Bier und Fotoagentur als Industriekultur - Zum Berlin-Brandenburgischen Preis für Wirtschaftsgeschichte 2017

Industrie – Bier – Wissen   

 

Bier und Fotoagentur als Industriekultur 

Zum Berlin-Brandenburgischen Preis für Wirtschaftsgeschichte 2017 und OTTOBOCK auf Bötzow 

 

Klaus Wowereit, ehemaliger Erster Bürgermeister, engagiert sich für die Archivierung und Erforschung der Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsgeschichte. Im Kleinen Vortragssaal des Ludwig-Erhard-Hauses der Industrie- und Handelskammer (IHK) in der Fasanenstraße 85 sprach er vor Mitgliedern des Vereins für die Geschichte Berlins e.V. und Unternehmern ein Grußwort zur Preisverleihung 2017 an Anna Rosemann.  Anna Rosemann hat in ihrer Masterarbeit an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) die Geschichte der Fotoagentur Zander & Labisch (1895-1939) erforscht. An der Fotoagentur im Berliner Zeitungsviertel überschneiden sich Unternehmens-, Wissens- und Kulturgeschichte. Zander & Labisch war die erste Fotoagentur, die die Fotos, das Bildmaterial, an Zeitungen und Illustrierten organisierte und verkaufte.

 

Beim anschließenden Industriekulturabend stellte Prof. Hans Georg Näder sein ambitioniertes Unternehmensprojekt OTTOBOCK auf Bötzow vor. Herr Näder hat mit seinem auf dem Weltmarkt führenden Medizintechnikunternehmen in Familienbesitz das Areal der ehemaligen Bötzow Brauerei an der Prenzlauer Allee Ecke Saarbrücker Straße erworben, um neben einem FABLAB die Unternehmensbereiche Finance, Compliance, Digital Marketing und Corporate Communications auf dem Gelände anzusiedeln. Für die denkmalgerechte Gestaltung der ehemals größten Privatbrauerei in Berlin, die bis 1949 existierte, für die Verwandlung der Industrieareals 1.0 in den Kreativ- und Industriestandort 2.0 hat Hans Georg Näder David Chipperfield Architects engagiert. „Was reizt an den Zeugen der Industrialisierung?“ Zum anschließenden Empfang gab es Heimatliebe, ein Crafts Beer aus Duderstadt mit Berliner Bötzow-Logo und -Story.

 

Berlins Industriegeschichte ging 1945 weitestgehend unter. AEG, Siemens und Bötzowbrauerei etc. waren zerstört oder wurden durch die politische Insellage Berlins massiv eingeschränkt. Wie werden Industrie- und Wirtschaftsgeschichte erzählt? Wofür könnten Industrie- und Wirtschaftsgeschichten gut sein? Forscht man beispielsweise zum Beginn der Industrialisierung in Berlin im später sogenannten Feuerland vor dem Oranienburger Tor, dann fällt sehr schnell auf, dass wenig schriftliche Quellen überliefert sind. Es ist so, als wolle die Industrialisierung von sich selbst nichts preisgeben, erzählen und überliefern.[1] So ist beispielsweise von der Entwicklung und Geschichte der Firma Borsig und ihres Gründers August Borsig im Landesarchiv ein wenig aufschlussreiches Konvolut erhalten. Es sind späte Akten und Geschäftsbriefe, die über die Anfänge kaum Aufschluss geben. Lediglich eine Art Flugblatt, das August Borsig quasi als Sprecher der Eisengießer und Maschinenbauer auf der Chausseestraße 1848 hat drucken lassen, gibt kleine Hinweise auf industriekulturelle Umbrüche.

 

Der Verein für die Geschichte Berlins e.V. stößt 1865 als erster Geschichtsverein in Deutschland allererst eine Geschichtserzählung an. Sie beginnt im Moment des Verschwindens von historischen Zeugnissen durch Bauprojekte in der Stadt. So ist es denn auch erst 1880 Hermann Vogt, der im Verein für die Geschichte Berlins einen folgenreichen Vortrag mit dem Titel August Borsig. Ein Lebensbild hält. Borsig war bereits 1854 verstorben.[2] Schon in der Eröffnungssequenz dieses „Lebensbild(es)“ wird die literarische Erzählweise in einer verfehlenden Überpointierung des Namens Borsig deutlich. Die „Berliner Industrie“ tritt als Landschaftsbild in den Blick des Vortragenden. 

