Geheimnisvolle Schauplätze der Literatur - Zum 100. Todestag von Max Dauthendey und der Buchpremiere Brechts Berlin von Michael Bienert

Weltreisen – Literatur – Flaneur

 

Geheimnisvolle Schauplätze der Literatur 

Zum 100. Todestag von Max Dauthendey und der Buchpremiere Brechts Berlin von Michael Bienert 

 

Von den Zwillingsbrüdern Friedrich und Karl Kröhnke, beide promovierte Literaturkenner und Bibliophile, focht der eine, Fritz, am Dienstagabend auf einer Podiumsdiskussion im Haus für Poesie um Max Dauthendey, und am Mittwochabend der andere im Literaturforum im Brecht-Haus für den Autor und literarischen Berlin-Führer Michael Bienert, dessen Buch Brechts Berlin Literarische Schauplätze an der Chausseestraße in Mitte vorgestellt wurde. Seit Friedrichs wunderbarem Geheimnisbuch (2009) wissen interessierte Leser*innen, wie die Zwillinge „Abel und Sascha“ schon seit frühester Jugend „eine Welt voller Bücher“ kursieren ließen. Jugend forscht war noch kein von Henry Nannen gestiftetes Förderprogramm in Naturwissenschaft und Technik, als es die Zwillinge schon früh zu Bibliologen gebracht hatten.  

 

Wie ist Max Dauthendey als Reiseschriftsteller und als Lyriker zu bewerten? Passt seine Literatur überhaupt in Kategorien, nach denen sich ein – neudeutsch – Ranking erstellen ließe? Am 29. August jährte sich zum einhundertsten Mal der Todestag des Würzburger Autors, der in Malang auf Java verstarb. Hans Christoph Buch, Hannes Schwenger, Charlotte Warsen und Friedrich Kröhnke unternahmen am Mittwoch eine Art Gegenwartsproof. Michael Bienerts Buch zu Brecht in Berlin ist nicht nur für Berlinreisende, vielmehr für Brecht-Leser*innen mit einem Interesse an „Literarische(n) Schauplätze(n)“ konzipiert. Wie kommt Berlin in Brechts Literatur vor? Bienerts opulent mit Fotos und Serviceteil ausgestattetes Buch ist eine Spurensuche.

 

2009 feierte Friedrich Kröhnke mit Ein Geheimnisbuch das Medium Buch, als es bereits nicht nur Blogs und EBooks gab, sondern eine gewisse Buchkultur im Verschwinden begriffen war. Abel und Sascha entwickeln in der Erzählung von den Büchern eine eigene Kultur der Buchordnungen. Es geht nicht allein um eine Sammelleidenschaft, vielmehr entfalten die Zwillinge ein eigenes ästhetisches Wissensgebiet von den Büchern. Es geht um das Haptische und das Visuelle der Bücher und noch viel mehr. Die Bücher und Editionen werden selbst zum literarischen Schauplatz von Farbenspielen und Einbänden. 

Jeder Band hat eine eigene Farbe, aber keiner ein Titelbild, statt dessen auf jedem nur der Name der Autors und des Buchs. Sie lieben das. Sie lieben am meisten, daß es diese Art papiernen Schutzumschlags in eben der jeweiligen Farbe gibt, aber unter dem Umschlag verborgen exakt dieselbe Beschriftung auf einem weißen, überaus schmalen und kleinen Taschenbuch. Beieinander in den Bananenkartons bilden die Bücher den Regenbogen. So lernen sie beide, statt in der Schule zu sitzen, die Schönheit kennen.[1]

 

Den Regenbogen in den Bananenkartons gab und gibt es wirklich. Die edition suhrkamp in den Umschlagentwürfen von Willy Fleckhaus. Bücher und ein Editionsprogramm werden zu einem Regenbogen in tendenziell endlos vielen Farbabstufungen.[2] Die „Schönheit“, sagen wir ruhig, der Welt des Wissens wird von Friedrich Kröhnke erinnernd mit den Büchern formuliert. Das kann man eine belletristische Literatur in einer Wahrnehmung der Welt durch Bücher nennen. Friedrich und Karl bemerkten auch auf den Podien der Buchvorstellungen und Literaturerörterungen am Dienstag und Mittwoch wiederholt die Schönheit der Bücher. Das ist etwas Anderes als – wie man sagt – ihr Inhalt. Der Regenbogen von Willy Fleckhaus stellt auch eine Vielfalt her, in der zwar Max Dautendey nicht, wohl aber Hans Christoph Buchs Dauthendey-Exotismus-Studie Die Nähe und die Ferne 1991 in einem mittelhellen Türkiston als Nummer 1663 erschienen war. Vorher aber: 

