Journal – Tinte – Wasserzeichen
Wasserzeichen vom Orinoco
Zum 2. Alexander von Humboldt-Symposium „Forschen & Edieren“
Vom Seminarraum „Schwarzschild“[1] der Wissenschaftsetage Potsdam im Bildungsforum quasi gleich neben dem Brandenburgischen Landtag in der Neo-Architektur des einstigen Stadtschlosses – Ceci n’est pas un château – winkt Prof. Ottmar Ette am Mittwoch hinüber in die Alexander-von-Humboldt-Landschaft. Im Zwischengeschoss des alten Stadtschlosses, das entweder schon nach Friedrich II. kein Schloss war oder auch gewagt an René Magritte ─ Ceci n’est pas une pipe ─ anknüpfend keines sein soll, habe Alexander von Humboldt große Teile seiner Kosmos-Bände geschrieben. Und, so lässt sich ergänzen, am 10. Mai 1841 verfasste er dort sein Testament zugunsten seines Kammerdieners Johann Seifert. Die Havel wird mit dem Wink zum Orinoco, der Pfingstberg zum Imposibile im Süden von Cumaná, der Telegrafenberg zum Chimborazo etc.

Das 2. Potsdamer Alexander von Humboldt-Symposium am Romanistik-Lehrstuhl von Ottmar Ette ist dem Thema „Forschen & Edieren“ geschuldet. Denn die „Tagebücher der Amerikanischen Reise“, wie es auf Deutsch heißt, aus der Zeit von 1799 bis 1804 wurden erst vor kurzem von der Staatsbibliothek Berlin erworben. Und im März 2014 startete das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 3 Mio. Euro geförderte Forschungsprojekt „Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher: Genealogie, Chronologie, Epistemologie“ mit einem Festakt. Der Projektleiter Ottmar Ette unterstreicht, dass man „an den Amerikanischen Reisetagebüchern … die Herausbildung der Moderne im wissenschaftsgeschichtlichen Bereich erkennen“ könne. Er sagt: „Alexander von Humboldt hat von einer „glücklichen Revolution“ gesprochen.“ Am Mittwoch kamen die Kooperationspartnerinnen aus der Universität Potsdam und der Staatsbibliothek zu Berlin mit Vertreterinnen des Akademievorhabens „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“ der BBAW und disziplinübergreifende Humboldt-Forscherinnen aus Deutschland und Frankreich zum Symposium zusammen.

Alexander von Humboldt war ein Medienstar. Noch am 3. Januar 1859 ließ er sich in Berlin photographieren. Die Alexander-von-Humboldt-Forschung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften weiß vom 16. Dezember 1856 zu berichten, dass er im Jahr „gegen 4.000 Briefe und Billets geschrieben“ hat. Am 15. März 1859 werden ihm die an ihn gerichteten 1.600 bis 2.000 Postsendungen im Jahr endgültig zu viel. Humboldt „schreibt einen "Hilferuf" zur Veröffentlichung in der Presse“. Im Alter wird Alexander von Humboldt zum Wissensreferenten seiner Epoche schlechthin. Man nennt ihn oft einen oder den letzten „Universalgelehrten“. Ottmar Ette spricht stattdessen lieber von einer interdisziplinären Humboldtian Science. Zuletzt wohnt der Weitgereiste in Berlin und stirbt in der Oranienburger Straße 67 am 6. Mai 1859 nach der Zeitmessung um 14:30 Uhr. Doch als 77jähriger, der sich auch regelmäßig mit Finanzkurven und Geldmengen beschäftigt, muss er am 1. Oktober 1846 feststellen, dass er 5.888 Taler Schulden von dem ererbten Vermögen der rund 100.000 Taler übrig behalten hatte. Seine staatlichen Bezüge von 5.000 Taler im Jahr reichen für seinen Lebensstil nicht aus.