Wer von einem hochgelegenen Punkte in oder bei Berlin einen Blick auf die Stadt wirft, der bemerkt unter dem Walde von Schornsteinen, welcher sich im Nordwesten über dem Häusermeer der Stadt erhebt, ein Exemplar von außergewöhnlicher Gestalt. Einem riesigen Candelaber gleich, unterbricht er das gleichförmige Bild der übrigen Essen. 

Unwillkürlich fragt der Fremde nach der Bedeutung dieses eigenthümlichen Schornsteins, und ganz sicher antwortet der heimische Führer mit einigem Selbstbewußtsein: „Das ist der Schornstein der Borsigschen Fabrik!“[3]  

 
Stammsitz der Eisengießerei und Maschinenbauanstalt von August Borsig mit Wasserturm, Chausseestraße 1 ca. 1870

Die „Bedeutung dieses eigenthümlichen Schornsteins“ wird es kaum gewesen sein, die Eisengießerei und Maschinenbauanstalt von August Borsig auf der Chausseestraße zu bezeichnen. Welche Bedeutung hat also der Schornstein? Es lässt sich nicht genau recherchieren, welcher Schornstein gemeint sein könnte. Ob der Wasserturm auf dem Gründungsgelände in der Chausseestraße 1 in den späten 1870er Jahren noch stand oder der Schornstein auf dem späteren Gelände in Moabit, den Albert F. Schwartz 1870 fotografiert hatte, gemeint ist, lässt sich nicht genau bestimmen. Die „Bedeutung“ des Schornsteins besteht denn auch für Hermann Vogt nicht in seiner industriellen Funktion, sondern darin, dass er August Borsig als „Mann … in hervorragender Linie zu … „berühmten Männern““ ins Gespräch bringt, 

ist er doch derjenige gewesen, welcher die Anregung zur Selbstständigkeit deutscher Industrie gegeben, und dadurch die Metropole der Intelligenz zu einer Metropole der Industrie erhoben hat. 

Seinem Vorbilde folgte die Masse der Industriellen – Wöhlert und Andere gingen unmittelbar aus seiner Fabrik hervor, - die Anzahl der verschiedenen Firmen wuchs mit der Größe seiner Unternehmungen. Er aber blieb immer der Mittelpunkt, er blieb die Seele aller Unternehmen – Borsig war der König der Industrie.[4] 

 
Eisenwalzwerk von August Borsig in Moabit neben der Unternehmervilla ca. 1870

Die Eröffnungssequenz des „Lebendsbild(es)“ situiert sich in einem Narrativ vom berühmten oder großen Mann, das sich im 19. Jahrhundert als Wahrnehmungsweise, quasi im Anschluss an Militär- und Heldenerzählungen herausbildet, das eine Reihe von Normierungen und Normalisierungen bewirkt und fast schematisch auf August Borsig angewendet wird. Industrie- und Wirtschaftsgeschichte wird erzählt als eine der „berühmten Männer“. Das formuliert Hermann Vogt mit deutlicher Verspätung und einer gewissen Selbstverständlichkeit, mit der der Mann, der so gut wie keine Schriftstücke und autobiographischen Aufzeichnungen hinterlassen hat, zum „König der Industrie“ gemacht wird. Ein „König der Industrie“ weiß alles und regelt alles, wird gar zum „Vorbilde“ für die anderen Eisengießer und Maschinenbauer auf der Chausseestraße und in ganz Berlin, sogar ganz Deutschland. Obwohl August Borsig, der als Zimmermann nach Berlin gekommen war, bereits mit 50 Jahren gestorben war, wird er zur „Seele aller Unternehmen“.

