehören, erwächst im Roman ein ganzer „Disput“. Der „Disput“ verschiebt sich sogleich vom Löwenzahn auf „eine plötzliche Mutation“ und den reflexartigen Vorwurf der Diskriminierung. Dergestalt entspinnt die Dystopie bei Yoko Tawada. Das Wissen von der Zukunft bleibt in suspence und generiert sich durch eine Umwertung. Löwenzahn und Chrysantheme gehören gar der gleichen Familie an. Doch eine „Löwenzahnblüte“ in der japanischen Kultur zu einer Chrysantheme erklären zu wollen, kann nur als Dystopie gelesen werden. 

Dagegen setzte die Union der »Löwenzahnisten«, die aus einer ursprünglich von Ramen-Nudelköchen gegründeten Gewerkschaft hervorgegangen war, das berühmte kaiserliche Diktum: »Ein Kraut, das ein Unkraut ist, gibt es nicht.« – Diesem imperialen Slogan wusste die Gegenpartei nichts mehr zu entgegnen, und so fand der Chrysanthemen-Löwenzahn-Disput nach sieben Monaten sein Ende.[9]  

 

Die „Umwertung aller Werte“ gehört seit Friedrich Nietzsches Ecce Homo (1908) zur Signatur der Utopie wie der Dystopie. – „Aber meine Wahrheit ist furchtbar, denn man hieß bisher die Lüge Wahrheit. – Umwertung aller Werte, das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist.“[10] – Dennoch ist der Umwertungsprozess bereits früher in der Literatur bekannt. Im Roman wird Okinawa zu einem ebenso dystopischen wie utopischen Ort. Denn Okinawa hat sich von Japan abgespalten und betreibt eine rigorose Einwanderungspolitik, die an viele Immigrationsdiskussion erinnert, um die Geschlechterfrage in einer Umwertung zu beantworten. 

Okinawa nahm zwar unbeschränkt Immigranten von Honshu auf, man befürchtete aber, dass die Anzahl männlicher Arbeiter überhand nehmen würde. Deswegen durch sich nur Ehepaare für Arbeiten in landwirtschaftlichen Betrieben auf Okinawa bewerben. Nur so hatten sie eine Chance, angestellt zu werden. Auch alleinstehende Frauen und lesbische oder schwule Paare durften sich bewerben. Nur alleinstehende Männer waren ausgeschlossen. Und nur ursprünglich weiblichen Singles, die sich erst, nachdem sie eingewandert waren, einer operativen Geschlechtsumwandlung unterzogen hatten, wurde erlaubt, als alleinstehende Männer auf Okinawa zu bleiben.[11]

 

Okinawa wie Honshu oder Tokyo erweisen sich als ebenso dystopische wie utopische Ort. Die Menschen in Tokyo beneiden die auf Okinawa, wo die großen, in Tokyo seltenen Orangen wachsen, die Yoshiro seinem Urenkel Mumey zubereitet. Doch durch die „Abschließungspolitik“ sind die Arbeiter in den landwirtschaftlichen Betrieben sosehr isoliert von dem Rest Japans und der Welt, dass Yoshiros Tochter immer nur Obst schreibt. Die „Abschließungspolitik“ nach der Katastrophe bringt nur Verlierer hervor. Doch dann besucht Mumey plötzlich sein Klassenlehrer aus der Grundschule. 

Es war Yonatani, sein Klassenlehrer in der Grundschule, der gebeten hatte, Sendbote zu werden. Mumey war gerade fünfzehn Jahre alt geworden, als sein früherer Lehrer, von dem er lange nicht gehört hatte, ihn plötzlich zu Hause besuchte. Auch Yoshiro war sehr überrascht.[12]

 

Was passiert mit Mumey als „Sendbote“? Der Roman von Yoko Tawada, der sich durchaus intertextuell lesen lässt, indem er beispielsweise Mona Winter Zitronenblau zitiert, wenn es heißt „»Zitronen sind so sauer, dass einem blau vor Augen wird.«“[13], bietet eine erstaunliche Dichte und suspence. Es macht Lust, ihn zu lesen. Er schreibt und beschreibt auch, was passiert, wenn es keinen Austausch unter den Sprachen mehr gibt oder geben darf. kuni mit seinen Mauern und der Hellebarde erweist sich als ein schweres Erbe. Sendbo-o-te kann beim Lesen Augen öffnen und ein Umdenken anstoßen. Obwohl im Roman die Politik eher eine nebensächliche Rolle spielt und die Katastrophe von Fukushima nicht konkret angesprochen wird, bearbeitet er sie auf ebenso spannende wie witzige Weise. 

 

Torsten Flüh 

 

PS: Das tenugui erhielt der Berichterstatter von einer Freundin, die in Taiwan lebt und die es für ihn auf einer Japanreise in Angelegenheit der deutschen Literatur und Sprache gekauft hatte. Beim alljährlichen Berlin-Marathon laufen jedes Jahr viele Japaner*innen mit. Einige tragen ein tenugui.

 

Yoko Tawada 

Sendbo-o-te 

Aus dem Japanischen von Peter Pörtner 

Klappenbroschur mit Fadenheftung 200 Seiten 

ISBN 978-3-88769-688-7 

Herbst 2018 

12,90 € 

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[1] Yoko Tawada: Sendbo-o-te. Tübingen: konkursbuch, 2018, S. 18.

[2] Roland Barthes: Sade   Fourier   Loyola. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1986, S. 10.

[3] Zitiert nach: Waseda University Faculty of Letters, Arts and Science: Yoko Tawada Receives the 2018 Japan Foundation Award. (Ohne Datum, Übersetzung T.F.)

[4] Yoko Tawada: Sendbo-o-te … [wie Anm. 1] S.14.

[5] Ebenda.

[6] Siehe auch: Waseda University … [wie Anm. 3].

[7] Yoko Tawada: Senbo-o-ote … [wie Anm. 1] S. 61.

[8] Ebenda S. 15.

[9] Ebenda S. 16.

[10] Friedrich Nietzsche: Ecce Homo „Warum ich ein Schicksal bin“ In: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, Band 6 (KSA 14)1, KSA 6, S. 365.

[11] Yoko Tawada: Senbo-o-ote … [wie Anm. 1] S. 67.

[12] Ebenda S. 181.

[13] Ebenda S. 65.


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