Im 20. Jahrhundert erfährt Alexander von Humboldt insbesondere als Wissensträger eine Wiederbelebung und Institutionalisierung. 1949 wurde die Berliner Universität, die vor allem von Wilhelm von Humboldt konzipiert und 1810 gegründet worden war, in Humboldt-Universität zu Berlin nach den beiden Brüdern umbenannt. Denn seit 1883 standen die beiden Denkmäler der Humboldt Brüder vor dem Hauptgebäude der Universität Unter-den-Linden. 1953 folgte durch die Bundesrepublik Deutschland die Gründung der Alexander von Humboldt-Stiftung zur Förderung der internationalen Wissenschaftskooperation zwischen exzellenten deutschen und internationalen Forschern in Bonn. Konrad Adenauer unterzeichnete die Stiftungsurkunde. Der Physik-Nobelpreisträger von 1932, Werner Heisenberg, wurde zum ersten Präsidenten der Stiftung berufen. 1956 richtete die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Ostteil der Stadt die Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle mit naturwissenschaftlicher Ausrichtung ein. Die Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung e.V. gründete sich 1962 in Mannheim aus einem akademischen Netzwerk heraus.

Seit der Zeit um 2002 kursiert in Berlin die Rede vom Humboldt-Forum als programmatischer Name für das zu re-konstruierende Berliner Stadtschloss. Dabei war zunächst offen, ob sich die Wissenschaften dort, gleichsam den Bogen vom Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin über den Boulevard Unter-den-Linden schlagend, öffentlichkeitswirksam repräsentieren solten oder ob es ein Raum werden sollte zur Wissenschaftsgeschichte, die sich an und mit den Gebrüdern Humboldt herausgebildet hatte. In der offenen Diskussion um den Abriss des Palastes der Republik und den „Wiederaufbau“ des Schlosses hatte sich die Frage herausgeschält, was man dann mit dem Gebäude machen wolle oder solle. Anders gesagt: Es ging und geht um die Frage einer im Stadtbild zentralen Leere.

Im Feld der Namens Alexander von Humboldt, oder auf Humboldt verkürzt und vereint, spielt sich seit der Gründung der Berliner Universität, die dann zwischenzeitlich ab 1828 Friedrich-Wilhelms-Universität hieß, die Frage des Wissens in der Moderne sowie seiner Nationalisierung und Globalisierung ab. Wilhelm von Humboldt hatte für Berlin und Preußen eine völlig neuartige Konzeption von konfessionell unabhängiger Staatsuniversität vorgelegt und damit eine neuartige Wissensformation oder auch Wissensschule weltweit erstmals formuliert und in eine Institution transformiert. Das war nicht unumstritten, wie Heinrich von Kleist als „C. J. Levanus“ aus „Rechtenfleck im Holsteinischen“ am 29. Oktober 1810 mit seinem Allerneueste(n) Erziehungsplan dazwischenfunkt. Der Name Humboldt als, um einmal an Alexander von Humboldts Leidenschaft für die Schwankungen der Gold-Preise anzuknüpfen, Aktie des Wissens sollte allerdings fortan global kursieren. ─ Das offenbar mit dem Bergbau verknüpfte Interesse für Geldproduktion und Geldmenge von Alexander von Humboldt wäre in Zeiten der Finanzmärkte sicher einmal genauer zu bedenken.

Beim Potsdamer Symposium spielten weniger Gold und Geld als vielmehr ein Wasserfleck im Journal de la navigation sur L’Apure, L’Orenogue, Le Cassiquiare et le Rio Nègro bereits im ersten Vortrag zu „Ambulatorische(n) Aufzeichnungspraktiken und Schreibtechniken des Notierens bei Alexander von Humboldt“ von Matthias Thiele bis zu Julia Bispinck-Roßbachers Vortrag über die „kodikologische(n) Befunde der Amerikanischen Reisetagebücher von Alexander von Humboldt“ eine wichtige Rolle. Damit spannte sich auch ein Bogen von der Literaturwissenschaft zu den modernsten, hochtechnologischen Mess- und Analyseverfahren der Restaurierung und Bucherhaltung. Matthias Thiele arbeitet am Institut für deutsche Literatur und Sprache der Technischen Universität Dortmund und Julia Bispinck-Roßbacher in der Abteilung Bestandserhaltung und Digitalisierung der Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

