Vom Wink des Lebens - Jean-Luc Nancy spricht in der Volksbühne mit Peter Engelmann über eine Erneuerung der Demokratie

Demokratie – Wink – Gemeinschaft 

 

Vom Wink des Lebens 

Jean-Luc Nancy spricht in der Volksbühne mit Peter Engelmann über eine Erneuerung der Demokratie 

 

Chris Dercon lässt es sich nicht nehmen, den „berühmten Philosophen“ Jean-Luc Nancy am Dienstagabend auf der Bühne im Großen Haus der Volksbühne anzumoderieren. Der neue Intendant der Volksbühne setzt mit seiner künstlerischen Leiterin Marietta Pieckenbrock auf Theater und Diskurs. Theater braucht heute Diskurs und nicht nur das name dropping der Schauspiel-, Tanz-, Performance-, Regie- oder Bühnenbildstars. Es geht um Politik- und Sinn-Fragen. Sabine Zielke betreut den diskursiven Literaturbereich. Sie ist seit 1988 in verschiedenen Funktionen an der Volksbühne. Der Saal ist mit ca. 300 Gästen gut besetzt. Junges und älteres Publikum. Volksbühnenpublikum. Szene. Der Komponist und Pianist Christoph Grund lässt sich ein Buch von Nancy signieren… Dercon gibt in seiner charmanten Anmoderation zum Passagen Verlag einen Wink zum Französischen passeur.

 

Der passeur Peter Engelmann schmuggelt mit Übersetzungen seit 1987 die französischen Philosophen um Jacques Derrida in den deutschen politischen wie philosophischen Diskurs. Ein passeur ermöglicht die Passage, die nicht zuletzt vage und mehrdeutig eine Übersetzung wäre. Jean-Luc Nancy ist mit Das Vergessen der Philosophie in der „Edition Passagen“ von Anfang an dabei. Denn der Philosoph, Herausgeber und Verleger Peter Engelmann hat sein „philosophisches Interesse immer“ als „politisch unterlegt“ verstanden.[1] Für ihn „knüpft (Jean-Luc Nancy) noch am stärksten an (Jacques Derridas) Denken der différance an, stellt aber seit jeher die Frage nach der Rückkehr zum Gemeinsamen, die politisch die Frage nach der Gemeinschaft ist und nach ihrem Verhältnis zum Einzelnen.“[2] Was hieß das am Dienstagabend?

 

Am Dienstagabend konnte das Publikum in der Volksbühne erleben, wie Jean-Luc Nancy live philosophiert. Philosophieren als Prozess und Politik. Jean-Luc Nancy formuliert Fragen zur Demokratie in einer Zeit, in der durch das technologische Antwort-Medium Internet per Klick permanent Antworten aufpoppen. Alexa, Cortana und Siri antworten immer. Manchmal witzig, meistens faktisch. Können jüngere Zuhörer*innen überhaupt noch Fragen aushalten, wenn sie an das positive Antworten gewohnt sind? Zur Demokratie kann man in diesen Tagen wissen, dass die AfD mit einfachen Antworten politisch an Einfluss weiterhin gewinnt. Die AfD ist – wie die FPÖ und die ÖVP in Österreich – der einfachen Antworten. Sie ist eine durch Wahlen demokratisch legitimierte Partei, während die SPD in ihrer Differenziert- und Zerrissenheit vielleicht die durchaus philosophischste Partei ist, worum sie sich nie wirklich bemüht hat.

 

Jean-Luc Nancy hat unter anderem die Technologie in seinem Gespräch mit Peter Engelmann in Anknüpfung an eine Lenin-Formulierung – „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“[3] – zur Sprache gebracht. Lenin verriet den Kommunismus mit dem technokratisch-technologischen Versprechen auch. Jean-Luc Nancy gebrauchte dieses Zitat ohne Nennung des genauen Datums. Im Internet findet man heute mühelos, das Datum vom „21. November 1920“ und seine Wiederholung am „20. Dezember 1920“ bei Wikiquote. Das leistet die Technologie als Wissensmaschine. Doch darum geht es Nancy gerade nicht. Vielmehr war es ihm wichtig, dass die „wirkliche Macht in dem technologischen Komplex“ der Sowjetmacht steckte. Der Kommunismus sei in der Sowjetunion „völlig aufgegangen in der Technik“.

