Pierrot Lunaire als Porn-King - Bruce LaBruces Inszenierung von Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire am HAU1

Pierrot Lunaire – Melodrama – Sprechstimme

 

Pierrot Lunaire als Porn-King

Bruce LaBruces Inszenierung von Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire am HAU1

 

Der mondsüchtige Pierrot ist im Hebbel-Theater ein King. Genauer gesagt gibt Susanne Sachsse einen fulminanten Porn-King, der in die Aufführungsgeschichte des Melodramas Pierrot Lunaire eingehen wird. Am Donnerstag wurde die Aufführung hoffentlich nicht zum letzten Mal vom trendorientierten HAU-Publikum gebührend gefeiert.

Ist Pierrot ein Mann oder eine Frau? Spielt die Figur des Pierrots nicht schon immer mit dem Geschlecht? Arnold Schönbergs (1874-1951) Pierrot Lunaire gehört seit seiner öffentlichen Uraufführung am 16. Oktober 1912 im Choralion-Saal in der Bellevue Straße 4 in Berlin zu den umstrittensten und meistdiskutierten Melodramen überhaupt. Schönberg brach mit der Komposition gleich eine ganze Reihe von Ordnungsprinzipien.

Der Plastik-Schwanz ist das entscheidende Requisit und Ausstattungsmerkmal von Bruce LaBruces Inszenierung. Und das ist richtig. Denn es geht mit Ordnungen immer um den Schwanz als Plastik. Mit einem anderen Wort: um den Phallus. Das Gummiteil in schwarz oder fleischfarben ist bei Bruce LaBruce nie nur ein Ersatzteil zur Lustbefriedigung. Vielmehr sind an den Plastik-Schwanz als Phallus ganz andere Mächte gebunden, wie es nicht zuletzt Sigmund Freud in seinem Aufsatz zum Fetischismus (siehe auch Claudia Reiches Ausführungen) formuliert hat. 

Wen das Spiel mit dem Gummiteil auf der Bühne stört, der hat die Inszenierung schon verstanden. Was stört, sitzt richtig. Susanne Sachsse führt es virtuos vor. Die Betonung des Labels Underground-Porn Star für Bruce LaBruce verleitet dazu, mehr auf das Porn zu starren, als den Underground zu sehen. Deshalb ist es reine Bigotterie, bei Porn heute gleich aufzuschreien. - Pardon, aber wer hat noch vor kurzem kampagnenmäßig aufgeschrien? Aus welchem Hause kam die Dame doch nur? - Lenkt man das Interesse indessen mehr auf den Underground wie schon bei Otto, or, up with dead people, dann lässt sich gerade bei der Inszenierung des Pierrot Lunaire eine ganze Menge entdecken.

Es lässt sich bei der Besprechung des Pierrot Lunaire im altehrwürdigen Hebbel-Theater erstens nicht die Erwähnung des Dings vermeiden und zweitens geht es bei Arnold Schönbergs Komposition bereits selbst um das Ding. Das Ding zeigt sich nämlich auch und gerade dann, wenn atonale Kompositionen aufgeführt werden und Missfallen auslösen. Es zeigt sich, wenn über die Sprechstimme, die Schönberg für Pierrot prominent konzeptualisiert hat, gestritten, gelästert und gebuht wird. Und nicht zuletzt zeigt sich das Ding, wenn über die Gattung des Melodramas diskutiert wird. Und wo bleibt dann die Musik?


Foto: HAU

Die Atonalität des Pierrot Lunaire ist im Werk Arnold Schönbergs vor der Ausarbeitung der Zwölftontechnik angesiedelt. Insofern als sich die Zwölftontechnik in eine Vielartigkeit von Kompositionsstilen nach den jeweiligen Komponisten aufspaltet, hat Schönberg durchaus zu Recht, die Zwölftontechnik als seine Erfindung beansprucht. Denn es gibt keine allgemeine Zwölftontechnik. Doch die Komposition des Pierrot Lunaire hält sich noch vor einer durchgängigen Technik. Was ist Atonalität?