Der Wasserfleck taucht prominent an einer Stelle des Journals bzw. der Journale auf, die selbst aufs Innigste mit einer „Schreib-Szene“, wie es Thiele formulierte, narrativ verknüpft worden ist. An dieser Stelle überschneiden sich die Aufzeichnungspraktiken mit den Schreibtechniken. Denn die Übersetzung des französischen journal zum deutschen Tagebuch verfehlt ein wenig Alexander von Humboldts Aufzeichnungspraktiken, worauf Thiele hinwies. Humboldts im Nachhinein gebundene Journale funktionieren nicht chronologisch, womit sie die Aufzeichnungen, die landläufig als Tagebuch verstanden werden, unterlaufen. Wenn man die Genese der Journale erforscht, dann wird zunächst einmal auffällig, wie die Notizblätter oder -hefte im Nachhinein und wohl erst in Paris als „Navigation sur L’Apure, L’Orénoque et Le Rio Negro et Le Cassigquiare du 27 mars au 16 Juin 1800“ ohne Heftrücken in venzianisches, türkisches oder persisches Marmorpapier und Lebereinband mit Messingverschluss beispielsweise gebunden worden sind.

Die Aufzeichnungspraktiken, von denen eher weniger geschrieben wird, weil sie entweder selbstverständlich für Humboldt oder schlechthin Praxis und deshalb zu übergehen waren, erfahren bis auf die Stelle mit dem Wasserfleck kaum eine Erwähnung. Im Unterschied dazu wird auf die Messungen, Vermessung und die Navigation größte Sorgfalt verwendet. Erst im Nachhinein werden oft abenteuerliche Erzählungen mit den Aufzeichnungspraktiken verknüpft. Thiele wies daraufhin, dass Humboldt die Papierseiten meistens beidseitig mit Tinte beschrieben, mit Tinte auch gezeichnet und nur gelegentlich für das Zeichnen von Tabellen einen Bleistift benutzt habe. Das ist u.a. nicht ganz unerheblich, weil Humboldt sozusagen bei der Arbeit später in Gemälden mit einer Bleistiftmiene in einem Halter imaginiert wird. Die bildhafte Darstellung und Wissensvermittlung zur Erstellung des Wissens auf Reisen weicht insofern deutlich davon ab, was sich mit den Journalen aus dem Nachlass lesen lässt. Thiele unterstrich mit der Schreibweise der „Schreib-Szene“, an Roland Barthes anknüpfend auch, dass sich die „Schreib-Szene“ nicht hintergehen lässt. — Anders gesagt: Das Schreiben findet auf einem anderen Schauplatz als nur dem Papier statt.

Von der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle an der Akademie der Wissenschaften ist bereits die Seite mit dem Wasserfleck transkribiert worden. Denn, nebenbei bemerkt, Humboldts Handschrift tendiert zum Mikrographischen, woran Ingo Schwarz von der BBAW mit dem Adressbüchlein von Humboldt in seinem Vortrag erinnerte. Sie schwankt in ihrer Ausformung und lässt sich daher extrem schwer transkribieren und entziffern. Denn die Handschrift soll in den Journalen vor allem memorieren und für ein späteres Lesen des Schreibers verfügbar sein, ließe sich sagen. Sie tendiert in ihrer Winzigkeit zur Geheimschrift und gehorcht einer eher eigenen Ordnung. Humboldt schreibt auf seiner Reise mehr oder weniger unablässig. Dabei werden Journalnotizen in Briefe transformiert, wiedergelesen und kommentiert bis sie schließlich in die Kosmos-Vorlesungen und -Bücher transformiert und übersetzt werden.

