Leben – Tod – Russland
Leben und Tod in der Platovskischen Steppe
Zu Alexander von Humboldt und Russland in der Botschaft der Russischen Föderation
Der Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland Vladimir Michailowitsch Grinin nennt den grünen, neuesten Band der Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften nicht nur ein Buch, vielmehr sei es ein Werk. Denn Alexander von Humboldt und Russland Eine Spurensuche, herausgegeben von Kerstin Aranda, Andreas Förster und Christian Suckow, wurde mit dem Vortragsabend am 19. Juni im großen Saal sowie einem Empfang im Kuppel- und einem Imbiss im Spiegelsaal der Botschaft Unter-den-Linden 63-65 gefeiert. Das Werk umfasst mehr als 638 Seiten mit zahlreichen historischen und neueren Abbildungen. Und es ist ein Produkt des Akademieprojektes zu Alexander von Humboldts Reise durch Russland im Jahre 1829.

Die Russlandreise galt, zugespitzt formuliert, nicht weniger als einer Neuformulierung der Grenzen zwischen Tod und Leben, die an einer „blutrot gefärbte(n) Wasserlache“ in der Platovskischen Steppe von Christian Gottfried Ehrenberg und Alexander von Humboldt diskutiert wurde, worauf zurückzukommen sein wird. Der Band 31 der Schriftenreihe der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle versammelt die Ergebnisse des Expeditions- und Forschungsprojektes der Deutschen Assoziation der Absolventen und Freunde der Moskauer Lomonossow-Universität (DAMU) zwischen 1994 und 2014. Nicht weniger als 20 Jahre naturwissenschaftshistorische und naturwissenschaftliche Forschung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation finden in dem Band ihren Niederschlag.

Wissenschaft, Wirtschaft und Politik sind auf der Russlandreise Alexander von Humboldts anders und auf entschiedene Weise von vornherein verknüpft. Das unterscheidet sie deutlich von der Amerikareise, den sogenannten Amerikanischen Tagebüchern und der Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent: fait en 1799, 1800, 1801, 1803 et 1804. Humboldts Forschungsinteresse ist 1829 nicht nur durch die Einladung Georg Ludwig Graf Cancrins, der in St. Petersburg seinen Namen in Егор Францевич Канкрин/Jegor Franzewitsch Kankrin übersetzt und abwandelt, von wirtschaftlicher Bedeutung und von politischem Interesse. Sein Ruf und seine Forscherkenntnisse ebenso wie sein Forschungsinteresse werden vielmehr von weiteren Wissensbereichen bereits eingeholt. Dies berührt nicht zuletzt die Formulierung und das Verständnis der „Alexander-von-Humboldt-Nachfolgeexpeditionen“[1], wie sie nun mit der „Spurensuche“ und ihren Ergebnissen zur „Präzisierung unserer Kenntnis des Reiseweges … im Detail und lokale Studien über Aktivitäten der Reisenden“ vorgelegt werden.

Der Reiseplanung nach werden die geologischen, geographischen und geophysikalischen Forschungsarbeiten von Alexander von Humboldt und dem Mineralogen wie Bergbaukenner Gustav Rose von den „Nachfolgeexpeditionen“ entschieden privilegiert. Dementsprechend wurde bereits 1829 dem Forscherteam und seiner Entourage der Bergbauspezialist Dmitrij Stepanovič Men’šnin vom russischen Finanzminister in St. Petersburg zur Seite gestellt.[2] Der junge Mediziner, Zoologe und Paläontologe Ehrenberg darf auf Humboldts Wunsch fast erst in letzter Minute zum Forschungsteam hinzukommen. Er bringt einen neuen Aspekt in die Forschungsinteressen der Reise ein, der mit dem wissenschaftshistorischen Beitrag Eine rote Wasserlache und andere farbige Erscheinungen[3] auf der Spurensuche berücksichtigt wurde. Doch Ehrenbergs Forschungen spielten sich im entscheidenden Feld des Wissens vom Menschen und Leben auf dem Planet Erde ab.