 

Die allgemeine Formulierung für Atonalität spricht davon, dass der Musik eine zentrale Tonalität fehlt. Es fehlt ihr eine Tonalität oder ein Schlüssel, key, wie es im Englischen heißt. Da ich kein Musikwissenschaftler bin, kann ich nicht musikwissenschaftlich argumentieren. Entscheidend an dem Einbruch der Atonalität in die Tradition der europäischen Musik ist vielmehr, dass ein wissensförmiges Kompositionsprinzip wegfällt. Schönberg arbeitet gegen ein Wissen in der Musik, das Tonalität heißt. Pierrot Lunaire ist eine frühe Form dieser Arbeit.


Foto: HAU (Bearbeitung, TF)

Der Tumult und die Aggression gegen Pierrot Lunaire am 16. Oktober 1912 in Berlin galten vor allem dem Fehlen. An Musik fehlte es nicht. Max Brod schrieb 1923 von "Klangkombinationen". Aber das Wissen von der „richtigen“ Musik fühlte sich beleidigt. Mit einem anderen Wort geht es dabei um den Phallus. Richtiges Geschlecht? Falsches Geschlecht? Oder das Geschlecht, die Gattung nur (!) als Ersatz? Wenn etwas als fehlend vorgeführt wird, an das gewaltig geglaubt wurde, dann mag das wohl beleidigen.

Die Sprechstimme wie Arnold Schönberg die Stimme des Pierrots genannt hat, gehört in der Literatur und den Rezensionen zu den am meisten und am leidenschaftlichsten diskutierten Erfindungen des Komponisten. Die Stimme ist für das Musikpublikum ein Fetisch. Sie wird, denkt man an die Sängerstars, mit Gold aufgewogen. Ob Lied-, Konzert-, Pop- oder Opern-Stimme, um sie kreist alles. Was das Ich hören will, ist die Stimme. Und dann führt Schönberg die Sprechstimme ein.


Foto: HAU

Die amerikanische Professorin für Stimmausbildung Aiden Soder hat in ihrer Doktorarbeit 2008 über die Sprechstimme in Arnold Schoenberg’s Pierrot Lunaire – A Study of Vocal Performance Practice geschrieben. Was mit der radikalen Konzeption der Sprechstimme auf dem Spiel steht, kann man besser einschätzen, wenn man Soders Untersuchung liest. Arnold Schönberg ließ nämlich mit seinen Anmerkungen zur Sprechstimme in der Erstveröffentlichung 1914 die Sänger, Korrepetitoren und Dirigenten recht hilflos zurück.

 

Die Stimmlage z. B. Frau, Mann oder Sopran, Alt, Bariton oder Mezzosopran ist nämlich für den Pierrot nicht festgelegt. Es gibt für die Sprechstimme 1914 auch keine Noten. Woran soll sich die Sprechstimme halten? Nur in einzelnen Passagen, die Schönberg ausdrücklich als „isolierte Ausnahmen“ bezeichnet, soll die Sprechstimme singen. Der Rhythmus ist nur in einer Verfremdung des Singens als ein „als ob jemand singen würde“ wichtig. Und die Sprechstimme soll keinesfalls in einen „Singsang“ verfallen oder eine „Stimmung“ oder einen „Charakter“ jeweiligen Stückes aus dem Melodrama wiedergeben. Sogar die „Bedeutung der Worte“ soll keine Rolle spielen, sondern nur die – atonale – Musik.


Foto: HAU (Bearbeitung, TF)

All das, was die Stimme als Träger von Wissen traditionell vermag, treibt ihr Schönberg im Vorwort zur Veröffentlichung der Noten aus. Stimmung, Charakter, Wortbedeutung, das Wort als Wort selbst werden allerhöchstens in einem Als-ob-singen zugelassen. Soll die Sprechstimme dann die Gedichte von Albert Giraud in der Übersetzung von Otto Erich Hartleben nur sprechen, deklamieren? Dann könnte die Bedeutung über die Stimmung siegen. Doch gerade dies hatte Schönberg in den Anmerkungen ebenfalls ausschließen wollen. Seine Radikalität nähert sich der Dekonstruktion auf der Ebene der Musik.