Eine längere Passage und Randbemerkung der Transkription, wie sie als Seite 252 im Tagebuch-Projekt der Forschungsstelle online verfügbar gemacht worden ist, wird hier in Konstellation mit Screenshots und Ausschnitten von der digitalisierten Manuskriptseite 243 eingefügt:
[Die] Flußmessung taucht wenig, da der Fluß hier unbestimmt einen See bildet und die Wendungen in eines zusammenfließen. Längen- und Breitenbestimmung sehr genau. Der Apure mündet sich unter sehr rechtem Winkel ein, daher stämmen [die] Wasser so gegen und treten aus. Jetzt [der] Apure, der im Caño Rico 340 var[as] breit war, vor Armuth kaum erkennbar. Er hatte in Einmündung in Orinoco kaum 60 varas Breite und nicht 3 Lachter, wo am tiefsten, Teufe. Schon seit Vuelta del Secondo Cochinito und isla Carisalis nimmt [der] Apure sichtbar ab …
Mit Mühe zog man uns am Seile bis in den Oronoco, und dort gingen wir unter Segel Stromaufwärts. [Der] Ostwind sehr heftig. [Die] Wellen 3 F[uß] hoch schäumend, ganz wie im Meere. Auch fing B[onpland] schon an, Seekrank zu werden. Welche Wassermassen so entfernt vom Meere! Man sieht hier weniger Crocodille als im Apure, weil [der] Fluß tiefer, aber größere, denn die großen im Apure suchen das tiefere Orinoco-Wasser. Ich erstaunte zu sehen, wie mitten im Wellenschlag gegen den Wind diese Ungeheuer über den Strom schwammen.
Apure ewig im Llano. Etwa 1/2 leg[ua] vor [der] Einmündung bei Vuelta del Palmito wird man angenehm überrascht. Man sieht, doch nur auf Augenblicke, das Gebirge von Encaramada. Am Einfluß [die] Aussicht sehr reizend. Gegen Süden erblickt man eine hohe Gebirgskette, die aneinanderhängend in hohen Kuppen von Osten gegen Westen streicht, aber gegen Osten nicht über [27R] [den] Strom setzt.* Der Orinoco fließt …
…
*NB. Die Wasserflecke auf dieser Seite 243 [Bl.27R] sind Orinoco-Wasser, welche über den Tisch liefen, als der Kahn umschlug. S[iehe] unten S.249 [d.i. Bl.30R, unten S.<215>].

Die Seite im Tagebuch-Projekt der Forschungsstelle lässt sich nicht ganz mit dem Manuskript in Deckung bringen. Obwohl der Berichterstatter etwas Übung im Handschriftenlesen hat, vermag er auf die Schnelle, keine alternative Transkription anzubieten. Indessen wurde der Wasserfleck, auf den die Randbemerkung hinweist, durchaus mit einem Abbruch der Schrift ─ „Die Wasserflecke auf dieser Seite 243 [Bl.27R] sind Orinoco-Wasser, welche über den Tisch liefen, als der Kahn umschlug. S[iehe] unten S.249“ ─ von Matthias Thiele in seinem Vortrag blau eingekreist. Auf Seite 249 findet sich dann die von Humboldt umrandete Ergänzung: „Dem Schiffbruch nahe dem Wasser … p. 243 oben Ich schreibe dies Jan 1838 denn solche Begebenheiten nehmen an Interesse mit den Jahren zu“. (Transkription, T. F.) Anders gesagt: Wenn man die Tagebücher zu lesen beginnt, lassen sich zumindest unterschiedliche Wissensebenen und Fragen formulieren.
Die beiden Anmerkungen auf Seite 243 und 249 werfen zunächst einmal die Frage der Adressaten auf. Für wen schreibt Humboldt? — Während Humboldt auf dem Orinoco mit der Navigation durch den und Vermessung des Flusses sowie der „Flußmessung“ befasst ist, die allerdings auch wenig taugt oder „taucht“ (?), befasst ist, und er sich Gedanken über den Verbleib der „Wassermasse“ macht, erfährt das Manuskript beim wiederlesen und weiterschreiben 1838 ein ganz anderes „Interesse“. Nun stoßen nämlich die „Wasserflecke“ im Manuskript das Interesse an der Erzählung vom Leben an. Das ferne „Orinoco-Wasser“ erscheint sozusagen nun erst als interessantes oder bedeutendes Wasserzeichen einer Begebenheit, die lange zurückliegt. Wenn die Handschrift als Tagebuch allerdings in den Druck gehen soll, verschwindet der Wert des vieldeutigen Wasserzeichens aus „Orinoco-Waser“ wieder. ─ Das „Tagebuch“ der Forschungsstelle, so wie es derzeit im Netz steht, kann allerdings noch keine Lösung für ein „netzartig verschlungenes Gewebe“ mit den Möglichkeiten der „Computertechnologie“ sein. Zumindest wäre es hilfreich, auf den Seiten eine Jahresangabe zur digitalen Erstellung des Tagebuches einzufügen. Denn die Computertechnologie und Vernetzungstechniken ändern sich schneller als gedacht.

