Angst vor den Schatten - Über 007 und M in Skyfall

Angst – Daten – Schatten

Angst vor den Schatten
Über 007 und M in Skyfall

Die Übersetzung von Skyfall mit „Wolkenbruch“, wie jüngst im Spiegel, ist naiv und dumm. Vielmehr ist Skyfall im Englischen ein Neologismus und Name wie Goldfinger oder Octopussy. Neuartige Wortkombinationen waren für die Titel der James-Bond-Filme immer schon gut. Skyfall soll apokalyptische Assoziationen wecken. Denn es geht, wie es im von Adele gesungenen gleichnamigen Titel-Song heißt, um das Ende: This is the end. Zwar darf James Bond - nach den Worten seines Produzenten Alfred R. Broccoli zu seiner Tochter Barbara „ein Huhn, das goldene Eier legt“ - niemals enden, doch geht es immer um ein drohendes Ende.


Die narrativen Strategien der Bond-Filme bringen immer wieder neue Endzeiten hervor. Sie handeln von den jeweils aktuellen Ängsten Großbritanniens, Amerikas und der Welt, die allerdings eine ganz andere Angst artikulieren. Besondere Aufmerksamkeit im neuesten Bond-Film verdient die Inszenierung von Innen und Außen. Nicht das Psychologische als eine vermeintliche Erklärung äußerer Handlungen aus dem Innen der Psyche wird in Skyfall inszeniert, sondern eine andere, auch visuelle Durchdringung von Innen und Außen, von Erinnerungsspeicher und Wahrnehmungsmodus.


(Dieses und die folgenden Fotos wurden durch Screenshots des Musik-Videos Skyfall von Adele generiert.)

Die Welt von James Bond ist im Film so fiktiv wie sie nur das Medium selbst durch cut and continuity hervorbringen kann. Die Verkettung der Schnitte generiert die Welt des Geheimagenten zwischen London, Schottland, Shanghai, Macau, Istanbul, Türkei und, wer hätte das gedacht, Hashima, Battleship Island, der Geisterstadt im Meer vor Nagasaki. Das ist kein Alleinstellungsmerkmal der James-Bond-Filme. Aber die kontinuierliche Wiederkehr dieser Welt, die über nunmehr 50 Jahre durch cut and continuity existiert, hat zumindest dazu geführt, dass es ganze Reisegruppen gibt, die an Bond-Schauplätze reisen.


Bereits mit der Werbung im Kino beginnt die Überschneidung des neuen Bond-Films mit dem Reiseziel London. Das Reiseland Great Britain hat das Privileg, die Einstellung mit James Bond auf den Dächern von London mit Blick auf die City und einem steif im Wind flackernden Union Jack für die Werbung nutzen zu dürfen. Bond is Great Britain. Er ist britisch oder wie M bzw. Dame Judy Dench es zur Premiere für BBC formulierte: very much stiff upper lip. Mit anderen Worten Durchhalten oder Haltung bewahren, selbst wenn es dick kommt, ist die Selbsteinschätzung von Skyfall und den Briten durch Judy Dench.


Insbesondere im Vorspann, der via Earphone im Headquarter des MI6 und in der Türkei spielt, wo eine Festplatte aus einem streng vertraulichen Notebook mit Nato-Geheimnissen geraubt wird, bewahrt 007 Haltung. 007 und seine Kollegin liefern sich im Land Rover eine wilde Verfolgungsjagd mit den Gangstern im Audi. Der Land Rover ist selbstverständlich so britisch wie die unbewegliche Lippe. Und während die Wirtschaft in Großbritannien in ihrer tiefsten Krise steckt, schafft es nun ausgerechnet der altbewährte Land Rover, den Design-Audi durch mehrfaches Anrempeln zum Umkippen zu bringen. Wenn das kein Bild und Zufall ist! Im Englischen bezeichnet man so ein Verhalten eigentlich als bullying: „The behavior can be habitual or involve an imbalance of soical or physical power.“     


Die Verschaltung von Welt und Werbung zur 007-Welt, findet nicht zuletzt über den Sony-Konzern statt, der über MGM und Columbia, also Sony Pictures Entertainment den Film produziert hat. Jedes Notebook im Dienste ihrer Majestät ist ein Sony Vaio. Da Computer, Netzwerke und Laptops in Skyfall so wichtig und mächtig sind, dass sich M und 007 in die schottischen Highlands retten müssen, um dort wenigstens eine geringe Chance gegen den Feind aus dem Netz zu haben, kommt VAIO ziemlich oft ins Bild. 