Foto: HAU (Bearbeitung, TF)

Die Genrebezeichnung der komponierten Sammlung von 3 mal 7 Gedichten als Melodrama hat nicht weniger zur Verwirrung um die „richtige“ Aufführungspraxis des Pierrot Lunaire beigetragen. Einerseits bezeichnet das Melodrama eine Kunstform, die nicht zufällig aus Jean Jacques Rousseaus Scène Lyrique Pygmalion (1770) mit der Komposition von Georg Benda 1779 hervorgegangen ist. Andererseits ist bereits 1912 das Melodram als populäres und auf Effekte angelegtes Genre verschrien. Das Melodram ist trivial und effekthascherisch. Ob nun Schönbergs Genrebezeichnung mehr in die eine oder in die andere Richtung neigt, kann dahingestellt bleiben. Beide Möglichkeiten sollen kurz angerissen werden.

 

Rousseau hatte für Pygmalion an prominenter Stelle der Lyrischen Szene selbst zwei Kompositionen für die Uraufführung am 30. Oktober 1775 in Paris unter dem Chefdirigenten des Thèâtre-Française, M. Baudron, beigetragen. Er hatte das Andante der Ouverture geschrieben und das erste Stück der Zwischenmusik, das „caractérise, avant que Pygmalion ait parlé, les coups de ciseau qu’il donne sur ses ébauches“. (Oeuvre complètes de J. J. Rousseau Tome 8 / réimprimées d'après les meilleurs textes sous la direction de Louis Barré; illustrées par Tony Johannot, Baron et Célestin Nanteuil... Paris 1856-1857 p. 193)


Foto: HAU (Bearbeitung, TF)

Die Zwischenmusik soll zumindest nach Louis Barrés Formulierung bei Rousseau das künstlerisch-pädagogische Arbeitsprogramm bei der Schaffung der schönen Galathe aus dem Marmorrohling „charakterisieren“. Auf der Ebene der Musik wird demnach die Rede Pygmalions vorausgeschickt. Wie sich Pygmalion als Künstler und Pädagoge also aus dem Marmorblock eine Frau, ein Objekt des Begehrens, einen Menschen meißeln will und damit an die Stelle eines Schöpfergottes setzt, der Beginn des Projekts der Moderne mit dem Meißel in der Hand, das komponiert Rousseau selbst (!) gleichsam als Beginn des Melodramas als Genre. Weitere Zwischenmusiken überlässt er dem Gelegenheitskomponisten Horace Coignet (1735-1821).

 

Das Andante als Tempobezeichnung der Ouverture ist wie die vorweggenommene und gleichsam emotionale Unterfütterung des Pygmalion-Projekts vor dem ersten Meißelhieb programmatisch. Der Künstlerschöpfer schreitet zur Tat – andante: gehend, schreitend. Was demnach mit dem Melodrama als neuartige Verschränkung von Musik und Drama, von Zwischenmusik und deklamiertem Wort in zwei Kompositionen von Rousseau gebahnt wird, könnte beispielsweise allein dem Konzept der Sprechstimme bei Schönberg nicht deutlicher entgegen stehen. Kein Schreiten, keine Wortbedeutung.


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Wie und wann das Melodram, das sich mit Georg Anton Benda (1722-1795) nach einer Ariadne auf Naxos (1775)und Medea (1775) und eben dem Pygmalion (1779) im 18. Jahrhundert ausbildet, im 19. Jahrhundert ins Melodramatische umschlägt, lässt sich nicht genau sagen. Die Unterscheidung von Melodram und Melodrama ist schwierig. Das Melodramatische ist heute besser als overacting bekannt. Für die Uraufführung arbeitete Schönberg mit der Diseuse Albertine Zehme zusammen, die die Komposition bei ihm in Auftrag gegeben hatte und nach Eckhard Fürlus (2005) für ihre "eigenwillig-melodramatische Weise" des Vortrags bekannt war. Insofern ist das Melodram auch im Pierrot Lunaire immer ein Genre des Zuviel gewesen, das die große Bedeutung ins Lächerliche kippen ließ. Das - nicht zuletzt - gilt es, bei Schönbergs Wahl des Genres zu bedenken.

 

Sieht man Bruce LaBruce Inszenierung in diesem Kontext, dann grenzt es geradezu an eine traumwandlerische Werktreue, mit der Bruce LaBruce das Arsenal der Plastik-Schwänze auffährt. Und es wird plausibel, warum der Dirigent Premil Petrović sich ausgerechnet ihn als Regisseur gewünscht hat, wie es der Programmzettel verrät. Man muss nicht einmal die Tradition des Grand-Guignol bemühen. Nicht nur Pierrot ist queer. Vielmehr noch ist die Anlage des Melodramas Pierrot Lunaire von Queerness durchdrungen.