Das durch Messungen erworbene Wissen über den Orinoco unterscheidet sich von dem Wissen, das Humboldt den Wasserflecken ca. 38 Jahre später beimisst, von dem sich nicht genau sagen lässt, was das Interesse an den Begebenheiten zunehmen lässt. Doch beide und wahrscheinlich noch mehr Wissensebenen überschneiden sich in den Orinoco-Wasser-Flecken. Im Unterschied zur „(sehr genauen) Längen- und Breitenbestimmung“ lassen sich die Wasserflecken als Zeichen nicht genau bestimmen oder vermessen, zumal die damit verknüpften „Begebenheiten an Interesse“ nicht nur kontinuierlich zunehmen, sondern sehr wahrscheinlich auch schwankten. Doch gerade dadurch werden die „Wasserflecke“ zum Gegenstand von Forschung. Sie sind fast nichts gegenüber dem Geschriebenen und geben dennoch einen Wink auf die Geschichte von der Wissenschaft.

Julian Drews, der das Symposium organisiert hatte und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl ist, widmete sich in seinem Vortrag „Colomb: (auto)biographisches Schreiben zu Alexander von Humboldt“ der Epistemologie der Rede von Christoph Columbus.[2] Denn Alexander von Humboldt hatte nicht nur die zeitgenössischen Biographien zu Columbus gelesen, studiert, sondern erfuhr dann auch später die Würdigung als „zweiter Columbus“ und reüssiert nicht zuletzt mit der DDR zum eigentlichen und rechtmäßigen Entdecker Kubas und Mittelamerikas. Mit der Vermessung ganzer Teile des mittel- und südamerikanischen Kontinents, der Zeichnung von Tieren und Pflanzen sowie mineralogischen Sammlungen wie sie noch heute im Museum für Naturkunde zu Berlin aufbewahrt und erforscht werden, verlieh er ganzen Landstrichen überhaupt ein modernes, europäisch orientiertes Wissen von sich selbst.

Humboldt las, übersetzte und zitierte das Wissen von Christoph Columbus nach Drews mit Martin Fernández de Navarretes Discurso preliminar ó Introduccion á la coleccion de los viages y descubrimientos que hicieron por mar los españoles desde fines del siglo XV escrita por don Martín Fernández de Navarrete de la Orden de San Juan ... von 1826. Bereits 1828 erschien von Navarrete eine veränderte Fassung auf Französisch: Relations des quatre voyages entrepris par Christophe Colomb pour la découverte du Nouveau-Monde de 1492 à 1504 suivies de diverses lettres de pièces inédites, extraites des archives de la monarchie espagnole et publiées pour la première fois par ordre et sous les auspices de S. M. Catholique. Washington Irvings A History of the Life and the voyages of Christoph Columbus kam noch im gleichen Jahr heraus. Mit dem ersten Band seiner Kosmos-Vorlesungen als Buch ab 1845 wird Christoph Columbus für Alexander von Humboldt zum wiederholten, um nicht zu sagen fortwährenden Referenten, an den er anknüpft. Die programmatische Naturwissenschaft Humboldts, in der kosmologisch „Alles … Wechselwirkung (ist)“, entwirft eine „physische Weltbeschreibung“, die bis 1862 auf 5 Bände anwächst.

Epistemologisch spielt für Humboldt der lange, geradezu ausufernde Titel als Rahmung für das Colomb-Buch von Navarrete eine wichtige Rolle. Denn der Titel verspricht, unveröffentlichte Briefe (lettres de pièces inédites) und Auszüge aus den Archiven der spanischen Monarchie erstmals zu veröffentlichen. Damit werden neuartige Quellen als Wissen von Christoph Columbus und seinen Reisen versprochen, die bisherige Erzählungen umschreiben. In der spanischen Fassung stand Christóbal Colón noch nicht einmal im Titel. Es waren lediglich Discurso preliminar (vorläufige Rede) und m zweiten Band Colección (Sammlung) zur Seefahrtsgeschichte seit dem 15. Jahrhundert angekündigt worden. Washington Irving seinerseits transformiert Navarretes Buch mit eigenen Nachforschungen und vor allem ergänzenden biographischen Erzählungen an der Schnittstelle von Quellenstudium und Lebensgeschichte zu einer Geschichte vom Leben und den Reisen des Christoph Columbus. Als Leser beider Bücher, wie Drews betonte, machte sich Humboldt beider Literaturen für sein Schreiben zu Eigen.