 

Wie lässt sich Industriegeschichte erzählen? Vogts Lebensbild wird 1953 mit dem Lokomotivkönig August Borsig zum Roman bzw. „Lebensroman“ umgeschrieben.[5] Fritz Pachtner hat in seinem „Lebensroman eines deutschen Industriegründers“ 1953 einführend angemerkt, dass – man denke an den „eigenthümlichen Schornstein“ – „viel über die Maschinen, die Lokomotiven, die Fabriken, über die ragenden, sichtbaren Leistungen dieses Mannes geschrieben wurde, wenig jedoch über den Menschen und das innere Regen seiner Seele selbst“. Borsig verschwindet hinter seinem Werk. Doch Pachtner erzählt nun eine Geschichte Borsigs an „einer einzigen geraden Linie entlang“. Denn Borsig „hat nichts über sich selbst, über sein Leben Werk geschrieben. Er lebte dieses Leben, er schrieb es nicht“.[6] Wie mit Borsigs „Leben“ so geht es mit der Industrie und Wirtschaft, sie schreiben wenig oder gar nicht. Das Fehlende einer „Seele“ wird indessen zur Bedingung des Romans und der Geschichte. Umso wichtiger ist deshalb das Berlin-Brandenburgische Wirtschaftsarchiv, kurz BBWA, das 2004 gegründet wurde.

 

Anna Rosemann hat nun für ihre Masterarbeit „Zander & Labisch (1895-1939) – Eine Fotoagentur zwischen Moderneentwicklung und NS-Kulturpolitik“ den vom BBWA gestifteten Preis für Berlin-Brandenburgische Wirtschaftsgeschichte erhalten, der mit 500 € nicht sonderlich hoch dotiert ist, der jungen Forscherin indessen eine Veröffentlichung ihrer Masterarbeit als Buch erlauben wird. Klaus Wowereit plädierte in seinem Grußwort dafür, dass das Preisgeld erhöht wird. Prof. Dr. Dorothee Haffner (HTW Berlin) hielt die Laudatio. Anna Rosemann hat mit ihrer Arbeit vor allem Quellenforschung betrieben und „die Geschichte der ersten Agentur für Pressefotografie in Berlin“ aufgeschrieben. „Sie zeichnet deren Entwicklung von der Gründung 1895 bis zu ihrer Zwangsauflösung 1939 – die Inhaber waren jüdischer Herkunft – nach und berücksichtigt dabei insbesondere fotografische und wirtschaftliche Gesichtspunkte. Die Firma porträtierte u. a. Theodor Fontane, Gerhart Hauptmann, Bertolt Brecht, Max Schmeling und Rudolph Virchow.“[7] Man darf auf das Erscheinen der Arbeit gespannt sein und hoffen, dass sie auch einen Einblick in das Bildarchiv der Agentur bietet.

 

Der Unternehmer und „Firmenlenker“[8] Prof. Hans Georg Näder stellte im Anschluss an die Preisverleihung den Masterplan 2020 für das Areal der ehemaligen Bötzow Brauerei an der Prenzlauer Allee vor. Geschichte wird nun zur DNA. „Die Archivierung der DNA“ ist Näder als Kombination aus Geschichte und Innovation wichtig.[9] Hans Georg Näder ist der Enkel von Otto Bock, der 1919 in Berlin-Kreuzberg ein Unternehmen für Prothesen gründete. Nach dem 2. Weltkrieg lag der Firmensitz in Sowjetischen Sektor bzw. Ostteil der Stadt, so dass die Eltern von Herrn Näder den Firmensitz ins katholisch geprägte Eichsfeld nach Duderstadt in Niedersachsen verlegen mussten. Die Unternehmen der Ottobock Gruppe haben 2015 einen Umsatz von 1,031 Milliarden Euro gemacht, Ottobock HealthCare 847,7 Millionen. 56 Millionen Euro investiert das Unternehmen in Forschung und Entwicklung im Bereich der Medizintechnik. Medizintechnik sind heute nicht nur mechanische Prothesen und Rollstühle. Vielmehr hat Hans Georg Näder in Göttingen eine private Hochschule für Orthobionik gegründet.[10]     

 