Foto: HAU (Bearbeitung, TF)

Selbst von der Gedichtsammlung Pierrot Lunaire von Albert Giraud (1860-1929) in der Übersetzung von Otto Erich Hartleben (1864-1905) her, die 1911 postum vorgeblich erstmals veröffentlicht wurde, lässt sich viel symbolistische Verschiebung lesen. Bereits 1893 war der Pierrot Lunaire zum ersten Mal in dem von Paul Scheerbart 1892 gegründeten Verlag deutscher Phantasten erschienen. Es ist die Blütezeit des Symbolismus.  

Mit einem phantastischen Lichtstrahl

Erleuchtet der Mond die krystallnen Flacons

Auf dem schwarzen, hochheiligen Waschtisch

Des schweigenden Dandys von Bergamo.

So beginnt das Gedicht Der Dandy. Und wer wollte in diesem Vers nicht Joris-Karl Huysmans À rebours (1884) symbolistischen Dandy-Roman mithören. Gustave Moreaus (1826-1898) Sphinxen, Tigerfrauen und androgynen Sänger erscheinen. In Gustave Moreaus Bildern lösen sich die Geschlechtergrenzen - Mann/Frau, Mensch/Gott, Tod/Leben - auf.

Foto: HAU (Bearbeitung, TF)

 

Bei Albert Giraud wird der Galgen zur Geliebten:

Die dürre Dirne

Mit langem Halse

Wird seine letzte

Geliebte sein.

In seinem Hirne

Steckt wie ein Nagel

Die dürre Dirne

Mit langem Halse.

Schlank wie die Pinie,

Am Hals ein Zöpfchen –

Wollüstig wird sie

Den Schelm umhalsen,

Die dürre Dirne!

So geht das Galgenlied, das sich kaum noch darauf festlegen lässt, was hier im Hirn steckt. Ist es der Gedanke an einen Tod am Galgen? Oder ist eine Dirne so verlockend, dass der Gedanke an sie unter den Galgen führt? Wird der Tod begehrt oder gefürchtet? Le petite mort!


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Für Albert Giraud/Otto Erich Hartleben wird Das Alphabet selbst zum clownesken Heer:

Heut ist mir gar, als wär Parade!

Es klopft mein Herz in schnellrem Schlag:

Mein regenbogenfarbger Leutnant,

Mein Harlequin, führt mir vorüber

Das Alphabet - ein scheckig Heer.

Das Heer der Buchstaben ist selbst scheckig, gefleckt wie der Mond, der bisweilen mit seinen Flecken Gesichter schneidet. Und das scheckige Heer ist in der Lage, als Mondfleck auf dem "schwarzen Rock" zu stören.

Plötzlich stört ihn was an seinem Anzug, ...

Das "scheckig Heer" vermag so seine Späße zu treiben - Pierrot Lunaire

 

Das symbolistische Bildertheater ist nicht zuletzt im Pierrot Lunaire die Zerlegung des Symbols als Sinneinheit. Das Sinnbild kippt in sein Gegenteil. Der Drag-King als Sinnbild des Mannes mit enormem Plastik-Schwanz macht das Bild vom Mann auch lächerlich. Pierrot werden Steroide gespritzt, damit es das Mannsbild endlich mit dem Vater der Braut aufnehmen kann.


Foto: HAU (Bearbeitung, TF)

Das Übermäßige, die Bilderfluten, die Verdopplungen, Vervielfachungen und Vergrößerungen sind nicht einfach Bruce LaBruces Erfindungen, höchstens Übersetzungen. Denn wer sich von einem Pierrot Lunaire Bio-Schonkost und Müsli oder Opulenz und Sinn erwartet, der sollte irgendwie seine romantischen Vorstellungen von Schönberg oder einem mondsüchtigen Pierrot doch einmal überdenken.

 

Bruce LaBruce und Susanne Sachsse haben jedenfalls, mehr als ihnen lieb sein kann, Schönbergs Ton und den Nerv der Zeit 2011 getroffen.

 

Torsten Flüh


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Categories: Oper

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