Jugendbücher. Dies ist die Abenteuerreihe: Der Berg der Abenteuer. Das Tal der Abenteuer. Der Fluß der Abenteuer. Die Insel, die Burg, die See, der Zirkus der Abenteuer. Es gibt Abenteuerbücher. Es gibt Geheimnisbücher. Fünffreundebücher. Rätsel um. Geheimnis um. Fünf Freunde in, bei, und.[3]

 

So oder so ähnlich kam Friedrich auch auf Max Dathendey vor Buch. Vielleicht kam er durch das rororo Taschenbuch 44 mit Leinenrücken Die acht Gesichter am Biwasee – Japanische Liebesgeschichten (1911) als Reprint von 1951 auf ihn. In den 50er Jahren erfreute er sich als Reiseschriftsteller einer Auferstehung im Taschenbuchformat. Vor 1918 bibliophile Privatdrucke und dann nach 1945 die Wiederkehr als Taschenbuch mit vielversprechenden farbigen Titelbildern und beispielsweise japanisch anmutender Typographie. Sascha und Abel wäre zuzutrauen, unter der Bettdecke in jungen Jahren Dauthendey entdeckt zu haben. Lesen als Abenteuer aus der Reihe. 

Wörter, die für eine weite Welt stehen. Es hat sich nichts geändert. Er hat sie alle: die alten rororo-Bände, die den Deutschen ums Jahr 1960 in so verwunderlicher Zahl nach Cochinchina führen wollten, die von niemandem mehr gelesenen Bücher von Pearl S. Buck und Jean Hougroun und Richard Mason und Frederic Prokosch.[4]

 

Hans Christoph Buch hat seinen edition-suhrkamp-Band, die Frankfurter Poetikvorlesung vom Sommersemester 1990 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität am Dienstagabend dabei, um daraus zu zitieren.[5] Der Reiseschriftsteller und Lyriker Buch hatte bei Walter Höllerer am Institut für Literatur der Technischen Universität Berlin promoviert. Eine legendäre Zeit an der Schnittstelle von literarischer Produktion und Wissenschaft. Am Dienstagabend sucht Buch Dauthendey in den Epochenbegriffen von Realismus, Impressionismus, Symbolismus, Exotismus und, ja, doch auch Expressionismus zu verorten. Funktionieren die literaturbewegten Ismen um 1900 noch oder stellen sie nicht vielmehr die literaturhistorische Ordnung der Epochen in Frage. Man könnte fast sagen, dass um die Jahrhundertwende monatlich, wenigstens aber jährlich ein neuer Ismus formuliert wurde, um eine Griffigkeit von literarischer Produktion zu versprechen. 

Am deutlichsten greifbar werden diese Zeittendenzen im Werk von Max Dauthendey, das, ähnlich wie die Frühschriften Kafkas, am Kreuzungspunkt von Neuromantik und Moderne, Impressionismus und Expressionismus, Symbolismus und Jugendstil angesiedelt ist.[6]

 

H. C. Buch erklärte die Schreibweise und die Themen bzw. die „exotische(n) Novellen“ Max Dauthendeys gar zum epochenlogischen Vorbild von „Döblin über Klabund bis zu Brecht und Kafka“.[7] Große Geste. Im Haus für Poesie hielt Buch am Exotismus, der bei einer „Entstofflichung des Bildes mit seiner Erotisierung, ja Sexualisierung Hand in Hand geht,“ fest.[8] Buch zitiert mehrfach seinen Vater, einen Diplomaten, um naturalistische Sprachbilder als ganz reale Erfahrungen in fernen Ländern zu bestätigen. Nichts Absonderliches in der „Dornenkrone der Sonne“, sondern Formulierungskunst der permanenten Sonneneinstrahlung in südlichen Breiten.  – Wie funktioniert das mit dem Exotismus und dem Lyrikband Schwarze Sonne/Phallus (1897/1910)? Phallus als episches Langgedicht lädt die Sexualität quasi kosmologisch auf, ohne es an pornographischer Eindeutigkeit fehlen zu lassen.[9] Exotismus ist eine durchaus schwierige Kategorie, auf die auch die anderen Podiumsteilnehmer und die Lyrikerin Charlotte Warsen nicht so recht anspringen wollen.