Ob Ehrenbergs erst 1832 in den Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften veröffentlichte Fragen nach dem Leben aus dem Jahr 1830 heute noch eine wissenschaftliche Relevanz haben oder „als überholt gelten müssen“[4], mag dahin gestellt bleiben. Seine Beiträge zur Kenntnis der Organisation der Infusorien und ihrer geografischen Verbreitung, besonders in Sibirien als Vorträge am 4. und 8. März 1830 in der Akademie gehalten, also nur etwas mehr als 2 Monate nach der Rückkehr der Reisenden in Berlin am 28. Dezember 1829, erzählen nicht nur von der Forschungsreise, sondern formulieren mit den „Infusorien“ ein neuartiges Wissen vom Leben. Die Herausbildung unterschiedlicher Wissenszweige vom Leben, den Lebenswissenschaften erhält mit Ehrenbergs „Infusorien“ einen neuen Zweig. Die Organisation des Wissens von der Erde und dem Leben auf ihr wird auf der Forschungsreise auch politisch verkoppelt.

Wie politisch war die Russland-Forschungsreise? Der russische Finanzminister Georg Ludwig Graf Cancrin, 1774 im hessischen Hanau geboren, Absolvent der protestantischen Universitäten in Gießen und Marburg, wandte sich von St. Petersburg aus 1827 an Alexander von Humboldt, um seinen Rat bezüglich der Einführung einer Platinwährung einzuholen, wie Christian Suckow es als „eigentlich marginale(n) Anlass“ formuliert.[5] Als Absolvent der Freiberger Bergbauakademie und ehemaligen Mitarbeiter der preußischen Berg-Administration, den zudem Bodenschätze, Gold- und Währungskurven zeitlebens interessierten, worauf kürzlich anlässlich des Potsdamer Symposiums hingewiesen wurde, musste Humboldt dem Finanzminister des am 3. September 1825 zum Zaren bzw. nach der von seinem Vorgänger eingeführten Sprachregelung „Kaiser“ gekrönten Nikolaus I. als kompetent erscheinen.

Die Geowissenschaften sind für Alexander von Humboldt auch durch einen Notizzettel in der Staatsbibliothek eng mit der „Geldproduktion und Geldmenge“ verknüpft. So exzerpierte er „From the Gazette of Vera Cruz“ eine Tabelle der Gold-, Silber- und Kupferproduktion in den Jahren zwischen 1811 bis 1818. Nach dem Notizzettel beschäftigte er sich bereits 1809 mit der Silber- bzw. Geldproduktion – Französisch: d’argent – der Departements in Paris. Der unscheinbare Notizzettel mag einen Hinweis darauf geben, dass Humboldt für den Finanzminister als kompetent gelten musste. Denn erstens war das russische Herrscherhaus, Romanow-Holstein-Gottorf, nämlich kurz vor einem Staatsbankrott bzw. hatte gerade einen überstanden und zweitens hatte Cancrin bereits 1821 sein Werk Weltreichtum, Nationalreichtum und Staatswirtschaft: oder Versuch neuer Ansichten zur politischen Ökonomie in St. Petersburg vorgelegt.

Die Marginalie der „politischen Ökonomie“ mag Humboldt vielleicht nicht unmittelbar interessiert haben, dennoch ist sie ihm vom Bergwesen her bekannt. Im Antwortbrief „von der Hand eines Schreibers“ an Cancrin aus Berlin vom 19. November 1827 geht Humboldt ausführlich auf den umfangreichen und detaillierten Brief von Cancrin ein. Er zieht selbst Nachforschungen über den „Platin-Verkehr“ „in Frankreich und England bey Süd-Amerikanischen Freunden“ ein und gibt vor allem zu bedenken, dass die „Russische Platin-Münze … den Preis der Platina auf dem Weltmarkte allerdings modificiren (werde), sie kann ihn aber nicht wesentlich bestimmen oder beherrschen“.[6] Abgesehen von einigen weiteren Vorschlägen, beispielsweise „Ehren Zeichen“ statt in Gold oder Silber nun in Platin zu prägen, ist die Formulierung zum „Preis der Platina“ nicht nur richtig, vielmehr macht sie den Finanzminister auf das Problem der Zirkulation von Werten aufmerksam, das sich nur schwer „beherrschen“ lässt.

