Löschen – Zensur – Gesellschaft
Vom Wissen im Netz
Im Wikimedia-Salon ABC des Freien Wissens wird über das Löschen diskutiert
Der Wikimedia-Salon zum Buchstaben N wie Niemandsland bearbeitete die Anarchie im Netz an einem medienhistorischen Ort. Der Salon war in den Freiraum, einem „Future Lab“, im Museum für Kommunikation gezogen. Im Lichthof des gründerzeitlichen ehemaligen Reichspostamtes und Reichspostmuseums hängt im 1. Stock eine Postkutsche von der Decke, während rechts darüber im 2. Stock das Future Lab den Wikimedia-Salon in jenem Raum beherbergt, wo ab 1935 regelmäßige Fernsehübertragungen von Witzleben im Westen ins Zeitungsviertel von Stadtmitte stattfanden. Der Fernsehsender Paul Nipkow sendete 1934 bis 1944 als erster weltweit regelmäßig aus dem Studio in Berlin-Witzleben.
Am 1. Dezember wurde aus dem mehr oder weniger historischen Raum, der im 2. Weltkrieg schwer beschädigt wurde, der Wikimedia-Salon live ins Internet gestreamt. Michael Seemann, Blogger, diskutierte mit Eva Horn, Social Media-Redakteurin bei Spiegel Online, und Bruno Kramm, Musiker, Musikproduzent, Blogger, Twitterer und ehem. Berliner Landesvorsitzender der Piratenpartei, über Anarchie im Netz. Verstanden sich einst Blogger wie Michael Seemann als „Freiheitskämpfer“ mit anarchistischem Gestus, so sehen sie sich heute im „Regulierungsdilemma“ gegenüber den Big Players wie Facebook. Die Anarchie hat sich mit den Mikro- und Nanoblogs von Facebook und Twitter in rechten Populismus verkehrt.
Weil es im Input-Referat von Michael Seemann nicht genauer angesprochen wurde und im Gespräch auch keine ausdrückliche Erwähnung fand, soll an dieser Stelle doch einmal der Gedankenschritt eingebaut werden, dass die Verkürzung des Mediums Blog durch Facebook und mehr noch Twitter im Hashtag-Rausch – # – wesentlich zum Umbruch in der – mit Vorbehalt – Meinungsäußerung beigetragen hat. Die Verkürzung der sprachlichen Mitteilung in der Öffentlichkeit des Internets hat nach relativ kurzer Zeit eine für Freiheit kämpfende Anarchie in einen Meinungsterror umschlagen lassen. Erstens sprechen dafür die Bots, die allein durch das Aktivieren der Like-Funktion und der damit verknüpften Verlinkung Stimmung in großem Ausmaß generieren. Zweitens schafft die Hashtagisierung einer Kurznachricht auf Twitter eine breite Streuung, die Realität herausbildet. Und drittens heizen formelhafte Beschimpfungen durch massenhafte Wiederholungen ganze Protestbewegungen an.
Vorausgeschickt werden muss weiterhin, dass „das Netz“ nicht nur „kein Außen mehr“ kennt, wie es Michael Seemann eröffnend formulierte, sondern dass die Mikro- und Nanoblocks eben jene verkürzte, formelhafte und eingeschränkte Wahrnehmung in die „analoge“ Realität übertragen. Das Gerücht wird zum mächtigen und folgenreichen Wissensformat.[1] Jüngstes Beispiel dafür ist die Verkettung eines infamen Wahlkampf-Tweets von General Flynn vom 2. November 19:18, mit 7.957 Herzen bewertet, der neue E-Mails von Hillary Clinton mit Hinweisen auf Sexualverbrechen mit Kindern ankündigte und einen Link legte zu einer Enthüllungsplattform, die ein Pizzarestaurant zum Treffpunkt von Sexualverbrechern machte, mit einer Ermittlung in der Wirklichkeit. Am Sonntag stürmte ein junger Mann eben dieses Pizzarestaurant in Washington, um mit Waffengewalt selbst nachzuforschen.