Ottobock ist in Berlin bereits seit 2009 mit dem Science Center vom Berliner Architekturbüro Gnädinger an der Ebertstraße unweit des Potsdamer Platzes vertreten.[11] Nicht nur DNA, Geschichte und Innovation, vielmehr Kombination und Design machen das Unternehmen in Berlin präsent und attraktiv. 2015 wurde am Rande des Brauereigeländes die „Tech-Garage auf Bötzow“ eröffnet. Die Tech-Garage ist sozusagen eine Kombination aus den Wissensformen des Silicon Valley und der Urbanität Berlins. Gleichzeitig knüpft die Tech-Garage vom Namen her an den Gründungsmythos von Microsoft durch Bill Gates in der Garage an. In der Eigendarstellung heißt es bei Ottobock: 

Inmitten Berlins den Spirit von Silicon Valley erlebbar zu machen: Mit diesem Ziel haben das Medizintechnik-Unternehmen Ottobock und das auf Rapid Prototyping spezialisierte Fab Lab Berlin am Mittwoch, 27. Mai 2015 den Open Innovation Space, eine Tech-Garage auf dem Areal der ehemaligen Bötzow-Brauerei, eröffnet.[12]

Näder hat, wie er frei erzählte, das Areal nach einem Abend im Soho House für sich entdeckt. Er versteht sich nicht als Investor, sondern als Unternehmer, dem Nachhaltigkeit wichtig ist. Investoren kaufen und bauen, um zu verkaufen. Doch Näder hat eine wahre Leidenschaft für die Architektur und Geschichte der Bötzow Brauerei entwickelt. Und mit David Chipperfield Architects hat er einen Architekten engagiert, der bereits 2009 mit dem Neuen Museum[13] sein restauratorisch innovatives Meisterwerk abgelegt und 2014 mit der Installation in der Neuen Nationalgalerie[14] die Architektur ganz anders sichtbar gemacht hat. Das Gelände ist wegen umfangreicher Bauarbeiten aus sicherheitstechnischen Gründen zur Zeit nicht zu besuchen. Doch Näder setzt auf eine hochwertige, historische Aufarbeitung, so dass sich dann sogar der zur Zeit verwilderte Gedenkfindling für Karl Liebknecht aus DDR-Zeiten erklärt. 1919 hatten „Liebknecht & Co. ihren Revolutionsausschuss“ im Biergarten der Bötzow Brauerei gegründet.[15]

  

Das Bier, einst ein Gebräu der Klöster, ist unauflösbar mit der Industrialisierung nicht nur Berlins verknüpft, weil die Dampfbierbrauerei zu den ersten Anwendungsbereichen der Dampfmaschinen gehörte. Die Industrialisierung erlaubte es mit Dampfmaschinen schneller und größere Mengen an Bier billig zu brauen.[16] Adam Kasperowski veröffentlicht schon 1834 in Lemberg ein Buch über „die Kunst mittelst Dampf Bier zu brauen ohne zu schmelzen: mit einem Feuerbedarf von nur zwey Stunden zu einem Gebräude und von nur fünf Stunden zu dessen Vollendung“.[17] Bier wird billig, gilt als nahrhaft und gesund. Statt Trinkwasser empfiehlt sich Bier. Doch Bier bleibt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verderblich. Es wird in Kannen direkt von der Brauerei abgeholt oder gleich vor Ort im Lokal oder Biergarten getrunken. Wo sich Industrie entwickelt wie auf der Chausseestraße, entstehen Gartenlokale und kleine Brauereien auf dem freien Gelände vor der letzten Berliner Stadtmauer.  

 

In den 1860er Jahren, der sogenannten Gründerzeit und eigentlich schon zweiten Phase der industriellen Gründungen gewinnt die Dampfbierbrauerei an Dynamik und Größe wie bei Julius Bötzow zunächst an der Alten Schönhauser Allee. Erst als der Kleinunternehmer Ignatz Nacher die kleinere Berliner Engelhardt Brauerei in der Chausseestraße 33 1901 übernimmt, ändert sich das. „Mit Hilfe der Pasteurisierung wird es möglich, ein keimfreies, genußreifes und haltbares Getränk in Flaschen gefüllt auf den Markt zu bringen“.[18] Das ist die Geburtsstunde des Flaschenbiers. 1903 wird „eine zweite, größere Braustätte, die ehemalige Jostybrauerei in der Bergstraße 22, in Betrieb genommen“. Die Engelhardt Brauerei AG wird unter der Leitung von Ignatz Nacher zum internationalen Marktführer. Ständig werden neue Brauereien akquiriert. 1926 wird der berühmte Flaschenturm in Stralau gebaut. Täglich werden etwa 300.000 Flaschen dort abgefüllt. 1929 überschreitet der „Gesamtausstoß … 1,3 Millionen hl“.[19] Ab 1933 wird Ignatz Nacher von den Berliner Nationalsozialisten gezwungen, als Vorstandsvorsitzender zurückzutreten. Dass der größte deutsche Bierkonzern von einem Juden aufgebaut und geleitet wird, schürt den rassistischen Hass der Nationalsozialisten. Er wird wiederholt drangsaliert, inhaftiert und schikaniert, bis er unter Verlust seines Vermögens 1937 in die Schweiz emigriert und 1939 verarmt dort stirbt.