 

Der technologisch, wirtschaftliche Sektor nimmt, dockt man an Nancys Frage nach der Demokratie an, nicht zuletzt mit dem Internet, mit Wikiquote und Twitter entscheidenden Einfluss auf die Praktiken der Demokratie. Insofern lässt sich sagen, dass paradoxer Weise Donald Trump ein vorbildlicher Leninist der Internetmacht ist. Nancy sagte all dies nicht, doch ermöglicht es sein Philosophieren, die Twittermacht Trumps im globalen Twittergewitter zu bedenken. Es geht nicht darum, klug oder eloquent zu sein oder ein profundes Wissen praktisch einzusetzen. Vielmehr führt Trump – mit vollem Doppelsinn - die Demokratie des Parlamentarismus vor, indem er per Twitter eine Wählerschaft generiert, die gleichzeitig die parlamentarische Demokratie abzuschaffen trachtet. Auf diese Weise suggerieren Trump, Kurz und Gauland, von Storch etc. eine Demokratie, die im höchsten Maße eine Technokratie – und zwar weit machtvoller und folgenreicher als die Brüsseler oder Straßburger – ist.

 

Nancys Philosophieren über „Demokratie“ und „Gemeinschaft“ setzt am Begriff an. Wenn wir von Demokratie oder Gemeinschaft sprechen, dann glauben wir immer schon zu wissen, wovon wir sprechen. Doch auch am Dienstagabend befragt er jeden einzelnen Begriff. Was heißt Demokratie? Was heißt Gemeinschaft? Er wünscht sich „Sinn ohne Begriffe“. Gerade jüngere Zuhörer*innen fühlen sich durch derartige Formulierungen teilweise belustigt. Doch die Konzentration bleibt hoch. Störungen aus dem Publikum, das sich teilweise Antworten mit Sinn wünscht, erfolgen nicht. Vielleicht gibt es gar für die Dauer der Veranstaltung etwas Gemeinsames. Das Gemeinsame ist indessen in sich flüchtig oder brüchig und eher vielartig. Doch die Demokratie ist in diesen Tagen ein Thema, das zumindest in Berlin an unterschiedlichen Orten immer wieder aufpoppt. Menschen wollen über Demokratie und Politik sprechen. Aber wie?

In der Parlamentarischen Gesellschaft kommt es am Mittwochabend völlig unabhängig vom philosophischen Gespräch in der Volksbühne bei einem Abendessen quasi über die Parteien hinweg zu einer Diskussion über Demokratie und Parlamentarismus. Unter den Diskutierenden im Neuen Salon auch Parlamentarier. Steht der Parlamentarismus in Frage oder die Demokratie? Der Sonderparteitag der SPD zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen führt zu einer erhitzten Debatte über Demokratie. Leicht verschwimmen die Grenzen zwischen den Begriffen Demokratie und Parlamentarismus. Ist die Krise der Demokratie eher eine des Parlamentarismus und der Parteiendemokratie? Wer soll Entscheidungen treffen? Muss es eine Parteidisziplin geben, wenn einmal gewählt worden ist? Oder sollen die Parteimitglieder nach der Wahl mitentscheiden dürfen? Die AfD – und das ist vielleicht genauer formuliert – imaginiert sich zunächst einmal als antiparlamentarisch-demokratische Bewegung. Doch wie könnte Demokratie ohne Parlamentarismus funktionieren?   