U decide - NYPD Blows Whistle on New Hillary Emails: Money Laundering, Sex Crimes w Children, etc...MUST READ! http://truepundit.com/breaking-bombshell-nypd-blows-whistle-on-new-hillary-emails-money-laundering-sex-crimes-with-children-child-exploitation-pay-to-play-perjury/ …[2]
Mit einer gewissen Verzögerung von knapp 4 Wochen hat der Tweet mit dem Aufruf zur Entscheidung – „U decide“/Ihr entscheidet – und der befehlsförmigen Aufforderung zum Lesen – „MUST READ!“ – bewirkt, dass sich ein junger, bewaffneter Mann in ein Auto setzt, um den Behauptungen von General Flynn nachzugehen. Zweierlei ist an den Formulierungen auffällig. Durch die verkürzte Formulierung „U decide“ für „You decide“ schlägt der infame Tweet nicht nur vor, dass die Leser über das Gerücht entscheiden sollten, sondern General Flynn entzieht sich auch einer Verantwortung für die Behauptung. Er schützt sich in juristischer Hinsicht, setzt ein vermeintliches Wissen in die Welt und fordert die Leser dazu auf, über dessen Wahrheit zu entscheiden. Der junge, bewaffnete Mann vollzog also genau das, was ihm im Tweet geheißen. Und er löste damit einen beeindruckenden Polizeieinsatz in Washington aus.
Die sprachliche Verknappung des Nanoblogs Twitter – max. 140 Zeichen – löst geradezu idealtypisch zweierlei aus: Das knappe Gerücht nach Art der Verschwörungstheorie stellt Wissen her, das nach Verifizierung verlangt, was nicht im Medium des Nanoblogs wegen der Verknappung geleistet werden kann. Twitter ist keinesfalls ein Mikroblog. Vielmehr führt die Verzwergung der Nachricht zu knappen, befehlsförmigen Anweisungen. Der Imperativ, wie er von General Flynn quasi einleitend und abschließend zweimal gebraucht und durch das Ausrufezeichen verstärkt wird, entspricht dem Format der Nanoisierung: Mach das! Dass Michael Thomas Flynn als ehemaliger Direktor der Defense Intelligence Agency die befehlsförmige Nanoisierung im Tweet beherrscht, ist natürlich kein Zufall, sondern Usus militärischer Befehlspraktiken. Er wird nun Nationaler Sicherheitsberater in der Regierung Trump!
Für die Frage nach der Anarchie im Netz wird mit dieser Geschichte deutlich, dass General Flynn zwar ein abstruses Gerücht verbreitete, aber dabei durchaus juristisch relevante Formulierungen benutzte. Die anarchische Geste des Tweets findet somit unter Einhaltung der juristisch relevanten Regeln statt. Nicht einmal eine Beleidigung, Verleumdung oder Diffamierung erfüllt der Tweet. Die Anarchie findet paradoxerweise unter Beachtung von juristischen Regeln statt. Es ist mit der einleitenden Formulierung „u decide“ nicht einmal eine strafrechtlich relevante Hass-Mail oder Hassrede geschweige „Hasskriminalität”. General Flynn verunglimpft niemanden oder beschimpft Hillary Clinton, neben der Erzeugung einer Stimmung gegen die Kandidatin erreicht er allerdings, dass seine Aufforderung sozusagen buchstäblich in die Tat gesetzt wird. Das hätte durchaus zu schlimmeren Folgen führen können. Es ist weniger relevant, was er getwittert hat, als vielmehr wie er es formulierte.
Michael Seemann fragte zu Beginn Eva Horn und Bruno Kramm, wann und welche Kommentare sie zuletzt gelöscht hätten. Löschen gehört beim Spiegel Online und anderen Online-Medien heute offenbar zu den Hauptaufgaben redaktioneller Arbeit, wenn man Eva Horn folgen will. Recht eindrucksvoll berichtete sie, dass sie ausführlich mit dem Löschen von Beleidigungen vor allem gegen Angela Merkel und sogenannte Gutmenschen befasst sei. Dabei wird offenbar gerade die sexistische Formulierung „Angela Merkel, du Fotze“ besonders häufig in Kommentaren benutzt, die umgehend gelöscht werden.[3]/[4] Bruno Kramm erinnerte sich an Hasskommentare, als er vor der Türkischen Botschaft in der Tiergartenstraße gegen den „Flüchtlingsdeal“ mit einem polizeilich verbotenen Zitat aus dem inkriminierten Gedicht Schmähkritik auf Erdogan am 26. April 2016 demonstriert hatte.