Die Kunsthistorikerin und Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Julia Voss warf einen Blick auf „Alexander von Humboldt als Zeichner“, um ihn im Unterschied zu Charles Darwin, der ein ausgesprochen schlechter Zeichner gewesen sei, als ausgebildeten Zeichner naturalistischer Schule vorzustellen. Er hatte bereits bei seinem Studium an der Universität in Frankfurt/Oder Zeichnen gelernt. Neben Tierzeichnungen sind von Humboldt vor allem topographische Zeichnungen in den Journalen überliefert. Zeichnen generiert bei Humboldt Wissen, insofern es mit sprachlichen Formulierungen verknüpft und konstelliert wird.

Neben der Frage von Maßstabstreue, die Größenverhältnisse in der Natur und bei Tierzeichnungen herstellen, gehen vor allem die Topographien aus astronomischen Vermessungen, Beobachtungen, Größenrelationen und sprachlichen Notizen der Journale hervor. Die Zeichnungen gehorchen einer anderen Logik als der des Bildes. Oder, anders gefragt, inwiefern sind die Zeichnungen auf Reisen Notate, die erst im Nachhinein für die Buchveröffentlichungen als Kupferstiche ausgearbeitet und ab 1811 als Recueil d'observations de zoologie et d'anatomie comparée. Tome 1, faites dans l'Océan Atlantique, dans l'intérieur du Nouveau Continent et dans la Mer du Sud, pendant les années 1799, 1800, 1801, 1802 et 1803 veröffentlicht werden? Durch die ausführliche Beschreibung allererst entsteht beispielsweise in aufwendigster Aquatinta-Drucktechnik bei Langlois in Paris eine Komposition aus Portrait und Profil des Simia trivigata der „Huet fils, d’après une esquisse de M. de Humboldt“. Die ungefähre Skizzierung (esquisse) in Tinte und die sprachliche Beschreibung generieren das Bild des kleinen Nachtaffen.

An der ausgesprochen schlechten Zeichnung von Charles Darwin in seinem Notizbüchlein von 1836 entsteht unter der Formulierung „I think“ ein Strichwerk, das Horst Bredekamp 2005 in seinem Buch Darwins Korallen[3] eine Koralle genannt hat. Es geht mit dem Strichwerk, das mit „1, A, C, B, D“, gegen den Uhrzeigersinn gelesen, Verzweigungen mit Endpunkten herstellt, darum ein neuartiges Denken des Menschen im Tree of Life bzw. in der Evolution zu skizzieren. Das schlechte Zeichnen einer Koralle, ließe sich formulieren, bringt gerade einen neuen, geschichtlichen Wissensmodus hervor. Bei Alexander von Humboldt, der es schafft, durch die Herstellung von auffälligen Details als Merkmale, wie der Körperhaltung des kleinen Nachtaffen im Profil, von Tierarten naturalistische Bilder, „Unsichtbares sichtbar zu machen“ (Julia Voss), funktioniert das Wissen anders. Gerade das Skizzenhafte der Humboldtschen Zeichnungen bringt die Merkmale, die eine Klassifizierung erlauben, allererst hervor, müsste man sagen.

Die Wissenschaftsgeschichte, wie sie von der Mathematikerin Ulrike Leitner am Akademievorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“ der BBAW mit ihrem Vortrag „Stationen unterwegs: Triangulation, Messung, Berechnung“ gelesen wird, findet in den Journalen die Anwendung mathematischer Modelle zur Wissenserstellung. Ausgestattet mit Chronometer und Sextant vermisst Alexander von Humboldt mit Bonpland den Orinoco sozusagen von Messpunkt zu Messpunkt. Aus Zeitdifferenz der Längengrade und nach dem Sonnenstand wird das Wandelhafte des urwäldlichen Flusses vermessen und in Tabellen aufgelistet. Nach dem mathematischen Modell der Berechnungen wird berechenbar, was auf Seite 243 des Journals zum „Schiffbruch“ geführt hatte, so dass die Blätter mit den Berechnungen und Beschreibungen ins Wasser fielen.