(Dieses und die folgenden Fotos wurden durch Screenshots des offziellen Skyfall-Trailers generiert.)

007 generiert Welt und wie sie aktuell im Imaginären vorkommt oder vorkommen soll. Ein wichtiges Mittel zur Herstellung von Continuity sind Türen und Durchgänge. Jede Tür ein Schnitt. Das beginnt in Skyfall bereits mit dem Vorspann, with the very beginning. In der allerersten Einstellung kommt 007 (Daniel Craig) zunächst nur als ein unförmiger Schatten, einen dunklen Gang im Gegenlicht entlang, bis durch einen Lichtschlitz seine Augen erleuchtet werden. Cut. Er öffnet eine Tür und befindet sich in einem Zimmer, in dem gerade ein blutiger Überfall stattgefunden hat. Bis auf die Spitze werden die Türen und Durchgänge in London und dort insbesondere in der Verfolgungsszene in der U-Bahn getrieben. Hinter jeder weiteren Tür steckt ein neuer Gang, ein anderer Raum, ein weiterer Schrecken.


Der Titel-Song und seine filmische Umsetzung gehören zum Kontinuum in der 007-Welt. Er wird variiert und mit der avanciertesten Technik komponiert. Retro und Avangarde bringen auch diesmal einen erstaunlichen Song für und von Adele hervor, der ganz bestimmt nicht zufällig Skyfall wie Goldfinger ankomponiert. Das hat dem Adele-Skyfall-Video bis heute weit über 49 Millionen Aufrufe auf YouTube beschert. Das Copyright liegt bei XLRecordings und Sony Music Entertainment. Im Film fällt James Bond in einen Fluss und versinkt dann zum Song tief und tiefer in den Tiefen eines imaginären Flusses oder Sees. Blutspuren im Wasser bekommen eine Ähnlichkeit mit Linien, Kabeln, vielleicht sogar visualisierten Datenströmen. - Zu genau soll das natürlich auch nicht erkennbar werden.


007 war immer ein Action-Held. Action ist dabei schon lange ein Synonym für Blue Screen, Bildbearbeitung, Datenströme, Pyrotechnik, Stunts, Schnitt und Montage. Action im Action-Film produziert den Körper des Helden und vernichtet ihn zugleich. Mit den Worten von Bond-Gegenspieler Raoul Silva (Javier Bardem) kurz vor einem Tube-Crash: You're a physical wreck. Natürlich vermag dieser Wrack-Körper, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist, erstaunliches zu verrichten.


Beispielsweise ist der Körper von 007 physisch und psychisch dazu in der Lage, sich in Shanghai an einem Fahrstuhl über eine 70-Stockwerke-Fahrt zu halten oder eine Fahrstuhltür von einem wenige Zentimeter breitem Vorsprung aus zu öffnen. Einerseits wird der Körper des Action-Helden insbesondere über eine wunde Narbe oberhalb der linken Brust betont, andererseits drohen die wirklichen Gefahren aus dem Netz von Verschaltungen, Programmen und Daten.


Über die Continuity, die in Skyfall als Modus der (logischen) Erzählung oder storyline kaum eine Rolle mehr spielt, wacht in der Regel mindestens ein Produktionsmitarbeiter. Deshalb gibt es Menschen, die geradezu leidenschaftlich und akribisch auf Continuity-Fehler achten. Der Berichterstatter ist darin ein Laie, kann jedoch an dieser Stelle und zu diesem relativ frühen Zeitpunkt der Skyfall-Vorführungen nicht verhehlen, dass er am 1. November bei der Vorführung der Originalfassung im Sony-Center ausgerechnet bei der Narbe einen Fehler entdeckt hat.


Sagen wir: 007 steht in Macau im Bad vor dem Spiegel – Spiegel und Spiegelungen sind geradezu ein Tiefe generierendes Mittel in Skyfall neben den „Tauchexkursionen“. Er will sich mit selbstverständlich nacktem Oberkörper im Zeitalter von Philips-Trockenrasiern oder Gillette Fusion ProGlide Power gerade mit einem Rasiermesser rasieren. Vor dem Spiegel ist die Narbe oberhalb der Brust nur als eine Hauthervorhebung zu sehen. Dann klopft es an der Hotelzimmertür und Eve Moneypenny (Naomie Harris) steht in der Tür. Nun ist die Narbe deutlich dunkler, als wäre sie frisch verschorft. Continuity-Fehler sind Wunden der Produktion im Film(-Körper)!