 

In den 1890er Jahren wird Sexualität für einen zunächst eher exklusiven Kreis in der Prosaliteratur, Lyrik, Wissenschaftsliteratur und Malerei auf eine neuartige Weise darstell- und sagbar. Ringt Dauthendey doch keinesfalls um eine „Entstofflichung“, sondern mit Phallus um eine handfeste Materialisierung, die ins Kosmologische gewendet wird. Zweideutig allerding bleibt das Geschlecht des „Mannweibs“. Ein Weib oder ein Mann? Beides? Woher diese geschlechtliche Verrätselung eines grammatischen Femininum? 

Er küßt ihr die Wangen, küßt ihr die Brüste, 

Küßt ihr die Brüste, küßt ihr die Wangen. 

Die Reben brennen, die Steine zerschmelzen, 

Riese und Mannweib biegen den Berg. 

Nachtwolken stehen tagfeurig und leuchten, 

Riese und Mannweib biegen den Erdball.[10]

 

Ja, doch, Max Dauthendey vermag zu faszinieren. Indessen schrammt er in seiner Literatur haarscharf an Sexismen und Rassismen vorbei. Wie der andere fast zeitgleiche Reiseschriftsteller Karl May verknüpft sich bei ihm die Kritik am Kolonialismus und der Suprematie der Europäer mit der Faszination der neuen touristischen Reisemöglichkeiten durch den Kolonialismus. Denn die neuartigen Schiffsrouten und Linienschiffe sind nur deshalb in Betrieb, weil sie zugleich die Warenströme für den Kolonialhandel und die Kolonialwaren-Läden in den deutschen Städten sichern. Kolonialwaren! Welch ein Versprechen von Welt in einem Krämerladen an der Ecke! Die Linienschiffe fuhren bis nach Yokohama, wo es 1908 deutsche Zeitungen gibt. Täglich berichten sie vom Besuch Robert Kochs in Japan und haben ihre Muttergesellschaft im Zeitungsviertel von Berlin, weshalb die Deutsche Japan-Post von Dr. A. Gramatzky aus Yokohama heute im Zeitungsarchiv im Westhafen-Speicher zu lesen ist.   

 

Friedrich Kröhnke, und dass hat er auch in seinem Buch Wie Dauthendey starb 2017 erzählerisch ausgearbeitet, sieht den Reiseschriftsteller, Briefschreiber und Lyriker zwiespältig.[11] Hannes Schwenger fragt in die Runde und vor allem Charlotte Warsen, ob seine Schreibweise für junge Lyriker heute anregend sein könne. Eine Stilfigur, die sich überpointiert als Bedeutung generierend benennen lässt, wäre die Inversion. Kröhnke nennt es in seinem Buch „dieses unbeholfene Verkehrtherumstellen von Subjekt und Prädikat“.[12] Michael Mayer hat 2010 darauf hingewiesen, dass Dauthendey „bisher nur wenig Rezeption (in der Germanistik) erfahren“ habe.[13] Statt Exotismus sieht er in Dauthendeys Mexiko-Roman Raubmenschen (1911) vielmehr eine „Europamüdigkeit“[14] und einen „Eskapismus“[15] am Werk. 

Das Podium kann sich kaum auf ein literarisches Urteil über Max Dauthendey einigen. Welthaltigkeit bei gleichzeitiger Überdrehung und Herumstellung. Ein seltsamer Materialismus, wie er mit dem Phosphor als Stoff zum Denken in den Kokosnüssen von Jacob Moleschott und Ludwig Feuerbach herüberwinkt.[16] „Das Gehirn kann ohne phosphorhaltiges Fett nicht bestehen.“ (Moleschott) Bei Dauthendey: Die Farben und Farbkomposita in Ultra-Violett (1893)! Schwerlich ließen sich die Farbtöne auf Reisen in Malang etc. wiederfinden. Sie mussten erst einmal geschrieben werden. „Licht ward zur Dornenkrone“ beschreibt eben nicht nur den Sonnenschein in südlichen Breiten. Das neuartige Wissen von der ultravioletten Strahlung, die dem menschlichen Auge unsichtbar bleibt, generiert sogleich in Amselsang ein neues, synergetisches Farb- und Tonspektrum. 