Jean-Luc Nancy spricht über Demokratie anders. Gegen ein Wissen, das über die Demokratie kursiert sagt er: „vielleicht ist die Demokratie etwas, das sich auflöst. Man weiß nicht, was das Volk ist. Wo ist das Volk? Es gibt eine Vielzahl von Völkern. Es gibt Leute, die das Einmalige des Volkes behaupten.“ Peter Engelmann fragt nach, ob er an etwas wie ein „Weltvolk“ denke. Die Antwort des Philosophen ist deutlich: „Es gibt kein Weltvolk. Volk verlangt eine gewisse Einigkeit.“ Während allenthalben der Positivismus als Praxis methodologisch als Big Data selbst in den Geisteswissenschaften wie der Literaturwissenschaft um sich greift, eine Bestätigung von positivem Wissen durch Erhebung und Auswertung großer Datenmengen gilt für Nancy philosophisch, was er bereits in Das Vergessen der Philosophie formulierte. – Es gibt in dem Buch auch eine Graphik mit einer Schreibgeste und dem gleichzeitigen Sprechen von zwei Personen.

 

 

Als Kritik des Strukturalismus sprach und schrieb er Mitte der 80er Jahre über dessen Positivität, dass es in der Philosophie nicht über die „positivistische Idee einer „Überwindung““ gehen dürfe. Die Frage danach wie sich „Sinn“ vermeiden lässt, spielt eine entscheidende Rolle. – Die Rückkehr des Konservativismus als gefährliche Farce bedient aktuell die Frage des Sinns mit den Kategorien von Rasse, Geschlecht, Nation, Volk, Gemeinschaft etc. 

… Die Art oder die Natur dieser „Positivität“ ist jedoch nicht leicht zu bestimmen. Will sie nicht unbegründet oder trügerisch sein, darf sie nichts mit den Bestimmungen des Sinns zu tun haben, die uns unsere ältere oder neuere Vergangenheit anbieten kann. Ebensowenig darf sie etwas mit der nicht bloß positiven, sondern positivistischen Idee einer „Überwindung“ der Frage nach dem Sinn zu tun haben. Denn die Idee einer „Überwindung“ untersteht einer simplen Dialektik des Sinns: Als der Strukturalismus erklärte, die Leute hätten nichts mehr zu sagen, das Interessante sei einzig die Art und Weise, wie sie es sagen, verlegte er den Sinn, denselben Sinn, nur jetzt zum kombinatorischen Netz geworden, in die einwandfreie Beherrschung seiner eigenen Ablösung; er versuchte, dem Sinn Glaubwürdigkeit zu verschaffen, nicht mehr als Botschaft, sondern als Funktionalität, und aus diese Funktionalität wurde selbst die Botschaft.[4]

Sandra Richters aus langen bis sehr langen Bibliographien von Übersetzungen generierte gleichwohl gut lesbare Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur[5] bietet aktuell einen in der Wissenschaft überaus verbreiteten positivistischen Strukturalismus. Sowohl der Begriff der Literatur wie jener der „Weltgeschichte“ werden elastisch, doch positiv formuliert. Als Begriffe mit Sinn ausgearbeitet. Die „Weltgeschichte“ gibt mehr als einen Wink auf Friedrich Schillers „akademische Antrittsvorlesung“ als Professor für Geschichte in Jena unter dem Titel Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? aus dem Revolutionsjahr 1789 und verschiebt sie auf internationale Übersetzungen der „deutschsprachigen Literatur“. 

… Literatur hebt konkrete Ereignisse und individuelle Gefühle im ästhetisch Allgemeinen auf. 