Gerade weil diese Narbe mehrfach auf exponierte Weise quasi narrativ ins Bild gerückt wird, verdient sie mehr Aufmerksamkeit, weil das Verhältnis von Innen und Außen damit angesprochen wird. Nach dem verhörartigen Test durch den MI6 zur Wiedereinstellung steht 007 vor einem Spiegel, öffnet mit einem Messer die Narbe und holt aus ihr Splitter oder Bruchteile von einem Computer o. ä. aus der Narbe. Es ist völlig unklar, worum es sich handelt. 007 gibt die Teile in einer Asservatentüte einem Labormitarbeiter mit der Bitte, sie zu analysieren. Der Befund führt auf die Spur eines Killers in Shanghai, was allerdings nicht wirklich wichtig ist, außer dass damit narratologisch Bilder verkettet werden können.


Es ist nicht eindeutig und wird sich nicht klären lassen, ob die Bruchstücke aus der Brustnarbe mehr waren als nur Splitter. Oder dienten sie allein dazu, den Körper des Action-Helden als verletzlich und das Aufschneiden mit dem Messer unter hervorquellendem Blut als besondere Haltung zu inszenieren? Die Entfernung von Verwundungen mit einer Stiff-upper-lip! An der Sichtbarkeit der Wunde und dem hervorquellenden Blut würde dann jene unübertreffliche Haltung vorgeführt, die die innere Britishness des Helden sichtbar macht. – Dabei darf man davon ausgehen, dass gerade beim Blut aus der Brustnarbe body-make-up und/oder Pixel als Daten am Werk sind/waren.


Verwundet wird in Skyfall das postmoderne Headquarter des MI6 am Ufer der Themse (oder so) durch Cyberterroristen. Auf dem Laptop im Jaguar – wie Land Rover aus dem indischen Tata-Automobil-Konzern – wird M quasi in Echtzeit Zeugin des Angriffs auf ihren Arbeitsplatz. Das Hauptquartier, der Kopf – und das ist dann schon äußerst bemerkenswert – wird bunkerartig unter die Erde in eine Industriekathedrale des glorreichen 19. Jahrhunderts verlegt. Das darf man wohl deutlich als Regression verstehen. Die repräsentative Verwundung des MI6 Headquarters als Teil des Staatskörpers durch Cyberterroristen führt zur Regression in einen industriellen Raum des 19. Jahrhunderts. Dies, wie überhaupt eine Regression durch eine oder mehrere Verwundungen ausgelöst werden kann, wird in Skyfall ein Hauptmotiv sein.


Die Regression ist nicht zuletzt eine narrative Strategie, die Tiefe generiert. Der äußere Terrorangriff wird nicht nur an M und 007 als persönlicher, innerer Angriff vorgeführt. Vielmehr setzt sich die narrative Regression in Skyfall auch auf einer psycho-logischen Ebene durch, wenn M von 007 und seinem Gegenspieler zur Mutter heruntergebrochen und gleichzeitig zur Übermutter stilisiert wird. Denn - so die narrative Erklärung – 007 und Raoul Silva sind beides Agenten, Söhne, Opfer von M. Raoul Silva war einst ein Agent seiner Majestät, den M aus politischem Kalkül fallen lassen musste. Weil Silva Ms strategische Handlungsweise allerdings mit der Liebe einer Mutter und damit als mütterlichen Liebesentzug verwechselt, muss und will er sich nunmehr an ihr persönlich rächen.


Aber was erzählt wird, ist längst nicht die Angst, um die es geht. Es ist eine Reaktion auf die Ängste und Wunden.[1] Trotzdem ist es lohnenswert, die Reaktion auf andere Ängste, gerade an der Konstellation von  007, Silva und M einmal genauer zu besprechen. Es geht nämlich um Liebe und um Identität. Die Szene zwischen Silva und 007 in den Trümmern der Geisterstadtlandschaft von Hashima oder Battleship Island wird bestimmt in die Geschichtsschreibung von James Bond eingehen. Sie ist queer.