Der Finanzminister Cancrin wird es 1829 als Investition begriffen haben, die Organisation und finanzielle Ausstattung der Forschungsreise mit einer Verdoppelung von 10.000 auf 20.000 Rubel durch den Kaiser zu fördern. In der Humboldtschen Sprachregelung wird das dann als Großzügigkeit des Kaisers oder „liebenswürdigste() Freiheit“ formuliert. Doch die Platinwährung und die Bodenschätze des Ural sind für Cancrin, „dem Schirmherrn der ganzen Unternehmung“ (Suckow, S. 9) von brennender Wichtigkeit. Der Forscher und Bergwerksexperte Humboldt wird nicht zuletzt als eine Art kaiserlicher Inspektor des Finanzministers in „luxuriösen Kaleschen und ein(em) Spezialzelt für geomagnetische Messungen“ vom Nordwesten in die russischen Weiten und Provinzen geschickt. Gleichzeitig wird Humboldt darauf verpflichtet, sich politischer Äußerungen oder Aktivitäten beispielsweise hinsichtlich der Leibeigenschaft zu enthalten und auf „eine transdisziplinär ausgerichtete Analyse“ zu verzichten.[7]

Den politischen Ökonomen, Cancrin, interessiert es, die Staatsfinanzen und das Finanzwesen in den Griff zu bekommen. In einem kleinen Staat mag das schwierig, aber machbar erscheinen. Russland erstreckt sich auf einer kaum vermessenen und lediglich durch Klimazonen – „Eisklima“, „Moos- und Rentierland“, „Wald- und Gersten-, oder auch Klippen- und Haideklima“, „Roggen- und Haferklima“, „Baumfrucht- und Waizenklima“, „Weinklima“, „Seiden- und Kastanienklima“, „Olivenklima“, „Citronenklima“, „Palmen-, Brodfrucht- und Gewürzklima (Cancrin, 124/125) - über Europa und Asien vom Polarmeer bis ans Kaspische Meer nach Arabien. Cancrin formuliert die Weiten Russlands 1821 nach einer agrarischen Klimatologie, deren Grenzen fließend sind. Die politische Ökonomie wird nicht geo-logisch, sondern nach der Agrarproduktion für Russland klimatologisch entwickelt.

Die Ausdehnung des russischen Reiches bringt für Cancrin und seine Administration im „europäischen“ St. Petersburg auch Probleme der Wertschöpfung, der Wertstabilisierung und –erhaltung mit sich. Erscheint dem politischen Ökonomen 1821 „das Papiergeld, wie billig, verworfen“ (S. 226), so erhofft er sich 1827 eine Abhilfe des Wertverfalls durch Stabilisierung mit einer (harten, raren) Platinwährung, die auf den Rat von Humboldt dann doch nicht eingeführt wird. Denn Humboldt hatte mit den Ehren-Zeichen, der Wertmodifikation und der Unbeherrschbarkeit der Platinwährung auf das Problem der Konvertibilität vor allem als eines des Zeichencharakters von Geld aufmerksam gemacht. Später wird Cancrin gar für seine lockere Papiergeld-Politik von Finanzexperten gescholten werden. Auf die Frage, wie „sich denn nun ein Staat in seinen Finanzängsten helfen“ solle, findet Cancrin 1921 keine andere Formulierung als eine Warnung vor dem „großen apokalyptischen Thier() ... Papiergeld“:
Wie jeder vernünftige Privatmann Extreme vermeidend, indem man sich von den vier großen apokalyptischen Thieren im Geldwesen, Münzverschlechterung, Papiergeld, Staatsschuldensysteme und übertriebenem künstlichen Handelskapital fern haltend seine Ausgaben mit seinen natürlichen Einnahmen ins Verhältnis bringt… (S. 226)