Zugleich aber entsteht Literatur nicht in einer ästhetischen Eigenwelt, sondern unter bestimmten Voraussetzungen der Produktion: in Freiheit oder unter Zwang, in einem oder mehreren Sprachsystemen, vor dem Hintergrund kultureller Erfahrungen. Literatur trifft auf interessierte Agenten, Verleger, Kritiker, Übersetzer, Leser – oder auf Desinteresse und Ablehnung. Literatur bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen dem eigenständigen Kommunikationsraum Literatur einerseits, konkreten Räumen und Zeitläuften andererseits, seien sie lokal oder global. Das vorliegende Buch will Literatur aus diesem Spannungsfeld heraus begreifen.[6]

Der Hegelianische Begriff der Aufhebungen – „Literatur … hebt auf“ –, den Jean-Luc Nancy einmal in seiner Vieldeutigkeit und Literarizität entfaltet hat,[7] wird von Sandra Richter als positives Wissen vom Ästhetischen des Allgemeinen formuliert, um es als Paradox zu „bestimmten Voraussetzungen der Produktion“ zu setzen. Auf die Aufhebung wird mit Jean-Luc Nancy zurückzukommen sein. Bei Sandra Richter hebt die Literatur „konkrete Ereignisse und Gefühle“ auf, indem sie konserviert und zur Geschichte werden. Die Literatur und das Andere der Literatur. Der Literaturbegriff wirft zugleich Fragen auf. Was wäre beispielsweise mit dem deutschen „Weltschriftsteller“ Karl Marx? Karl Marx dürfte weltweit einflussreicher als Schriftsteller gewesen und in mehr Sprachen übersetzt worden sein als Goethe. Es kommt hinzu, dass bei Karl Marx bereits ein durchaus konfliktreiches Schreiben in mehreren Sprachen – Deutsch, Englisch, Französisch – vorliegt, das die Fragen der Autorschaft, des Buches, der Edition, der Übersetzung und Übersetzbarkeit aufwirft.[8] Aber auch Johann Joachim Winckelmann, der sich deutlich vor Johann Wolfgang Goethe für die Übersetzung seiner Gedancken (1756) und seiner Geschichte des Altertums (1764) ins Französische und Englische einsetzte, geradezu eine gezielte Übersetzungspolitik seiner Schriften betrieb, um sie zügig in ein europäisches Wissen und Wissen von Europa zu transformieren, fehlt.[9]

Wie lässt sich Literatur eingrenzend und positiv formulieren? Die „Weltliteratur“ und „Weltgeschichte“ werden an „der Faszination für die neuen infrastrukturellen Möglichkeiten des literarischen Geschäfts seit dem beginnenden 19. Jahrhundert“[10] formuliert und gemessen, um einen strukturalistischen Positivismus eigener Art zu praktizieren. Ist es doch der durch Digitalisierung schwindende ökonomische Sinn des Buchhandels, der mit Goethes „Begriff“ von „Weltliteratur“ recht eindeutig kurzgeschlossen wird. 

… Goethe meinte damit alles weltweit Gelesene. Weltliteratur war aus seiner Sicht eine notwendige und meistens, jedoch nicht immer, angenehme Folge der Moderne und ihrer Kommunikationsformen. Aus Anlass einer französischen Übersetzung seiner botanischen Werke schrieb er begeistert: 

Dieß sind die unmittelbaren Folgen der allgemeinen Weltliteratur; die Nationen werden sich geschwinder der wechselseitigen Vorteile bemächtigen können. Mehr sag ich nicht, denn das ist ein weit auszuführendes Capitel.[11]

Vielleicht muss man es einmal sehr hart in Anknüpfung an Jean-Luc Nancy formulieren. Nicht nur die Philosophie, die Geisteschwissenschaften haben sich einem Positivismus verschrieben, der zu Big Data tendiert. Big Data macht viel Arbeit, kostet Zeit und Geld, produziert aber Sinn. Big Data werden über Algorithmen generiert, die ihrerseits Google-Wissen produzieren. Für Big Data werden Begriffe durch die Technologie der computergestützten Erstellung und Auswertung großer Datenmengen in einen positivistischen Wissenskreislauf eingespeist. Anders als mit dem Dekonstruktivismus Nancys müssen Forschungsergebnisse positiv formulierbar sein. Wissenschaftspolitisch ist die positive Formulierbarkeit der Forschung im internationalen und damit vor allem amerikanischen Vergleich, drastisch gesagt, zwingend geworden. Über Harvard etc. sickert Big Data als Wissenschaftsmethode in den Wissenschaftsbetrieb ein. Big Data, wie sie für Sandra Richters Weltgeschichte eine exzeptionelle Rolle spielen und Graphiken mit unterschiedlich dicken Übersetzungspfeilen auf der Weltkarte generieren, produzieren einen messbaren Sinn. 