Wann wird das Löschen von Beleidigungen und Falschmeldungen, Fakes in Social Media zur Zensur? Hätten Twitter-Redakteure den Tweet von General Flynn löschen können oder gar müssen? Von Seemann angeführte Tatbestände wie Stalking oder Harassment erfüllt er nicht. Die Frage nach Zensur poppte ein-, zweimal im Gespräch auf, um fast beantwortet, schnell wieder beschwiegen zu werden. Eva Horn antwortete mit journalistischem Handwerkszeug wie Quellenrecherche. Der Ex-Pirat Bruno Kramm kennt mehr das Glossar des Arnachotexters von „post-faktisch“ über „Populismus“, „Moorhühnchen“, „Protest“ bis zur „Medienkompetenz“. Und er hat absolut kein Problem damit, beim machtkonformen Fernsehsender RT Deutsch, also der betont deutschen Ausgabe von Russia Today nicht nur Interviews zu seiner Klage gegen die GEMA zu geben. Er schrammt dabei sprachlich immer charmant gerade an der Beleidigung vorbei und findet es auch eher medienwirksam notwendig, Schmähkritik gegen das Polizeiverbot auf der Demonstration zu zitieren. Gibt es also kein Problem der Zensur beim Löschen?
Natürlich ist Löschen immer auch Zensur und damit problematisch. Gerade die sexistisch formulierte Beleidigung gegen Würdenträger oder, wenn man so will, Funktionäre des Staates gehört allerdings seit 1759 mit Voltaires Candide zum Grundrepertoire der Satire und der Aufklärung.[5] Leonard Bernstein hat da in den 50er Jahren mit seinem gleichnamigen Musical angeknüpft. Der Staat und seine Repräsentanten als Funktionäre der Macht müssen sich quasi seit dem Projekt der Aufklärung die sexistische Beleidigung gefallen lassen. Man kann durchaus sagen, dass genau deshalb die Beleidigungen gegen Personen des öffentlichen Lebens nicht automatisch strafbar sind. Das Gut der Presse- und Meinungsfreiheit wird keine Verurteilung ermöglichen. Heiko Maas liegt mit seinem Tweet „#Hasskriminalität“ vom 18. Mai 2016 03:08 und dem Foto der Zusammenfassung der „Hassrede im Netz“ durch Stiftung Warentest eben auch falsch bzw. daneben.[6] Sexistische Beleidigungen sind nicht strafbar.
Aber dann können das die Social Media-Redakteurinnen wenigstens löschen? Was einfach und drastisch klingt, muss als Problem von Öffentlichkeit im Netz ernst genommen werden. Ein juristisch nicht relevanter Tweet kann zwar unmoralisch und politisch nicht korrekt sein, während er sogar nicht nur zur Stimmungsmache, sondern im Pizzarestaurant zu dramatischen Folgen führt. Aber er würde jeden Versuch der Löschung nach Regeln unterlaufen. Man kann diesen Fall des künftigen Nationalen Sicherheitsberaters gar nicht streng genug in der Diskussion um Anarchie im Netz betonen. Sexistische Beleidigungen formuliert der Ex-General aus political correctness nicht, sehr wohl wirkt er nicht nur an der Verbreitung eines abstrusen Gerüchts mit, sondern befiehlt auch noch dessen Verifizierung.
Natürlich hat jede Redakteurin das Recht, ihr nicht genehme Beiträge in ihrem Publikationsmedium zu löschen. Das gehört zum Geschäft und Verständnis des Journalismus und der Medien von der Zeitung über das Fernsehen bis zum Nanoblog Twitter. Man könnte also durchaus sagen, dass Facebook und Twitter heute besonders große Zeitungen mit einer erstaunlichen Meinungsvielfalt sind. Selbst Suchmaschinen wie Google rücken praxeologisch in die Nähe von Zeitungen. Google- und andere Algorithmen lassen sich ihrer Funktion nach als Redaktionsfunktionen verstehen. Genau das wird mehr oder weniger erfolgreich bei Facebook angewendet, wenn der Gebrauch bestimmter inkriminierter Begriff dazu führt, dass ein Profil automatisch abgeschaltet wird. Damit ändert sich das Verständnis von Öffentlichkeit in einer globalen Vernetzung grundsätzlich. Die Frage der Zensur muss genauer gestellt werden. Hat das Internet nicht vielmehr einen Grad an Institutionalisierung erreicht, der jeden redaktionellen Eingriff ermöglicht, erlaubt, gar erfordert?