 

Das Neuartige an der industriellen Erfolgsgeschichte der Engelhardt Brauerei ist die Pasteurisierung des Biers, das zunächst ein Malzbier ist. Doch Ignatz Nacher ist kein Brauer. Wie mit dem Beginn der Dampfbierbrauerei zeichnet sich die Industrialisierung nicht durch Handwerks-, also Braukunst, sondern durch die Kombination von Wissensbereichen aus. Berlin mit seinem frühindustriellen Gebiet Feuerland vor dem Oranienburger Tor entwickelte sich zur Industriemetropole nicht durch das Vorkommen von Eisenerz, sondern durch Wissenstransfer und Kombinatorik. Anton Egells auf der Chausseestraße lässt sich am 29. Juli 1834 bei der Technischen Deputation eine „Maschine zum Quetschen und Einmaischen von Ertoffeln zur Brandweinbrennerei“ patentieren.[20] So ließ der Dampfsägewerksbesitzer Arnheim 1852 ein Wohn- und Mietshaus in der Kastanienallee 77 in Prenzlauer Berg bauen. Denn auch Dampfsägen gehören zu den frühen Maschinen, die bei Egells gebaut wurden.

Die Kombinatorik der Dampfmaschine mit der Säge, mit dem Bierbrauen und die Pasteurisierung mit dem Bier sind die Erfolgsrezepte der Industrialisierung. Woher Ignatz Nacher den Anstoß bekam, das Bier zu pasteurisieren, wissen wir nicht. Derartige Momente werden selten erzählt. Immerhin lag die Engelhardt Brauerei nicht nur auf der sich schon vom Industriegebiet zur Geschäftsstraße wandelnden Chausseestraße, sondern auch unweit der Charité, wo die Diskussionen und Maßnahmen zur Hygiene aufblühten. Dass Nacher kein Brauer wie Bötzow war, wird möglicherweise für den wegweisenden Einsatz des Verfahrens hilfreich gewesen sein. So wurde bei Ignatz Nacher in Berlin als erster Brauerei das Flaschenbier eingesetzt. Durch die Winterhuder Bierbrauerei A.G. in Hamburg werden seit 1924 die „Exportinteressen des Konzerns“ wahrgenommen.[21] Anders gesagt: Ein Export-Bier heißt nicht so, weil es so gut schmeckt, sondern weil es sich in Flaschen und Fässern allererst in alle Welt exportieren lässt.

 

Die Erzählung von den „großen Männern“ kommt letztlich aus der Frühmoderne des 18. Jahrhunderts, als Voltaire Friedrich II. die Größe als Beinamen gibt. Im 19. Jahrhundert wird der große und/oder berühmte Mann angerufen und adaptiert, als die Geschichte und die „Seele“ in der zunehmenden Beschleunigung verlorengehen und die Wirtschaftsprozesse nicht zuletzt durch Finanzkrisen wie Börsencrashs immer undurchsichtiger und weniger beherrschbar werden. Kaum sind die Maschinenbauer aus der Chausseestraße abgewandert, wird 1883 auf dem Hinterhof der Schlegelstraße 26 die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität gegründet, die wenig später zur Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft, AEG umfirmiert wird, so dass 1913 auf der Chausseestraße die AG für Automobilunternehmen ein Wohn- und Geschäftshaus mit einer Hochgarage auf dem Hof baut, welche wiederum mit der AEG und dem Automobilhersteller NAG verknüpft ist. Einmal abgesehen davon, dass die Chausseestraße um 1900 zur Verlängerung der Friedrichstraße wird, um sich bald bis in die Müllerstraße im Wedding fortzuentwickeln und natürlich überall in Berlin um 1900 rasante Entwicklungen stattfinden, lässt sich nirgends sonst die Geschichte der Industrialisierung mit ihren Brüchen und Überschreibungen erzählen wie hier. Aber es sind eben nicht nur die „großen Männer“, vielleicht eher ein Milieu, ein Logotop, in dem jeder jedem über die Schulter schaut. 