James Bond war bisher straight, also heterosexuell. Das war (!) ein ungeschriebenes Bond-Gesetz und wesentlicher Bestandteil der Bond-Identität. Im Hauptquartier von Silva, das eine alternative, computerterroristische Schaltzentrale ist, macht dieser ihm nun sexuelle Angebote. Dabei streichelt er Bond erst am Kopf, auf der Brust und dann unmissverständlich auf den Oberschenkeln. Schlagfertig auf das Angebot, dass immer irgendwann the first time sein könne, entgegnet Bond/Daniel Craig mit einer vielsagenden Frage: first time?  


In der fünfzigjährigen Geschichte des James Bond war bisher kein anderes Erstes Mal aufgefallen. Die narzisstische Logik der Agenten/Söhne von M erlaubt allerdings eine zumindest homoerotische Anspielung. Die Bond-Identität, die mit Daniel Craig als Bond mehr einem domestizierten british lad mit Arbeiterhintergrund, denn einem Gentleman entspricht, wird nicht queer oder in Frage gestellt. Vielmehr gehört es heute zum notwendigen, sexuellen Erfahrungsschatz auch solche gemacht zu haben. – Für Daniel Craig als Schauspieler - und mit diesen Ebenen spielt natürlich ein guter Bond-Film-Regisseur wie Sam Mendes – wäre es nach dem Film Love Is The Devil: Study for a portrait of Francis Bacon (1998) von John Maybury tatsächlich nicht das erste Mal. Dort war er als George Dyer der Liebhaber von Francis Bacon.


Die Inszenierung von Technik und Headquarters insbesondere der Bösewichte hat in den James-Bond-Verfilmungen immer eine große Rolle gespielt. Ganze Raketenbasen wurden in Vulkankratern unter die Erde verlegt. Oder das Hauptquartier des Bösewichts wurde zu einem Moving Target in einem U-Boot. Stets war es der Ort, von dem der Schrecken ausging. Da die Technik des Hauptquartiers auch ein Ort des ergaunerten Reichtums und der Macht war, beanspruchte er edles Design. Vielleicht nicht zum ersten Mal, aber ganz sicher auf besonders augenfällige Weise unterscheiden sich die Geisterstadt Hashima und die zur Schau gestellte Technik davon. Statt aus Oberflächen-Design besteht der Serverraum aus einem geradezu provisorischen Drahtgestell mit Kabelgewirr.


Natürlich hat Raoul Silva — ein entfernter und dann doch nicht allzu entfernter Verwandter von Julian Assange und seinem Wikileaks (siehe Leck als Versprechen) - auf Hashima selbst Zugriff auf die „wahren“ Testergebnisse des re-aktivierten 007. Der Schrecken in Skyfall zeigt sich als ein Ort des ungehinderten und uneingeschränkten Zugriffs auf „wahre“ Daten. Macht bedeutet total access — und keinesfalls mehr totalen Exzess. Der Exzess, vor dem es sich zu fürchten gilt, besteht im total access, ohne dass er zunächst bemerkt würde. Einige Einstellungen später erfährt dieser total access eine eher nur angedeutete Visualisierung, die manchem Kinobesucher entgehen mag.


Der Körper des Bösewichts Silva (deutsch: Wald) ist auf monströse Weise selbst ein Wrack. Das führt Raoul Silva in seiner Hochsicherheitszelle im MI6-Bunker M mit einem satanischen Vergnügen vor. Entscheidend ist bei dieser Vorstellung eine gewisse diskrete, durch schnellen Schnitt fast verborgene Sichtbarkeit, des Wracks. Um M ihre Schuld vorzuführen, bricht Silva sich sozusagen sein (künstliches) Gebiss aus dem Mund, dabei verrutscht für Sekundenbruchteile, das ganze Gesicht und vor allem das linke Auge. Der so diskret visualisierte Moment der schrecklichen Wahrheit, schlägt allerdings noch was ganz anderes vor.


