Dem Unerhörten der Miniatur nachgelauscht - Enno Poppe rückt mit dem Programm passage/paysage die Miniatur und das Spielerische der Kunst in die Aufmerksamkeit

Miniatur – Musik – Spiel 

 

Dem Unerhörten der Miniatur nachgelauscht 

Enno Poppe rückt mit dem Programm passage/paysage die Miniatur und das Spielerische der Kunst in die Aufmerksamkeit 

 

Das experimentierfreudige Ensemble Modern arbeitet gelegentlich mit dem Komponisten und Dirigenten Enno Poppe zusammen. Im Rahmen des Musikfestes Berlin kombinierten sie nun in dem Programm passage/paysage mehrere kurze Stücke von Anton Webern mit der gleichnamigen Komposition für großes Orchester von Mathias Spahlinger. Während mit Anton Weberns Stücken die kurze bzw. kleine Form als Miniatur in der Musik besondere Beachtung findet, ist es bei der Passage wie Landschaft von Spahlinger vor allem eine spielerische Kombinatorik, die Musik anders erklingen lässt. Für ein derartig avanciertes, fast musikforschendes Programmexperiment bietet das Ensemble Modern zum Orchester erweitert die besten künstlerischen Voraussetzungen.

  

Die Miniatur als kleine oder in der Musik zeitlich kurze Form wie sie von Anton Webern als Kompositionsweise angewendet worden ist, stellt durchaus Anforderungen an das Hören. Der Programmteil mit Stücken von Anton Webern umfasste sieben Werke mit vierundzwanzig Sätzen in gut vierzig Minuten. Gustav Mahler kommt mit seiner 6. Sinfonie (1905) auf eine Spieldauer von ca. 85 Minuten als entgegengesetzte Großform. Auch Mahlers Lied von der Erde aus dem Jahr 1908, an das Anton Webern mit Vier Lieder für Sopran und Orchester in der Weltkriegszeit 1914/1918 anknüpft, erfordert eine Aufführungszeit von ungefähr 60 Minuten. Die Miniatur, in der sich keine langen Bögen, Themen und Melodien ausarbeiten lassen, kann nicht nur als eine Verkleinerung und deshalb leichter (be)greifbare Form aufgefasst werden. Sie wird vielmehr zu einer einzigartigen Herausforderung für Solisten, Ensemble wie Publikum.

 

Anton Webern hat die Miniatur selbst im Unterschied zu Arnold Schönberg weniger kommentiert als praktiziert. Der Miniatur kann gerade im Konzertsaal in Erwartung eines abendfüllenden Programms der Verdacht des Unfertigen, Abgebrochenen oder Nebensächlichen anhaften. Deshalb war das von Enno Poppe mit dem Ensemble Modern ausgearbeitet Programm erstens eine Ausnahme für den großen Konzertsaal wie der Philharmonie und zweitens eine besondere Gelegenheit das Seltenaufgeführte in einer neuen Abfolge gleichsam vergrößert zu hören. 2015 hatte das Emerson Quartett mit Barbara Hannigan im kleineren Kammermusiksaal Drei Stück für Streichquartett und Stimme von Anton Webern in ebenfalls kurzer Form mit Stücken von Beethoven, Schönberg und Alban Berg aufgeführt.[1] Die sieben Werke wurden nun ohne Zwischenapplaus kontextualisiert und gespielt. – Dafür gab es stürmischen Applaus zur Pause.


© Kai Bienert 

Ist die Miniatur im Konzertsaal ein Unvermögen? Man muss diese Frage so offen formulieren, weil die großen Philharmonien auch als Tempel der längeren und langen Musikstücke als Kunst genutzt werden. Die Größe des Orchesterapparates beispielsweise bei Buckner mit möglichst sechs oder gar acht Kontrabässen und die Länge der Sätze stehen gewiss der heute üblichen Aufmerksamkeitsspanne entgegen, um dem Publikum dennoch Respekt abzuverlangen. Das Konzertpodium wird mit Musiker*innen voll besetzt. Dagegen verschwinden fast Sopran, Flöte (auch Piccolo), Klarinette, Bassklarinette, Horn, Trompete, Posaune, Glockenspiel, Harfe, Celesta, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass auf dem Podium, und sind dennoch sehr genau durchdacht in der Instrumentierung der Vier Lieder für Sopran und Orchester op. 13. Statt Apparat ein solistisches Ensemble, in dem es auf jeden einzelnen Ton ankommt. Statt eines verdächtigen Unvermögens geht es eher um eine Verdichtung und Konzentration in der Miniatur.