Fliehende Kühle von jungen Syringen, 

Dämmernde Grotten cyanenblau, 

Wasser in klingenden Bogen, 

Wogen, 

Auf phosphornen Schwingen, 

Sehnende Wogen. 

Purpurne Inseln in schlummernden Fernen. 

Silberne Zweige auf mondgrüner Au. 

Goldene Lianen auf zu den Sternen, 

Von zitternden Welten 

Sinkt Feuertau.

 

Karl Kröhnke kennt Michael Bienert seit den 80er Jahren, als dieser auf literarischen Spuren durch Berlin führte. Doch mit den Spuren Bertolt Brechts in Berlin ist es so eine Sache. „Frühe Wohnadressen (1920-1928) … 2) Zietenstraße 6 (zerstört) 3) Wohnung Arnolt Bronnens, Nürnberger Platz 3 (zerstört) 4) Spichernstraße 16 (zerstört, Gedenktafel am Neubau)“[17]. Zerstört, verschwunden, gelöscht. Aber natürlich das Brecht-Haus in der Chausseestraße 125. Und die Brecht-Weigel-Gedenkstätte im Hinterhaus, die jetzt Museum heißt. Hinterhäuser nennen sich in Berlin schon längst „Gartenhaus“. Da hängen noch die blauen Hemden von Brecht, verst. 14. August 1953, gut sichtbar im Schrank. Besuchbar: „Wohnraum und Denkfabrik“[18] sowieso. Das Blau überhaupt. Preußisch Blau, Berliner Blau?[19] Ein heller Ton Berliner Blau. Brecht Blau wie das Auto bestimmt. Die Brecht-Vignette von Michael Bienert auf dem Einband und überhaupt das Buch sind in Blautönen gehalten.  

Mit den „Literarische(n) Schauplätze(n)“ bemüht Michael Bienert kein Abbildungsverhältnis, obwohl der Band an Fotos, Postkarten, historischen Stadtplänen, Fahrkarten etc. reich ausgestattet ist. Karl Kröhnke lobt das Buch bei der Vorstellung besonders wegen seiner Ausstattung: dem festen Einband, „Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Format: 21,0 x 22,5 cm“. Kein Buch so einfach für die Jackett- und Jackentasche, wie es die besagten Taschenbücher sind. Das insel taschenbuch Mit Brecht durch Berlin: Ein literarischer Reiseführer 1998 von Bienert, war nicht so aufwendig gestaltet. Dies nun ein Buch, das sich nicht gleich in Lese- und Gebrauchsspuren auflöst. Das Buch legt quasi neue Spuren. Doch Bienert erinnert sogleich an Brechts Berliner Diktum „Verwisch die Spuren!“ aus dem Lesebuch für Städtebewohner (1926-1927). 

Was immer du sagst, sag es nicht zweimal 

Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn. 

Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ 

Wie soll der zu fassen sein! 

Verwisch die Spuren!

 

Unterdessen hat Bertolt Brecht außergewöhnlich viele Spuren in Berlin hinterlassen, worauf Bienert im Literaturforum hinweist. Viele entstanden allerdings nachträglich. Also Spuren gar nicht von ihm selbst im Stadtbild, eher Materialisierungen Gesprächen, Erzählungen, Literaturen. Beispielsweise sitzt er seit Anfang 1988 überlebensgroß vor dem Berliner Ensemble auf dem Bertolt-Brecht-Platz.[20] Und natürlich sprechen viele heute noch vom Berliner Ensemble als dem „Brecht-Theater“. Das „Brecht-Theater“ hat sich nicht zuletzt seit Berlinfahrten für Schüler in den 70er Jahren ins mehr oder weniger kollektive Gedächtnis eingebrannt. Selbst dann, wenn man im Berliner Ensemble gar kein Brecht-Stück, sondern Die Physiker von Max Frisch zu sehen bekommen hatte. Brechts Berlin sind immer auch verschlungene Spuren. Oft lässt Bienert Brecht selbst sprechen: 

… Wenn Sie mich jetzt treffen würden, so würden Sie einen Mann vor sich sehen, dem Sie nicht ohne weiteres ein Trinkgeld anbieten würden. Aber damals war ich ein sehr kleiner Mann und an dem betreffenden Tag, wo ich am Untergrundbahnhof Kaiserhof einstieg, war nichts von meiner nachmaligen Großspurigkeit an mir zu bemerken. Man hatte mir eben irgendwo zu verstehen gegeben, daß man auf mein Vorhandensein in dieser Stadt keinen direkten Wert legte, man hatte es für unnötig befunden, mir noch ein weiteres Mittagessen bei Aschinger zu finanzieren, und als ich in der Untergrundbahn saß, war in meinem Kopf eine eigentümlich leere Stelle, die ich nicht mehr ausfüllen konnte.[21]  