In Korrespondenz mit dem visualisierten Computerprogramm im MI6-Headquarter wird nämlich vorgeschlagen oder angedeutet, dass Silva entweder nicht mehr ganz Mensch ist oder sich bereits durch seinen (bösen) Willen in merkwürdiger Verschaltung mit dem Computerprogramm befindet. Er vermag es nämlich, über die Computersteuerung die Türen des Hochsicherheitsgebäudes zur Flucht zu öffnen. Was als Frage und Schrecken hier imaginiert wird, ist eine sehr alte der Moderne und exemplarisch neue zugleich. Sie lautet Mensch oder Maschine bzw. Mensch oder Software? Eindeutig bedrohen hier Maschine und/oder Software den Menschen. Deshalb ist die psychologisch garnierte Flucht nach Skyfall in den Highlands aus den Ängsten, von denen der Film erzählt, logisch. Sie ist weniger timor- als vielmehr angor-logisch.


Was, wenn der Mensch nur eine Maschine wird oder sein könnte? — Was hier als Schrecken inszeniert wird, gehört zu den Grund- und Gründungsfragen der europäischen Aufklärung. Der Mensch als Maschine war nämlich mit einer großen Geste der Befreiung verknüpft, wie es nicht zuletzt die Züricher Professorin für Philosophie Ursula Pia Jauch mit ihren Arbeiten zum französischen Philosophen Julien Offray de La Mettrie wiederholt gezeigt hat. La Mettrie wurde von Friedrich II. zum Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften berufen und lieferte diesem mit der zunächst 1748 anonym veröffentlichten Schrift L'Homme Machine eine moderne Philosophie der Lust. Sie kursierte nach Jauch so erfolgreich in den Kreisen der Aufklärer, dass sie selbst noch Immanuel Kant beeinflusste. Diesen Bogen muss man unbedingt bei der apokalyptischen Geste von Skyfall schlagen.

Die Geste der Befreiung durch L'Homme Machine sollte nicht vorschnell vergessen werden, wenn sich Skyfall als Problem- oder Angstbewältigungsmodell anbietet. Die Flucht nach Skyfall, der Ort frühkindlicher Ängste und apokalyptischer Schauplatz gleichzeitig wird, ist zutiefst mit einer Angst vor der Subjektlosigkeit verknüpft, die sich in einem quasi allmächtigen und wild gewordenen Computerprogramm abspielt. Weder hat ein maschinelles Computerprogramm ein Subjekt, noch agiert es als solches. Es sei denn, es wird als das Böse imaginiert. Deshalb aber ist die sogenannte „Küchenpsychologie“ als imaginärer Raum für den Film Skyfall so wichtig. M bastelt dann sogar in der Küche mit Scherben, Nägeln und Schrauben die furchtbarsten aller Kriegswaffen: Splitter- oder Streubomben.


Man muss noch eine andere Sequenz für die Frage nach den (aktuellen) Ängsten hinzuziehen, um die Absurdität der Feind- und Angstabwehr mit von M(uttern) am Küchentisch gebastelten Splitterbomben einschätzen zu können. Es ist die Sequenz, in der Silvas Killer in Shanghai zum Einsatz kommt. Das Setting ist allerdings nicht nur für den Mord wichtig, sondern für die Frage nach Datenströmen, Wissen, Bildern, Innen und Außen. Der imaginäre Ort, eine leerstehende Büroetage oder so, von dem der Mord ausgeht, wird nämlich durch ein besondere Bildüberschneidung von Datenströmen und faszinierend, schwebender Qualle oder besser Medusa Jellyfish im Englischen inszeniert.


Medusa als hoch aufgelöstes Bild von Natur – Qualle - und Mythologie – Meeresgottheit -, geht aus den Datententakeln von „blue ...ic communications“ hervor. Dieses faszinierend schöne Schreckensbild, das gleichzeitig einem luxuriösen Lounge-Video und einem Bildschirmschoner auf einer ultrahoch auflösenden Screen alle Ehre macht, zeichnet sich im Film durch viele schnelle Schnitte, Spiegeleffekte und eine Ortlosigkeit aus. Wo ist das Bild? Auf der Glasscheibe? Auf der gegenüberliegenden Fassade? Vor oder hinter James Bond? Außen oder Innen? Gerade dadurch, dass die schwebende Meduse so sehr zu faszinieren vermag, dass fast schon die Schussvorbereitungen des Killers vergessen könnte, wird sie zum Bild für Skyfall, das (nicht) gezeigt wird.