Immerhin erwähnt Cancrin in seiner politischen Ökonomie im Anhang als Bestandteil der „Staatswirtschaft“ unter den „erwerbenden Hülfswissenschaften“ neben „Ackerbau= Technoligie“ die „Bergwissenschaften u. s. w.“. (S. 243) Erstaunlicherweise spielten die reichen Bodenschätze als „Nationalreichtum“ gar keine Rolle. Anders gesagt: mit Humboldts Russlandreise verändert sich zumindest in der politischen Ökonomie des russischen Finanzministers und dessen Administration das staatspolitische Denken der „Bergwissenschaften“. Das allenfalls in der höfischen Luxusgüterindustrie des 17. und 18. Jahrhundert verbreitete Wissen von den Bodenschätzen wird mit der Russlandreise Alexander von Humboldts zum entschiedenen und entscheidenden staatswirtschaftlichen Wissen der russischen Nation. Im Dezember 1839 erscheint im Politischen Journal Sammlung von Staatsacten nebst geschichtlichen und staatswissenschaftlichen Verhandlungen aus Hamburg anonym der Artikel Die oriental. Frage - Krieg oder Frieden?, in dem „Hr. v. Cancrin“ dafür gelobt wird, dass die „Geldquellen … weise und mit Kraft geordnet (wurden)“. (S. 560) „Successiv ist soviel Geld in Russland angehäuft, dass ganz Europa an der Ebbe leidet.“

Fehlt in der politischen Ökonomie Cancrins 1821 der Hinweis auf den Bergbau fast gänzlich, hat er 1845 in Die Qekonomie der menschlichen Gesellschaften und das Finanzwesen. Von einem ehemaligen Finanzminister das humboldtsche Wissen „Vom Bergwesen“ sich nunmehr zu Eigen gemacht und dem Abschnitt „Vom Kapital“ vorgeschaltet. Selbst wenn die neuartige politische Ökonomie Cancrins nicht den wissenschaftlichen Standards seiner Zeit entspricht, betont er nunmehr unumwunden, dass der Bergbau „zu den wichtigsten Zweigen der Produktion (gehört)“. Wie ein Echo Humboldts formuliert er: „Irrig glaubte man einst, das Gold sey hauptsächlich den warmen Zonen eigen: jetzt wäscht man beinahe fabelhafte Quantitäten Gold in den unwirthbaren Einöden Sibiriens.“ (S. 90) Die Bedürfnisse des Menschen haben sich mit Humboldts Beiträgen und der Industrialisierung vollkommen verändert. Das Eisen und die Eisenbahnen sind nunmehr für Cancrin zum Schlüssel für die politische Ökonomie geworden.
Die Metalle sind zwar kein erstes Bedürfnis des Menschen, denn eine Volksgesellschaft kann ohne Eisen bestehen, freilich in einem sehr begrenzten Zustand, aber genug, wenn sie glücklich ist. Da indessen der Zustand der Gesellschaft nothwendig fortschreitet, oft kaum merklich, manchmal sprungweise, oft, wie in unsern Tagen, sehr rasch, ja stürmisch, zuweilen gewaltsam, wie zu den Zeiten der Römer, so sind die Metalle und Mineralien unentbehrlich geworden. (S. 89)

Ottmar Ette hat scharf herausgestellt, wie politisch brisant für Humboldt die Forschungsreise durch Russland verlief, sie sich auf die Formulierung von Wissenschaft auswirkte und dass die „Reduzierung des Humboldt’schen Werks über Zentralasien auf die Bereiche der science exactes (…) Humboldts Asie centrale sicherlich in die am stärksten von diesen Disziplinen geprägte Schrift seines gesamten wissenschaftlichen Œuvre (verwandelte)“.[8] Geht man nicht nur davon aus, dass Nikolaus I. allein aus guten familiären Kontakten nach Berlin Humboldts Reise und Forschungen aufwendig förderte, sondern bringt in Anschlag, dass Georg Cancrin, der seit 1823 bereits Finanzminister unter Alexander I. war, dann spitzt sich die politische Dimension und dessen Dilemma zu. Die science exactes, die Reiseplanung und ihre ebenso straffe Organisation wie luxuriöse Ausstattung machen sie zu einem machtpolitischen Projekt Cancrins, der auch 1845 nach 21 Jahren als russischer Finanzminister noch gegen eine Abschaffung der Leibeigenschaft argumentiert. Cancrin streicht die Dimension seiner Schrift als Wissenschaft „aus dem Spiegel seines Lebens“ (S. IV) zu Beginn heraus, um im Namen des Wissens zu konstatieren, „dass die Leibeigenschaft nicht das schlechteste Verhältnis ist, in das ein Mensch geraten kann. Der leibeigene russische Bauer ist, ohne Vergleich, in einer besseren Lage als der irische Kleinpächter …“ (S. 41)