Was als Anarchie durch Google und auf Facebook wie Twitter erscheint, lässt sich kaum noch als Herrschaftslosigkeit und Regellosigkeit akzeptieren, weil die algorithmische Herrschaft von Google, Facebook, Twitter etc. sie nicht nur zulässt, sondern fördert. Nie zuvor wurde ein Wahlergebnis durch Algorithmen so sehr befördert, wie die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. Die Prognostik hat nicht etwa nicht funktioniert, sondern die Wahlentscheidung ist durch die Herrschaft der Algorithmen und Hashtags gepusht worden. Die Wähler halten es dann für ihre Meinung und Entscheidung. Die Wahrnehmung, dass Donald Trump durch Unwissen an die Macht gekommen ist, muss man als veraltet konstatieren. Er ist durch das Wissen der Algorithmen und Hashtags Wahlsieger geworden. Sie generieren, um einen leicht angestaubten, aber treffenden Begriff zu gebrauchen, Herrschaftswissen, für das man getrost General Flynn zum Exempel nehmen kann.
Eva Horn argumentierte mehrfach damit, dass das vermeintlich anarchistische Verhalten im Netz ein Problem der Gesellschaft sei. Eine Frau aus dem Publikum argumentierte damit, dass mehr Bildung zu einer Verbesserung des Verhaltens im Netz führen werde. Gesellschaft und Bildung müssen das sich generierende Herrschaftswissen im Netz und aus dem Netz verfehlen. Und die Medienpraxis von Bruno Kramm zu RT Deutsch zu gehen, damit man eine bestimmte Schicht der ins Gespräch gekommenen RTL-Zuschauer erreicht, darf zumindest als adäquat angezweifelt werden. Ob sich die Zuschauer von RTL auch RT Deutsch ansehen, darf zumindest in Frage gestellt werden. Eine Gegenstrategie zum Herrschaftswissen der Algorithmen bei Google etc. lässt sich daraus wahrscheinlich kaum machen.
Es lässt sich vielmehr noch etwas ganz Anderes beobachten, was Wikimedia und seine einzigartige Enzyklopädie des Freien Wissens anbetrifft. Die Wikipedia-Betreiber sehen sich zunehmend einem Druck nach der Umformulierung von Enzyklopädie-Einträgen, die sich sozusagen aus der Netzgemeinde und mit den gängigen Enzyklopädien wie Brockhaus oder der Encyclopedia Britannica im Rücken generiert haben, ausgesetzt. Das ist nicht zuletzt ein unverhohlener Angriff auf ein selbstverwaltetes Wissensformat durch Interessenvertreter extremer Parteien. Angegriffen wird Wikipedia indessen auch, weil das Wissensformat einen Grad an Institutionalisierung und Macht erreicht hat, dem sich bestimmte Akteure unterworfen fühlen. Vielleicht ließe sich dies dann tatsächlich als anarchistischer Versuch formulieren, den es schlechthin zu bekämpfen gilt.
Torsten Flüh
Wikimedia Salon
ABC des Freien Wissens
Fortsetzung folgt demnächst mit O
ALEX Berlin
N = Niemandsland - Anarchie im Netz
(Live on Tape bei YouTube)
FREIRAUM
Ein Future Lab im Museum für Kommunikation Berlin
Dienstag bis Freitag ab 11 Uhr
Samstag, Sonntag und Feiertag ab 10 Uhr
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[3] Wie sich bereits mit Falk Richters Fear zeigte, ist die Variante der sexistischen Beleidigung zwischen Herabwürdigung oder Unterwerfungsphantasien und „Selbstgenuss“ besonders ausgeprägt gegen die „Regierungschefin“. Sie verschafft, und sei es nur für den Augenblick des Tweets, ein Machtgefühl gegenüber der imaginären wie symbolischen Macht. Siehe: Torsten Flüh: Das Nachleben der Diskursfriedhöfe. Falk Richters Fear an der Schaubühne am Lehniner Platz. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. Mai 2016 18:48.
[4] Es ist natürlich völlig falsch, dass Seemann anmerkte, dass das jetzt im Live-Stream eine grenzwertige Formulierung sei. Man wird viel genauer über diese Formulierung sprechen müssen, um nicht automatisch political correct, sondern den Beleidigern ihre Schwachstelle vorzuführen.
[6] Siehe zum Thema der Hassrede ausführlicher: Torsten Flüh: Mit Hass ins Netz gegangen. Zur Hassrede als Thema der Netzpolitik bei #SOZIAL. DIGITAL und im startupbootcamp. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2016 21:36.

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