 

Brecht verwandelte den U-Bahn-Plan von 1928 in Reiseliteratur. Wer Brechts Berlin durch Spaziergänge erkunden möchte, muss von vorneherein wissen, dass er selbst wohl kein guter Spaziergänger, gar Flaneur war. Auch in Meine längste Reise blitzen nur „Untergrundbahnhof Kaiserhof“, „Aschinger“, „Untergrundbahn“ etc. auf. Sie werden zum Schauplatz eines Ichs in der Großstadt. Als Brecht in der Chausseestraße 125 ab 1950 wohnte, ließ er sich möglicherweise aus gesundheitlichen Gründen die 15 bis 20 Gehminuten ins Berliner Ensemble mit dem Auto fahren. Doch selbst schon in den 20er Jahren wurde Brecht in Berlin zum passionierten Autofahrer, der die Geschwindigkeit genoss. Deshalb gibt es bei Bienert auch den Abschnitt „Autofahren“ vor dem „Sportpalast".[22] Dort zitiert er Elias Canetti: 

Der Kult des Amerikanischen hatte damals Wurzeln geschlagen, besonders bei den Künstlern der Linken. An Lichtreklamen und Autos tat es Berlin New York gleich. Für nichts verriet Brecht soviel Zärtlichkeit wie für sein Auto.[23]   

 

Brecht war kein Flaneur wie Walter Benjamin. Er beschreibt keine Orte oder Gebäude. Trotzdem oder gerade deshalb ist Michael Bienerts Schauplatz-Buch reich an Abbildungen und Fotografien. Es ist ein besonderes Brecht-Lesebuch geworden. Gerade die Fotos mit Bienerts Bildunterschriften wollen gelesen werden. Eine Fotopostkarte. Menschen gehen sichtbar schnellen Schrittes an einem „ASCHINGER“ vorbei.[24] Eine Stehbierhallen-Kette. Vielleicht ist diese Filiale eher ein Restaurant. Gardinenstangen auf halber Körperhöhe. Hinter den Gardinen Menschen an einfachen Tischen? Aschinger war wohl eher so etwas wie ein Schnellrestaurant. Auch die Stehbierhalle ist mehr für das schnelle und nicht das gemütliche Bier. Stehbierhallen gibt es kaum noch in Berlin. Sie verschwinden. Sie werden zu einer Arbeiterkultur gehört haben. Und dann gibt es bei Bienert „Brechts Berlin von A bis Z“: 

Atrium-Kino, Kaiserallee (heute Bundesallee) 178/179 und Berliner Straße 155 (zerstört)|Wilmersdorf Am 19. Februar 1931 wurde in dem Großkino die Verfilmung der Dreigroschenoper uraufgeführt, am 30. Mai 1932 fand hier die deutsche Erstaufführung des Films Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? statt àS. 32f.[25]  

 

Selbst wenn man den Literarischen Schauplatz gefunden hat, wird man schwerlich sagen können, dass die literarische Produktion von Bertolt Brecht in ihrer Zeit restlos verstanden wird. Dafür sollte man gar nicht erst die Orte aufsuchen. Es kann sich allerdings etwas anderes mit Michael Bienerts Brechts Berlin einstellen, das einem Erlebnis gleicht. Vielleicht eine Art Erfahrungswissen, wie es aus dem Titelbild, „Baustelle Stalinallee, Maurer bei der Arbeit, undatiertes Foto (ca. 1952)“, herausspringt. Der Himmel wolkenlos. Die Maurer tragen alle Mützen. Die Oberkörper frei. Die Sonne scheint. Die Mauer wird in mehreren Reihen mit Backsteinen gemauert. Wie aufwendig. Heute kommen die Fertigteile auf dem Sattelschlepper. Es ist ein geheimnisvolles Foto vom mehr oder weniger desaströsen Wohnungsbau auf der Stalinallee im großen klassizistischen Format. Sie heißt heute Karl-Marx-Allee. Brecht war in die Planung involviert, wie Hermann Henselmann berichtet: 