 

Big Data als Wissenschaft, wie sie beispielsweise für die Gesellschaftspolitik von Professor Urs Gasser, Direktor des Berkman Center für Internet & Gesellschaft an der Harvard Universität, in Aussicht gestellt werden, legen ein Netz des Wissens und der Planbarkeit über die Gesellschaft.[12] Big Data gelten in der Wissenschaft als Fortschritt. Sie werden durch die Nutzung von Apps und Internet etc. ständig produziert, um ihrer ökonomischen und wissenschaftlichen Auswertung zu harren. Big Data sind in der Wissensgesellschaft in ersten Linie eine Ware, die produziert und verkauft werden kann. Sie sind Zeichen- und Datenmengen. So wird durch den deutschen Wissenschaftsrat die Vergabe der Fördermittel, die Finanzierung von Wissenschaft in der Gesellschaft demokratisch organisiert. Quantitative und qualitative Verfahren der Evaluierung werden angewendet, um die Förderungswürdigkeit von Wissenschaftseinrichtungen zu entscheiden. Die Eigendarstellung des Wissenschaftsrats formuliert das folgendermaßen: 

Der Wissenschaftsrat ist eines der wichtigsten wissenschaftspolitischen Beratungsgremien in Deutschland. Er berät die Bundesregierung und die Regierungen der Länder in allen Fragen der inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Wissenschaft, der Forschung und des Hochschulbereichs. Daneben gehört es zu seinen Aufgaben, zur Sicherung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Wissenschaft in Deutschland im nationalen und europäischen Wissenschaftssystem beizutragen. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates sollen mit Überlegungen zu den quantitativen und finanziellen Auswirkungen sowie ihrer Verwirklichung verbunden sein und den Erfordernissen des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens entsprechen.[13]

Natürlich ist der Wissenschaftsrat ein demokratisch-parlamentarisches Instrument. Er ist sozusagen die Schnittstelle von Administration bzw. Technokratie, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. Das ist auch richtig und gut so. Die Ausrichtung auf einen globalen Positivismus der Big Data birgt indessen auch Gefahren. Wissen und Wissenschaft befinden sich in einem unablässigen Prozess. Sie werden allerdings auf Sinn ausgerichtet, den Jean-Luc Nancy seit Jahrzehnten befragt und kritisiert. Nicht ganz unpolemisch schrieb Nancy in Das Vergessen der Philosophie: 

Ohne jeden Zweifel gibt es eine große Physiologie des Denkens mit komplexen Kreisläufen, beispielsweise von Marx und Nietzsche zu Heidegger, Benjamin und Wittgenstein über Kierkegaard, Husserl, die „Humanwissenschaften“, den logischen Positivismus, Bergson, Bataille, den Strukturalismus usw. – aber auch über die moderne Erfahrung und das moderne Bewußtsein des gesellschaftlichen Bandes und Kampfes, der Teilungen der Welt, der Erprobungen der Kunst, der Literatur und Sprache.[14]      

 

Worin unterscheiden sich das Wissen des Internets und der Raum der Philosophie? Nancy philosophiert nicht im luftleeren Raum, vielmehr knüpft er in Hegel Die Unruhe des Negativen eben an Friedrich Hegels Phänomenologie des Geistes in einer literarischen Art und Weise an, zu der „kein philologischer Apparat (passt)“.[15] Das Philosophieren wir bei Nancy ein ebenso literarisches wie dekonstruierendes, vor allem aber eines in „Bewegung“, indem es nicht nur keine verortenden „Textbelege“ braucht. Vielmehr bleibt der Text vage und mehrdeutig. Der Text liegt nicht einfach vor oder befindet sich in einer unendlichen Prozessualität des Internets. Vielmehr generiert er sich in einer Schwebe aus Anspielungen, Ungesagtem, Angedeutetem und Mehrdeutigkeiten. Auf diese Weise verschieben sich das Wissen von der Philosophie und der Gemeinschaft. 