 

Die Miniatur als Form des Kleinen erfordert in gewisser Weise eine Umkehrung der eingeübten Wahrnehmung im Konzertsaal. In der Miniatur wird die Musik gewissermaßen mikroskopisch oder molekular. Das vierte Stück der Fünf Stücke für Orchester op. 10, aufgeführt mit einem umfangreichen Schlagwerk von 4 Spieler*innen, ist für seine molekulare Musik in sechs Takten innerhalb von 30 Sekunden als „das kürzeste überhaupt Ausdrückbare“[2] berühmt geworden. Die Miniatur berührt als Verkleinerung und das Kleine die Frage des Ausdrucks und des Wissens, worauf Marianne Schuller und Gunnar Schmidt in Mikrologien aufmerksam gemacht haben. 

Die Figur des Kleinen hat viele Gesichter. Das Kleinliche, das Nebensächliche, Triviale und Haarspalterische verbinden sich damit ebenso wie die großartige Vorstellung, dass im Kleinen eine ganze Welt beschlossen liege. […] Wie der mikroskopische Blick als Verfahren von den Wissenschaften der Natur in die Geisteswissenschaften übergeht und die Lektüre symbolischer Gebilde steuert, so stellt sich auch hier die Frage: Erschöpft sich dieser Blick in Haarspalterei, die sich an ihrem Eifer erfreut, oder erschließt er etwas, das abgründig, heimlich und unheimlich in den Dingen keimt, wimmelt, monaden- oder atomhaft haust?[3]   

 

Die Miniatur provoziert bei Anton Webern gleichzeitig den Zweifel und das Versprechen. Zweifel sät die Miniatur, weil sie als Verkleinerung des Großen dieses auch in Frage stellt. Das Material des Großen erweist sich als Verschwendung, weil es sich auf ungeahnte Weise verknappen und aufsparen lässt. Als Versprechen funktioniert die Miniatur, weil sie mit einem Kommentar von Helmut Lachenmann zum vierten der Fünf Stücke anderes enthält, als was die „Klangwolke“ bei Gustav Mahler[4] auftürmt, „eine Serenade im Mondschein des Flageolett-Klangs, mit herübergewehten Tönen von dort, wo die schönen Trompeten blasen und die todkündende Posaune antwortet, bis die Militärtrommel zum Zapfenstreich ruft, die Idylle zerstört und sich der Liebhaber, die Mandoline unterm Arm weiterzirpend, davon macht, während die Angebetete ihm mit einer Geigenfigur nachwinkt“.[5] Lachenmann hört die sechs Takte als eine konzeptuell poetologisch widersprüchliche Musikgeschichte.[6]

 

Wenn man von „Materiellen Miniaturen“ spricht, wie es gerade Gertrud Lehnert und Maria Weilandt in einer Einladung zu einem Forschungsband tun, dann wird fast schon das Material auf ein haptisch-visuelles Verständnis heruntergebrochen.[7] Lehnert und Weilandt sehen „Miniaturen … in den unterschiedlichsten, oft unerwarteten Formen und Varianten (als) allgegenwärtig und kulturell bedeutsam“. Sie knüpfen an Gaston Bachelards Poetik des Raumes (1958) an, nach der „(d)ie Miniatur (…) Träume“ hervorbringe und die „Befreiung von allen Verpflichtungen der Dimensionen“ als „das charakteristische Merkmal der Phantasietätigkeit“ verspreche. Dabei wird das Material und seine Funktion in der Musik übersehen. Die Miniatur in der Musik als Kompositionspraxis stellt eine besondere Herausforderung dar. Das kann einerseits daran liegen, dass die Miniatur mit dem „mikroskopischen Blick“ (Schuller/Schmidt) und einer zeitlich ausgedehnten Lust am Schauen, andererseits einer Freude an „Träume(n)“ und der „Phantasietätigkeit“ (Bachelard) verknüpft wird. Damit ginge es um unterschiedliche visuell-sprachliche Produktionen, die in der Dauer von sechs Takten in der Musik auch unterlaufen wird.

 

In den Vier Liedern für Sopran und Orchester Op. 13, mit der wunderbaren Sopranistin Caroline Melzer aufgeführt, geht es nicht zuletzt um das Verhältnis von Musik und Poesie. Dies gilt umso mehr als Anton Webern nicht nur ein Gedicht von Karl Kraus, Wiese im Park (1920), und eines von Georg Trakl, Ein Winterabend (1915), sondern zwei aus Hans Bethges Die chinesische Flöte. Nachdichtungen chinesischer Lyrik. (1907) zu einem Liederzyklus komponiert. Die Zeit der Komposition wird mit dem Februar 1914 und 1922 vom Ersten Weltkrieg und den ersten vier Nachkriegsjahren historisch gerahmt. Zwischen Februar 1914 und 1922 liegt nicht nur der Untergang der k. und k. Monarchie Österreich-Ungarn, sondern nach anfänglicher Euphorie selbst Anton Weberns die kriegstechnische, kulturelle und humanitäre Katastrophe des Ersten Weltkrieges. Der Untergang einer ganzen Kultur wird denn auch mit dem eröffnenden Lied Wiese im Park als nachhaltiger Verlust formuliert. 