Mit dem Wissen der mathematischen Astronomie, dem Wissensmodell der Aufklärung seit Descartes schlechthin, lassen sich die Berechnung und Tabellen ebenso wie die Topographien der Journale bestätigend lesen. Die Wissenschaft findet sich repräsentiert. Allerdings werden die Berechnungen in Tabellen von Alexander von Humboldt in den Journalen wiederholt und häufig von Neuberechnungen erfasst, so dass sie bis zu den tabellenreichen Publikationen der Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent als Erstveröffentlichung und mehreren redigierten Auflagen Neuberechnungen erleiden müssen, die genauere Bilder generieren. Das Prozesshafte, das mit der Astronomie in Tabellen erfasst und anzuhalten versucht wird, erweist sich selbst als Modus der Naturwissenschaften. So springt dann auch in den Journalen das berechenbare Wissen der Astronomie einer Sonnenfinsternis, die Ulrike Leitner nur en passant erwähnte, über in eine Kontextualisierung bzw. in ein Ursachen-Wirkungsverhältnis für ein Erdbeben. In der Astronomie lassen sich Mathematik und Geometrie als Modelle und Praktiken der Reise finden, die dann wiederum in Erzählungen vom Wissen verknüpft werden. Daraus allerdings eine Kritik an Alexander von Humboldts Wissenshorizont machen zu wollen, wie kürzlich von dem Wissenschaftsjournalisten Hartmut Wewetzer im Tagesspiegel geschehen, verfehlt eine Geschichtlichkeit der Wissenschaften.

Marie-Noëlle Bourguet vom Laboratoire Identités, Cultures, Territoires der Université Paris 7 zeigte mit der Textgenese am Heft von Alexander von Humboldts Italienreise im März 1805, wie er reiste und seine Notizen im Heft festhielt. Der Vortrag „Un voyage peut en cacher un autre : le carnet d’Italie d’Alexander von Humboldt (1805)“ brachte die unterschiedlichen Schreibpraktiken des Übersetzens, Exzerpierens, Kompilierens aus anderen Büchern und Quellen als eine „practique de lecture“ zur Geltung. Lese- und Schreibpraxis greifen im „Carnet d’Italie“ umso mehr ineinander, als die Reise von Paris nach Rom Züge der zeitgenössischen Grand Tour trägt, also dem Modell der klassischen Bildungsreise durchs imaginierte Land der Klassik besonders des 18. Jahrhundert. Es geht nicht nur darum, seinen Bruder Wilhelm in Rom zu treffen, sondern ein Bildungsprogramm unter veränderten nun wissenschaftlichen statt sentimentalischen Vorzeichen zu erfüllen. Dennoch spielen gerade auf dieser Reise das Naturwissenschaftliche und das Sentimentalische als Wissensformationen ineinander, ließe sich sagen.

2006 hatte Marie-Noëlle Bourguet bereits die Fabrikation des Wissens in dem Aufsatz La fabrique du savoir - Essai sur les carnets de voyage d'Alexander von Humboldt in dem von Ottmar Ette herausgegebenen Wissenschafts-Online-Magazin HiN bzw. Alexander von Humboldt im Netz interessiert. Am Heft der italienischen Reise untersuchte sie nun zugespitzt, wie die Naturwissenschaften im Programm der Bildungsreise mit dem Physiker Joseph Louis Gay-Lussac und dem 21jährigen Physik-Studenten Franz August O’Etzel umgeschrieben werden. Dabei vermischen sich die unterschiedlichen Wissensbereiche von Natur und Gefühl zu einem Schreiben über das Leben. Die Reise zum Bruder wird auch Wissenschaftsreise und Erzählung vom Leben. In dem Maße wie es mit der Reise um die Erfüllung eines Vorauswissens geht, gibt sie einen Wink auf Reisepraktiken, die im Massentourismus wiederkehren.
Julia Bispinck-Roßbacher entfaltete in ihrem Vortrag ein ganzes Arsenal buchkonservatorischer und –analytischer Methoden. Auch nachdem die Journale gebunden worden waren, wurden kommentierende Zettel eingeklebt, Seitenteile oder ganze Blätter säuberlich herausgeschnitten, so dass man sagen kann, dass die Journale eine umfangreiche und wiederholte Redaktion erfahren haben. In dem Maße wie die Journale als ur-sprünglich formuliert werden können, tendieren sie gleichfalls zu Redaktionsstufen und zur Verzettelung. Klebestelle und Herausschneidungen aus einzelnen Seiten verweisen auf Lücken und Leerstellen sowie Umorganisation. Lange nachdem die Journale gebunden worden waren, beispielsweise bei den „Wasserflecke“ 38 Jahre, werden sie zu Arbeits- und Erinnerungsbüchern ganz eigener Ordnung.