Hegel ist der Denker, der die moderne Welt eröffnet. Sein gesamtes Werk wird von dem Bewusstsein und dem Gefühl durchdrungen und in Bewegung versetzt, es mit einer entscheidenden Veränderung des Laufs der Welt und daher des Laufs der Philosophie zu tun zu haben. Der Sinn liegt nicht mehr als das religiöse Band einer Gemeinschaft vor, und das Wissen ordnet sich nicht mehr der Totalität des Sinns unter. Vielmehr folgt der Gemeinschaft die Gesellschaft, und diese erfährt fortan als von sich selbst getrennt; und das Wissen ist nun Kenntnis von Gegenständen und Vorgängen, von denen kein einziger ein Zweck an sich ist…[16]  

 

In der Volksbühne formulierte Jean-Luc Nancy die Frage, was in der Gemeinschaft das Gemeinschaftliche ausmacht. Er schlägt dafür einen „gemeinschaftlichen Sinn, der sich nicht vollendet“ vor. Das Leben bestünde nicht darin, ihm Sinn zu geben. Wie kann man eine Macht so organisieren, dass dieser Sinn, keinen Anspruch auf ein Unendliches stellt? Und er kommt auf die Musik zu sprechen, weil die Musik im höchsten Maße frei von Bedeutung sei. Dieses Freisein der Musik von Bedeutung formuliert er mit Platon, ohne ein Platoniker sein zu wollen. Doch vielleicht macht Musik die Gemeinschaft möglich. Über was sprechen wir, wenn wir von der Musik sprechen? Das Philosophieren, wie es Jean-Luc Nancy in Anknüpfung an Hegel praktiziert, bleibt ständig in Bewegung. Und so wie er Hegel liest, weiß man nicht genau, wo die Briefliteratur aufhört und die Philosophie beginnt, wenn er einen Brautbrief Hegel zitiert, um damit das Problem des Schreibens und Sprechens beiläufig anzuschneiden: 

»… ich war lang zweifelhaft, ob ich an Dich schreiben sollte, weil alles, was man schreibt oder spricht, wieder allein von der Erklärung abhängt oder weil ich sie fürchtete, da sie so gefährlich ist, wenn es sich einmal hergeführt hat zu erklären…«[17]

 

Und dann weiß der Berichterstatter nicht genau, ob er richtig gehört hat, als der Übersetzer Vincent von Wrobelewsky mehrfach Wink übersetzt. Das Leben gibt einen Wink. Ein Heidegger Zitat. Aber was sagt Nancy auf Französisch dafür? Das Wort Wink gibt es im Französischen nicht. Es ist ein Heidegger-Wort. Ein Wink ist noch kein Zeichen. Heidegger versuche von dem zu sprechen, was er den letzten Gott nennt. Der Wink bleibt unbestimmt. Der Wink bleibt unübersetzbar. Doch vielleicht lässt der Wink, in der Weise wie sich nichts von ihm wissen lässt, noch wer winkt, gerade Gemeinschaft zu. Das wäre dann auch politisch. Und es wäre keinesfalls so, dass sich mit dem Wink das Wissen und Prophetische selbst ankündigten. Nancy geht es darum, das Offene, Unabgeschlossene zu denken, weil er Hegel anders liest. 