Nicht weiter will ich. Eitler Fuß, mach Halt! 

Vor diesem Wunder ende deinen Lauf. 

Ein toter Tag schlägt seine Augen auf. 

Und alles bleibt so alt.[8]    

 

Das Drama der Vier Lieder für Sopran und Orchester kann nicht überschätzt werden. Denn die beiden chinesischen Gedichte von Hans Bethge – Die Einsame und In der Fremde – geben einen Wink auf Weberns Anknüpfung an Gustav Mahlers Lied von der Erde, das sich als Requiem für einen Atheisten formulieren lässt. Anton Webern, der sich selbst als Lyriker mit kurzen und kürzesten Gedichten wie Leise Düfte … und O sanftes Glühn der Berge … in Drei Orchesterlieder op. posth. oder Schmerz immer … artikuliert hat, knüpft wie Mahler an einen Dichter der Jahrhundertwende an, der wiederholt das Genre nicht der Übersetzung aus dem Chinesischen, Japanischen, Arabischen, Türkischen oder Indischen, sondern der „Nachdichtung“ praktiziert hat. In der Nachdichtung vermischen sich die Ebenen der Ausgangs- und der Zielsprache zu einer eigensinnigen Poetik. In den Vier Liedern werden diese Nachdichtungen nun gerahmt von Karl Kraus und Georg Trakl.


© Kai Bienert 

Die einzigartige Miniatur der Vier Lieder gibt insofern einen Wink auf Das Lied von der Erde,als dessen Modus bereits dem Alten und der Vergangenheit, dem Untergegangenen als wi(e)dergängerischer „toter Tag“ angehört. Mit Jacques Rancière lässt sich sagen, dass Bethges Nachdichtungen einer „Verherrlichung des Werks als Tempel“[9] angehören, wie sie bei Mahler praktiziert wird und bei Webern nachklingt. „Die soziale Kunst ist nicht die Kunst fürs Volk, sondern die Kunst im Dienst von Zwecken, die von der Gesellschaft bestimmt werden“[10], schreibt Rancière zur Kunst von Émile Gallé, der Bethge mit seinen Nachdichtungen und seinen Verbindungen nach Worpswede nahesteht. Das Werk wird zum Tempel des Lebens, weil es das Leben besser machen soll. „Das Leben ist der Gott, der von neuem den verlassenen Tempel bewohnen und die Erneuerung der Kunst befehligen soll.“[11] In diesem Feld lassen sich Die Einsame und In der Fremde als chinesische Nachdichtungen mit einer universalistischen Geste denken, die sich allerdings 1922 nur noch als Wi(e)dergänger hören lassen kann.

 

Bethges Gedichte werden 1922 wieder zu hören gegeben und wenden sich wider das Versprechen des Lebens, das sich im Ersten Weltkrieg auf brutale Weise nicht realisieren ließ. Statt einer Feier des Lebens verkehrte sich der Krieg in einen massenhaften Tod durch Gas, Feuerwalzen und Riesenbomben. Gerade Anton Webern, der an seinen Kollegen Alban Berg 1914 schrieb, „Ich muss in den Krieg. Ich muss. Ich halte es nicht mehr aus“, verspürte einen ungeheuren Drang oder Trieb, in den Krieg zu ziehen als Wahrnehmung des Lebens. Der Krieg versprach das Leben, indem er zur Phantasie einer Befreiung wurde. Welche traumatischen Kriegserfahrungen Webern bis 1917 machte, als er aus dem freiwilligen Kriegsdienst entlassen wurde, ist offenbar nicht überliefert. Machte er keine? Fehlten ihm die Worte dafür? Unterdessen wird eine Wandlung zum „Pazifisten“ vermerkt.[12] In der Dokumentation Musik in Zeiten des Großen Krieges von Andreas Morell, die gerade auf ARTE wiederholt wurde und noch bis 8. Oktober in der Mediathek zur Verfügung gestellt wird, ist Anton Webern kein Hauptprotagonist. Doch der Krieg ließ ihn offenbar an seinem katholischen Glauben zweifeln, weshalb der Schluss der Vier Lieder bedenkenswert wird. 