1843 erscheint Alexander von Humboldts Asie Centrale. Recherches Sur Les Montagnes Et La Climatologie Comparee. im Modus der geographischen, geologischen und geophysikalischen Bergforschungen oder „Bergwissenschaften“ unter Ergänzung der Klimatologie. Die Erderforschung als exakte Wissenschaft schafft ein vielfältiges Wissen, das am Freitag letzter Woche von Anatolij V. Stepanov, Urale Föderale B. N. Jelzin-Universität, Jekaterinburg, in seinem auf Russisch gehaltenen Vortrag, Die russische Reise Alexander von Humboldts und die Transformation der Ansichten in der Erdkunde, in Erinnerung gerufen wurde. Er erinnerte daran, dass Humboldt im Alter von 87 Jahren Russland als „das Land, wo die Geographie am ernstesten getrieben wird“, beschrieben habe. Die Bedeutung und Ernsthaftigkeit der russischen Geographie fächerte Stepanov in ein ganzes Spektrum geo-logischer Wissenszweige auf.

Geologie, Geomorphologie und Tektonik haben sich nach Stepanov infolge der Humboldtschen Forschungen als „systematische und verwandte Disziplinen“[9] in der russischen Naturwissenschaft herausgebildet. Ebenso gehen die russische Ressourcenforschung, Klimatologie und Meteorologie auf ihn zurück. Die „Limologie“ als „russische Lehre von den Grenzen“, insbesondere der durch den Ural als „Wasserscheide zwischen den westlichen und östlichen Hängen … entlang der Kammlinie, die als Grenze zwischen Europa und Asien aufgefasst wird“. Für den Wirtschaftsgeografen Anatolij V. Stepanov liegt Humboldts „Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaft im Russischen Reich und später in der Sowjetunion … weitgehend (in der) Rezeption seiner Lehren und seiner Beobachtungsmethoden, die in seinen Werken dargelegt sind“.

Humboldts geognostische oder erdwissenschaftliche Vermessung Russlands ersetzt ein agrarisch-klimatologisches Grenzsystem, in dem die Grenzen unscharf bleiben, beispielsweise durch das einer von ihm nur vermuteten bergwissenschaftlichen „Wasserscheide“ im Ural zwischen Europa und Asien. Der Titel Asie Centrale mit seiner science exactes von den Bergen und der Klimatologie unterläuft allerdings schon im Titel eine genaue Grenzziehung. Denn die Humboldtian Science zeichnet sich nach Ottmar Ette dadurch aus, dass sie eine aus der Bewegung heraus und eine Wissenschaft in Bewegung ist. Mehr noch als die Grenzen Asiens, die Humboldt neugierig überschreitet, werden in den Erzählungen die von Europa im 19., 20. UND 21. Jahrhundert zur Frage von kosmopolitischem oder geopolitischem Denken wie beispielsweise bei Gayatri Chakravorty Spivaks Mosse-Lecture. Alexander von Humboldt wird durch die Geowissenschaften zum Kosmologen und Kosmopolitiker. Cancrin allerdings hat ihn als politischer Ökonom auf seiner Reise zu einem guten Teil geopolitisch instrumentalisiert.