Seit Hegel gibt es Menschen, die glauben, es sei ihre Mission, den Tod von Millionen Menschen auszuhalten, auf dass das reine Leben des Geistes sichergestellt sei – und ebenso gibt es einen Teil der Menschheit, der denkt (in Taten, nicht in Worten), dass das einzige Leben, welches auf der Höhe der Geschichte und des Wissens sei – und, auf alle Fälle, auf Höhe der Konzentration des Kapitals -, sich durch die Verelendung und den Ausschluss des gesamten anderen Teils vollziehen müsse.[18]  

 

Die Erneuerung der Demokratie lässt sich mit Jean-Luc Nancy nur in einem Prozess des Fragens denken. Beide Teile „der Menschheit“, die glauben zu wissen, was das Leben ist, liegen falsch. Und obwohl es Nancy im August 1996 in San Lorenzo für einmal geschrieben hat, lässt es sich heute lesen und kann einem wie ein Menetekel vorkommen. Der strukturalistische Positivismus lässt sich, wie es die Neue Rechte schreibt und vormacht, in Konstruktionen als Rekonstruktion und Rückeroberung von Begriffen umdrehen. Die Schwebe in den Formulierungen eines Jean-Luc Nancy können sie nicht aushalten. Darum hat gerade Nancy weiter etwas zu sagen. Weitere Gespräche mit Peter Engelmann sind in der Volksbühne geplant.

 

Torsten Flüh

 

Jean-Luc Nancy 

im Passagen Verlag

 

Erschienen 2017, Aufl. 1
ISBN 9783709202838
208 x 128 mm
160 Seiten
Preis 18,10 EUR 

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[1] Peter Engelmann: „Zwischentöne“. Joachim Scholl im Gespräch mit Peter Engelmann. In: ders. (Hg.): STÖREN! HORS SÉRIE. Wien: Passagen, 2017, S. 59.

[2] Peter Engelmann: Rückkehr nach Paris. In: ebenda S. 19.

[4] Jean-Luc Nancy: Das Vergessen der Philosophie. (Herausgeber Peter Engelmann) Wien: Böhlau (Edition Passagen), 1987. S. 12.

[5] Sandra Richter: Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. München: C.Bertelsmann, 2017.

[6] Ebenda S. 16.

[7] Thomas Laugstien: Anmerkung des Übersetzers. In: Jean-Luc Nancy: Die spekulative Anmerkung/Die Unruhe des Negativen. Zürich: diaphanes, 2011, S. 163.

[8] Siehe u.a. Torsten Flüh: Ein Gespenst wird gefeiert. Hostages und Le jeune Karl Marx auf der Berlinale 2017. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. Februar 2017 18:34.  

[9] Ernst Osterkamp weist anlässlich der Weimarer Ausstellung zu 300. Geburtstag von Winckelmann daraufhin, wie er sich schon für seine „Erstlingsschrift Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauer-Kunst“ aktiv für die europaweite Übersetzung ins Französische als „führender Wissenschaftssprache“ einsetzt. Ernst Osterkamp: Johann Joachim Winckelmann: Der Europäer. In: Elisabeth Décultot, Martin Dönike, Wolfgang Holler, Claudia Keller, Thorsten Valk, Bettina Werche (Hrsg.): Winckelmann. Moderne Antike. München: Hirmer, 2017, S. 34.   Siehe auch Torsten Flüh: Zur Verfertigung der Wissenschaft mit Briefen. Die Weimarer Ausstellung und der Katalog Winckelmann. Moderne Antike und die aktuelle Winckelmann-Forschung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. Juli 2017 19:29.

[10] Sandra Richter: Eine … [wie Anm. 5] S. 16.

[11] Ebenda S. 16-17.

[12] Siehe u.a. Torsten Flüh: Darf der Präsident weinen? Über Barack Obama und Big Data. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. November 2012 17:43.

[14] Jean-Luc Nancy: Das … [wie Anm. 4] S. 23.

[15] Jean-Luc Nancy: Hegel Die Unruhe des Negativen. In: ders.: Die … [wie Anm. 7] S. 165.

[16] Ebenda.

[17] Ebenda S. 162.

[18] Ebenda S. 189. 


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