… Niedergeschlagenheit, die mich hintrieb eines abends zu Bert Brecht, mit dem mich eine sehr intensive Beziehung verband, und Brecht war es, nicht nur Brecht, es kamen noch die Argumente meiner Genossen hinzu, der mich davon überzeugte, dass das Bauen für Millionen Menschen ausgehen muss von den ästhetischen, den emotionalen, den geschmacklichen Vorstellungen dieser Millionen einfacher Menschen, und nicht, dass ich etwa ihnen eine Kultur beibringe.[26]

 

Man kann stundenlang und endlos in Michael Bienerts Brechts Berlin stöbern. Aus den Texten und Bildern springen immer wieder neue Blickwinkel als Erfahrungswissen heraus. Denn Bienert schreibt sozusagen das Berlin, wie es für Brecht existierte und wo er lebte nicht tot. Er hält sich mit Erklärungen und Deutungen eher zurück. Wie sehr Brechts Berlin auf eben Brechts Wahrnehmung fokussiert ist, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass der Autor erstens das klassizistische Haus Chausseestraße 125 mit Perlstab und griechisch, lesbischen Blattwelle als Verzierung als Bürgerhaus falsch einschätzte. Es war ein europaweit bekannter Technologiestandort für den Berliner Eisenverzinker. Und zweitens nahm er offenbar gar nicht wahr, dass er mit der Chausseestraße an der Geburtsstätte der deutschen Industrie lebte. Natürlich hatte sich seit ca. 1900 die Straße längst von einer Industrie- zu einer Geschäfts- und Wohnstraße entwickelt. Doch bei August Borsig wurde auf dieser Straße 1848 als Flugblatt eine Art erster Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertrag ausgearbeitet.

Torsten Flüh 

Michael Bienert 

Brechts Berlin 

Literarische Schauplätze 

200 Seiten, 195 Abbildungen 

Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Format: 21,0 x 22,5 cm 

ISBN: 978-3-947215-27-0 

€ 25,00 (D) / € 25,70 (A)

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[1] Friedrich Kröhnke: Ein Geheimnisbuch. Zürich: Ammann, 2009, S. 7.

[2] Vgl. auch: Torsten Flüh: Hirn an der Wand scheibchenweise. Rainald Goetz liest loslabern im Edition Suhrkamp Laden. In: NIGHT OUT @ Berlin 17. Mai 2010 22:33.

[3] Friedrich Kröhnke: Ein … [wie Anm. 1] S. 26

[4] Ebenda S. 77.

[5] Hans Christoph Buch: Die Nähe und die Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991.

[6] Ebenda S. 115.

[7] Ebenda S. 117.

[8] Ebenda S. 118.

[9] Max Dauthendey: Phallus. (Zeno)

[10] Ebenda.

[11] Siehe Torsten Flüh: Farbenfroh wuchernde Sehnsucht. Friedrich Kröhnke feiert den 150. Geburtstag von Max Dauthendey mit dem paradox-witzigen Text Wie Dauthendey starb. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. August 2017 13:07 .

[12] Friedrich Kröhnke: Wie Dauthendey starb. Graz: Droschl, 2017, S. 16.

[13] Michael Mayer: „Die Tropen gibt es nicht.“ Dekonstruktion des Exotismus. Bielefeld: Aisthesis, 2010, S. 179.

[14] Ebenda.

[15] Ebenda S. 180.

[16] Vgl. zum Phosphor: Torsten Flüh: Schönes Essen mit Kokosblütenstaub. Zu veganer Ernährung und dem Daluma-Laden im Weinbergsweg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2015 18:38.

[17] Michael Bienert: Brechts Berlin. Literarische Schauplätze. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg, 2018, S. 17.

[18] Siehe Literaturforum im Brecht-Haus, Geschichte, Wohnraum und Denkfabrik.

[19] Vgl. zu Preußisch Blau in der Kunst-Photographie auch: Torsten Flüh: Vom Verschwinden und Wiederkehren. Ute Lindners Ausstellung Pentimenti im Löwenpalais der Stiftung Starke. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. September 2012 22:11.

[20]  Michael Bienert: Brechts … [wie Anm. 17] S. 157.

[21] Ebenda S. 9.

[22] Ebenda S. 35-37.

[23] Ebenda S. 36.

[24] Ebenda S. 11.

[25] Ebenda S. 180.

[26] Ebenda S. 135. 


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