Der entscheidende Schnitt und Schritt in dieser Sequenz führt nicht nur in einen tödlichen Abgrund, sondern macht die Unterscheidung zwischen visualisierten Daten und Natur unmöglich. Was im Imaginären beschworen wirdFamilie, Psychologie, Emotionen, Identität, Staat, Nation, Haltung, Heimat -, findet im Bild von Datenströmen, die visuell mit den unzähligen Tentakeln der Meduse korrespondieren, seinen Gegenpart. Das fast Nichts des Jellyfish oder der Qualle, die zu 98 bis 99 Prozent aus Wasser besteht, bedroht in der Verschneidung mit „blue ...ic communications“ nicht nur M und 007, sondern die Menschheit und insbesondere, nomen est omen, the stiff upper lip.

Dass in Skyfall, wo Wasser in mindestens zwei Szenen eine lebensgefährliche wie Leben spendende Rolle spielt, mit der Frage nach Mensch oder Maschine vor allem die Angst vor einem Nichts inszeniert wird, macht die fluchtartige Regression ins 19. Jahrhundert deutlich. Dazu passt auch die wunderbare Szene in der National Gallery, in der James Bond vor dem Ölgemälde The Fighting Temeraire tugged to her last Berth to be broken up, 1838 von William Turner under cover sitzt. Q (Ben Whishaw), der junge Computerspezialist, Nerd, fragt ihn, was er sieht. James Bonds Antwort: „A very big ship.“ – Das ist höchst mehrdeutig. Denn einerseits wird die große, stolze Temeraire, die von Turner nur noch als Schatten gemalt wurde, zum Abwracken geschleppt, andererseits ist es eben der kleinere, aber farblich weit präsentere Schlepper als Bote des Industriezeitalters, der bigger als die HMS Temeraire erscheint. Welches ist das „very big ship“?


In der Anhörung des Untersuchungsausschusses spricht M davon, dass die Gefahr heute nicht mehr von Staaten, sondern „individuals“ also Individuen und den „shadows“ also Schatten ausgeht. Schatten sind vieldeutig. Sind Individuen nur Schatten? Einerseits ist eine Frau ohne Schatten[2] mythologisch eine Frau ohne Kind oder Kinder, was eben auf M zutreffen dürfte und zugleich nicht. Denn ihre Agenten sind zumindest schattenhafte Söhne. Schatten haben in der Literatur seit je große Beachtung gefunden. Jüngst verdanken wir David Hockney den Hinweis, dass Schatten in der Malerei vor allem eine europäische Invention sind: „Außerhalb der europäischen Kunst gibt es kaum Schatten. Die Chinesen, Japaner, Perser, Inder? Keine Schatten.“[3]  


Der Verlust des Schattens oder eine Aufspaltung zwischen Ich und Schatten wie in Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls sonderbare Geschichte (1813) oder bei E. T. A. Hoffmann in Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde winken aus der Romantik des 19. Jahrhunderts herüber. Es sind frühe Krisen der Frage nach dem Subjekt, dem Ich. Vampire gar zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine Schatten werfen. Wenn also die Schatten von M beschworen werden, dann wird ein zumindest vieldeutiges, seit Platons Höhlengleichnis westliches, eurozentrisches Narrativ als Bedrohungspotential aktiviert. Doch M muss in Skyfall in der Umkehrung einer Pieta auch in den Armen von James Bond sterben.


Es ist allerdings vor allem daran zu erinnern, dass sich Schatten nicht fassen lassen, was ihre eigentliche Bedrohlichkeit ausmacht. Deshalb entziehen sich die Schatten der Computerbilder und Datenströme einer Kontrolle und staatlichen Hoheit, die von M repräsentiert wird. An die Stelle der Bedrohung durch unterschiedliche Ideologien, in denen James Bond und der MI6 quasi ihren Ursprung haben — 1962! —, sind nun postideologische Datenspeicher und –ströme getreten, die weitaus schwieriger zu kontrollieren sind. 

Und letztlich ist der Film nicht nur eine Kunst des Lichts, sondern vor allem eine der Schatten.

Torsten Flüh

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[1] Vgl. zur Angst auch die „Maschine der Angst“ in Hardcore Schnitt für Schnitt Gespräche der Karmelitinnen von Francis Poulenc

[2] Vgl. Frau ohne Schatten von Richard Strauss (Musik) und Hugo von Hoffmansthal (Text) von 1919.

 


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