Die Frage der Grenzen und ihre Überschreitung stellt sich auf deutliche Weise anders mit den „Infusorien“ Christian Gottfried Ehrenbergs. Was sind Infusorien? Einerseits kann man sagen, dass Infusorien Kleinstlebewesen wie Rädertierchen etc. sind, damit wären sie dem Leben zuzuschlagen. Andererseits sind Infusorien vom Namen her „Aufgusstierchen“. Durch die Infusion von Wasser werden sie allererst lebendig oder mit Ehrenberg: „sie leben nur im Wasser“.(S. 15) Die Frage von toter Materie oder tierischem, geradezu anthropomorphem Leben wird an den Infusorien diskutiert, wenn es erstens um „Urschleim“ und zweitens um Lebewesen mit Augen, Mägen, Mündern, Eierstöcken und Wimpern geht, die „Fastenzeit(en)“ durchmachen. Ehrenbergs medientechnologische Verschaltung von Mikroskop, Materialträger, Zeichnung und Sprache wurde kürzlich mit einer ersten Sichtung der digitalisierten Sammlung Ehrenberg im Museum für Naturkunde Berlin anlässlich einer Diskussion um neuartige Ordnungsmethoden beim Kultur-Hackathon {COD1NG DA V1NC1} besprochen.

Foto: Museum für Naturkunde Berlin - Sammlung Ehrenberg
Die Grenzbestimmung zwischen Leben und Tod findet von Ehrenberg nach Petra Werner insbesondere im Umfeld der „blutigroten Erscheinungen“ in der Natur statt, die um 1800 noch fest in biblisch-religiösen ebenso wie Narrativen des Volks- oder Aberglaubens verortet sind. Als die Forscher „in der sogenannten Platovskischen Steppe zwischen Bernaul und Kolyvan' Station machten, bemerkte Ehrenberg eine Wasserlache von seltsam roter Färbung“. (S. 148) Die „blutigroten Erscheinungen“ werden semiologisch entweder nachträglich als Bestrafung gedeutet und/oder prognostisch als Vorzeichen für ein Unglück aufgefasst. Im 18. Jahrhundert transformieren sich die Erzählungen von den Erscheinungen in die Frage, „ob es sich um Lebewesen oder anorganische Stäube handelte und ob sie terrestrischer oder extraterrestrischer Herkunft seien“.[10] Anders gesagt und stärker auf das Religiöse oder Seelische der russischen Nation bezogen: Die Herkunft des Lebens, ob von Gott, aus dem Erdenstaub oder dem Weltall, wird von Ehrenberg mit den Infusorien untersucht.

Foto: Museum für Naturkunde Berlin - Sammlung Ehrenberg
Kulturgeschichtlich wie wissenschaftshistorisch sind Ehrenbergs Infusorien, die er als Wissensmodell vom Ursprung des Lebens in der Permafrost Region Sibiriens, wo das Leben besonders karg ist, ebenso vorfindet wie „früher in Afrika und Europa“ (S. 3), ein wichtiges Projekt. Lebewesen sind sie für den Zoologen vor allem, weil er sie unter dem Mikroskop in Bewegung beobachten konnte. Ehrenbergs Wunsch, an Humboldts Reise teilzunehmen, entspringt auch einem generalisierenden Ansatz, das Rätsel des Lebens durch die „Infusorien und ihre() geographische Verbreitung“ auf einem möglichst großen „Theil der Erdoberfläche“ zu lösen.
… Herrn Baron Alexander von Humboldt’s Reise nach den russischen Provinzen bis an die chinesische Dzungarei, an welcher Theil zu nehmen ich die ehrenvolle und freundliche Aufforderung erhielt, und die mitten in einem verhängnisvollen Kriege von Sr. Majestät dem Kaiser von Rußland auf das liberalste begünstigt und von allen berührten Behörden auf das thätigste unterstützt wurde, gab mir Gelegenheit, wieder einen sehr bedeutenden Theil der Erdoberfläche kennen zu lernen, und ich habe dabei nicht unterlassen, auch auf die geographischen Verhältnisse der kleinsten Formen des organischen Lebens in jenen großen Länderstrecken meine Aufmerksamkeit unausgesetzt … (S. 2/3)