Mit einer Reflektionsmethode lässt sich die Tinte materialtechnologisch untersuchen. Einzelne, von Bispinck-Roßbacher genau ausgesuchte Punkte der Tintenschrift werden mit einem Röntgenstrahl belichtet, um die Spiegelung zu messen. Damit lässt sich nach Bispinck-Roßbacher feststellen, wie die Tinte zusammengesetzt war bzw. ist. Unterschiedliche Tinten enthalten unterschiedliche chemische Substanzen, die sich durch die Spiegelung identifizieren lassen. Dadurch können nicht nur Kommentare mit dem Abstand von sprachlich formulierten 38 Jahren einer Redaktionsschicht zugeordnet werden, vielmehr lassen sich auf diese Weise andere Schichten ebenfalls über die Materialanalyse der Tinte auffinden und verifizieren.

Ulrich Grober hatte bereits in seinem Artikel Aufklärung unter Tage[4] über das 250-Jahr-Jubiläum der Bergakademie Freiberg in Sachsen erwähnt, dass Alexander von Humboldt nach dem Studium in Frankfurt/Oder und in Göttingen dort studiert hatte. Innerhalb von 8 Monaten erwarb sich der Student mit der Matrikelnummer 357 1791 ein geologisches Wissen, das sich bis zu den Goldpreiskurven der 1840er und 50er Jahre auffächern ließ. Die Technische Universität Bergakademie Freiberg wirbt noch heute mit ihrem berühmtesten Absolventen und veranstaltete im Mai 2009 zum 150. Todestag Humboldts ein Ehrenprogramm. Nicht zuletzt mit der Verknüpfung von Praxis und zur Theorie formuliertem Wissen wird das Studium in Freiberg für Humboldt zum Labor für das in Frankfurt/Oder und Göttingen erworbene Wissen. Das Einfahren oder auch Hinabsteigen in die Erde zum Wissenserwerb durch Anschauung von Gesteinsschichten wird zum Forschungsmodell aller folgenden Reisen.
War Alexander von Humboldt der erste Ökologe? In seinem Vortrag „Humboldt, Haeckel und 150 Jahre Ökologie“ ging Ulrich Grober eher nur am Rande auf Alexander von Humboldt ein und versuchte vielmehr zu zeigen, wie sich aus der Lektüre von Humboldts Schriften bei Ernst Haeckel die Formulierung eines ökologischen Denkens ergibt. Grober bezieht sich dabei auf Ernst Haeckels Formulierung der „Oecologie“ in der Generelle(n) Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formenwissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenztheorie von 1866. Bei Humboldt findet sich der Begriff der Ökologie nicht. Doch vielleicht muss man diesen Begriff beim Verfasser der Kosmos-Vorlesungen auch nicht finden. Vielmehr ─ und das scheint nun dem Berichterstatter ein erwägenswerter Gedanke ─ gibt die Verknüpfung der Ökologie durch Grober über Haeckel mit Alexander von Humboldt einen Wink auf die literarische Elastizität seiner Schriften, die eine enorme Anknüpfungsfähigkeit für die naturwissenschaftlich formulierten Wissenschaften bieten.

Screenshot BNF Gallica: Alexander von Humboldt in Berlin am 3. Januar 1859
Aus Zeitgründen konnte der Berichterstatter ausgerechnet die Vorträge von Michael Zeuske und Ottmar Ette nicht mehr verfolgen. Doch der Titel „Natur & Kultur: Perspektiven Humboldtscher Wissenschaft“ lässt gespannt werden, wie und wann er auf der Projektseite zu den Amerikanischen Tagebüchern oder im HiN erscheint.
Torsten Flüh
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[1] Benannt nach Karl Schwarzschild, dem Begründer der Astrophysik und Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam.
[3] Siehe auch: Darwins Korallen. magazin.dctp.tv Bredekamp, Horst: Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte. Berlin 2005
[4] Grober, Ulrich: Aufklärung unter Tage. In: Die Zeit, N° 21, 21. Mai 2015, S. 19 (Druckausgabe)
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