 

Torsten Flüh 

 

Ottobock auf Bötzow

 

Berlin-Brandenburgisches Wirtschaftsarchiv e.V.

 

 

Zur Josty'schen und Bergbrauerei sowie Ignatz Nacher in Feuerland siehe auch:

Torsten Flüh

Preussens Feuerland (G-M)
Kindle Edition

1,38 €

 

 

Führungen zur Industriekultur

Feuerland in Berlin

mit Torsten Flüh 

____________________________________    



[1] Vgl. auch Torsten Flüh: Ein Bärendienst. Zur 150-Jahrfeier des Vereins für die Geschichte Berlins e.V., Heinrich Heines Briefe aus Berlin und Berliner Fotografenateliers des 19. Jahrhundert. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Februar 2015 16:58.

[2] Hermann Vogt: August Borsig. Ein Lebensbild. (Vortrag gehalten im Verein für die Geschichte Berlins) Berlin: Otto Drewitz, 1880. (Digitalisat Zentral- und Landesbibliothek Berlin)

[3] Ebenda S. 1.

[4] Ebenda S. 1-2.

[5] Fritz Pachtner: Lokomotivkönig August Borsig. Lebensroman eines deutschen Industriegründers. München: Goldmann, 1953. (Zuerst als:  Fritz Pachtner: August Borsig. Zeit, Leben und Werk eines deutschen Industriegründers, Bernhard Sporn Verlag, Zeulenroda 1943.)

[6] Ebenda: Einführung. S. 5.

[7] Berlin-Brandenburgisches Wirtschaftsarchiv e.V.: Klaus Wowereit übergibt den Preis für Berlin-Brandenburgische Wirtschaftsgeschichte. (ohne Datum, BBWA)

[8] Ottobock: Ottobock auf Bötzow Berlin. Symbiose aus Tradition und Innovation. Berlin o.J. S. 1.

[9] Hans Georg Näder: Die Archivierung der DNA. In: Bötzow Berlin, Belin, April 2013.

[11] Ottobock Science Center.

[12] Ottobock Tech-Garage.

[13] Vgl. Torsten Flüh: Res Erben. Das wiedereröffnete Neue Museum definiert Museum neu. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Oktober 2009 16:51.

[14] Siehe: Torsten Flüh: Von der Leere und der Fülle des Raumes. David Chipperfields Intervention Sticks and Stones in der Neuen Nationalgalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. Oktober 2014.

[15] Bötzow Berlin: Geschichte.

[16] Vgl. auch Die deutschen Brauer: Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert ermöglicht eine effizientere Produktion. In: Deutscher Brauer-Bund e. V.

[17] Adam Kasperowski: Die Dampfbierbräuerey oder die Kunst mittelst Dampf Bier zu brauen ohne zu schmelzen: mit einem Feuerbedarf von nur zwey Stunden zu einem Gebräude und von nur fünf Stunden zu dessen Vollendung. Lemberg: Piller, 1834.

[18] Leonhardt Hermann: Die Brauereibilanz – gebündelt und geröntgt. Berlin: Brückenverlag, 1934, S. 139.

[19] Ebenda.

[20] Beschreibung der dem F.A. Egells patentierten Maschine zur Aufbereitung von Kartoffeln für die Schnapsbrennerei. (Transkription) 

[21] Leonhardt Hermann: Die … [wie Anm. 18] S. 142. 


Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,
Categories: Kultur

0 Kommentare
Actions: E-mail | Permalink | Comment RSSRSS comment feed