Foto: Museum für Naturkunde Berlin - Sammlung Ehrenberg
Für Ehrenberg ist die Ordnung der Infusorien u. a. deshalb so wichtig, weil es „gleichsam Weltbürger unter ihnen giebt“. (S. 57) Die Verbreitung der KOLPODA cucullus ist so ein Weltbürger - zumindest was den Sinai bis Dongala, Berlin, St. Petersburg, Bogoslofska und am Altai anbetrifft. Durch seine Forschungen kann Ehrenberg, die „Idee, als hinge der Mensch, wenn auch nur zum Theil vom Willen ihn zusammensetzender Infusorien ab, (…) durch die Beobachtungen beseitig(en)“. (S. 59) Zwar klingt die Idee, vom Menschen unter dem „Willen ihn zusammensetzender Infusorien“ zu stehen, aberwitzig, doch wurde er in der Infusorienliteratur zumindest formuliert. Finden sich die Infusorien doch in jenem unheimlichen Bereich außerirdischen Meteoritenstaubs und Lebens, das den Menschen der Moderne bis in die allerjüngste Gegenwart mit dem Kometenlander Philae heimsucht. Zu einem guten Teil nährt sich die NASA von Wissenschaftsmodellen, an deren Ursprünge sich die Infusorien finden, um es einmal so zu formulieren.

Foto: Museum für Naturkunde Berlin - Sammlung Ehrenberg
Die Herkunft des Lebens als Wissenschaft vom Leben wird nicht zuletzt mit Humboldts Einladung an Ehrenberg auf der geowissenschaftlich organisierten Reise durch Russland zur entscheidenden Wissenschaftsfrage. Die durch Humboldt mit der Einladung vorgenommene Akzentuierung gibt einen Wink auf das von ihm berg- und geowissenschaftlich strukturierte Forschungsprojekt. Die Geowissenschaften, die bei Humboldt insbesondere mit der Russlandreise hervortreten, genügen sich nicht in einem berechenbaren Selbstzweck, vielmehr erkunden die Terralogien das Leben, indem sie religiös mächtige „blutrote Erscheinungen“ in Lebewesen und Lebenswissen umschreiben, die im kosmologischen, eher netzwerkartigen als hierarchischem System ihre Funktion haben.
Torsten Flüh
Alexander von Humboldt und Russland
Eine Spurensuche
Hrsg. v. Aranda, Kerstin / Förster, Andreas / Suckow, Christian
24 x 17 cmXIV, 638 Seiten84 Abb.
DE GRUYTER AKADEMIE FORSCHUNG
Zielgruppe: Kulturwissenschaftler, Wissenschaftshistoriker.
149,95 € / $207.00 / £112.99
Alexander von Humboldt
Briefe aus Russland 1829
Mit einem einleitenden Essay von Ottmar Ette
Hrsg. v. Knobloch, Eberhard / Schwarz, Ingo / Suckow, Christian
24 x 17 cm 330 Seiten 6 Abb. AKADEMIE VERLAG
64,95 € / $91.00 / £48.99
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[1] Aranda, Kerstin: Vorwort. In: Aranda, Kerstin; Förster, Andreas; Suckow, Christian (Hrsg.): Alexander von Humboldt und Russland. Eine Spurensuche. Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung Bd. 31. Berlin/Boston 2014. S. IX
[2] Vgl. Ette, Ottmar: Alexander von Humboldts Briefe aus Russland – Wissenschaft im Zeichen des Erlebens. In: Knobloch, Eberhard; Schwarz, Ingo; Suckow, Christian (Hrsg.): Alexander von Humboldt – Briefe aus Russland 1829. Berlin 2009. S. 22
[3] Werner, Petra: Eine rote Wasserlache und andere farbige Erscheinungen. Zu Christian Gottfried Ehrenbergs Beobachtungen in Russland. In: ebenda S. 147-166
[5] Suckow, Christian: Eine ,große Masse von Ideen‘ – Verlauf und Ergebnisse der russisch-sibirischen Reise Alexander von Humboldts, Gustav Roses und Christian Gottfried Ehrenbergs 1829. In: Aranda, Kerstin; Förster, Andreas; Suckow, Christian (Hrsg.): Alexander von Humboldt und Russland. Eine Spurensuche. Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung Bd. 31. Berlin/Boston 2014. S. 6
[6] a.a.O. Knobloch … S. 75
[9] Zitat nach: Handzettel: Die russische Reise Alexander von Humboldts und die Transformation der Ansichten in der Erdkunde. (Kurzfassung) 19. Juni 2015
[10] a.a.O. Werner S. 147
40525ddb-5af0-440c-8c72-a2e681dc0493|0|.0
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