 

Die Rätsel der poetischen Miniatur, in denen eine ganze Welt oder geradezu die Transformation der unbändigen Kriegsbegeisterung in Glaubenszweifel und den Pazifismus ebenso wie Abgründe hausen können, lassen sich mit Anton Weberns Vier Lieder für Sopran und Orchester nicht lösen. Sie bleiben widersprüchlich. Auf paradoxe Weise kommt mit Georg Trackls Ein Winterabend ein übermächtiger „Schmerz“ zur Sprache, der sich schlagartig – vielleicht zu schnell – in das christliche Bild vom Abendmahl als Feier des Lebens im Angesicht des Todes wendet. Es könnte durchaus ein überkommenes Bild des Alten oder das Aufblitzen einer Hoffnung durch Pazifismus sein. Man kann es aus der Komposition und ihrer Aufführung heraus nicht wissen. 

Wanderer tritt still herein; 

Schmerz versteinerte die Schwelle. 

Da erglänzt in reiner Helle 

auf dem Tische Brot und Wein.[13]   


© Kai Bienert 

Enno Poppe, Caroline Melzer und das Ensemble Modern boten eine überaus engagierte Komposition der häufig unterschätzten Miniaturen von Anton Webern, was vielleicht weniger mit ihm als mit seinem analytisch-poetischen Verfahren in der Musik zu tun hat. Die Musik soll derart verdichtet werden, dass sie an der Grenze des Verstehens eine maximale Intensität erhält. Man kann, wenn man daran festhalten möchte, die Intensität der Musik auch Ausdruck nennen. Doch bei Webern hat sich das Verhältnis von Sensibilität und Repräsentation gerade durch die musikalische Kürze bereits umgekehrt. Der heftige Ausdruck wird eher zu einem Ausbruch aus Notwendigkeit.

 

Es war im Webern-Spahlinger-Programm des Ensemble Modern Orchestras wohl gerade der Krieg in der Musik, der beide Teile kontextualisierte. Mathias Spahlinger fordert nun statt des kleinen das große Orchester: passage/paysage für großes Orchester (1988-1990). Während bei Anton Webern ein konkreter Weltkrieg vielleicht gar in seinen Ursprüngen durchschimmert, hat Mathias Spahlinger in selbstredend zahlreiche Zitate von offenbar ausschließlich männlichen Autoren zu einem satzzeichenlosen, langen Fließtext als „Reflexion … auf das im selben Jahr fertiggestellte Orchesterwerk pasage/paysage“ für das Programmheft verfasst.[14]    

              im krieg sind alle väter soldat gerade vor sonnenuntergang arbeitete ich mich mühsam durch das immergrüne gestrüpp nach der hütte meines freundes hin den ich schon seit etlichen wochen nicht besucht hatte ich wohnte damals in charleston das neun meilen von der insel entfernt liegt und die gelegenheiten zur hin und rückfahrt standen weit hinter den heutigen zurück als ich die hütte erreicht hatte klopfte ich an wie es meine gewohnheit war und als niemand antwortete suchte ich den schlüssel dort wo ich ihn versteckt wußte schloß die tür auf und trat ein un her brannte ein helles feuer das war eine überraschung doch kam es mir keineswegs unererwünscht herrnreitter jeder einen platz suchen gilberte komm auf der stelle her was machst du denn da rief die energisch befehlende stimme …[15]     

 

Enno Poppe ist als Dirigent ein Kenner und Freund des Komponisten Spahlinger. Er hat in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Großen Kunstpreises Berlin 2014 an Mathias Spahlinger pointiert das landläufige Wissen vom Künstler in Frage gestellt. Was kann man vom Künstler und seinem Werk wissen, wenn „(n)iemand (…) je zu Hegel gesagt (hat), dass die Phänomenologie des Geistes ein ganz tolles Buch sei, das man mit heißen Ohren gelesen habe“.[16] Poppe räumt gar ein, dass er das Werk „missverstanden habe“. Doch es geht ihm vor allem um ein Recht auf das „Spielerische der Kunst“ von Mathias Spahlinger, das die „Dinge in Frage“ stellt, „die man als Kunstbenutzer nicht gern in Frage gestellt sieht“. Denn es lässt sich durchaus ein Bogen schlagen zu selbstredend ohne Punkt und Komma, Klein- und Großschreibung, ohne Autorschaft und Zitierangaben.


© Kai Bienert 

In der Literatur wie in der Musikliteratur sind es all jene Zeichensysteme, die entschieden an der Produktion von Sinn mitwirken oder ihn gar allererst generieren. Was in der Ausarbeitung von Regeln z.B. in der Literatur oder der Partitur erlaubt ist oder nicht, betrifft die Musik als Gehörte. Nirgends sind die Manuskriptrichtlinien allerdings strenger als bei wissenschaftlichen Publikationen, weil sie in der Generierung und Unterscheidung von Wissen entscheidend wirken. Und man kann sich darauf verlassen, dass fast jede wissenschaftliche Publikationsreihe ihre mehr oder weniger eigenen Manuskriptrichtlinien, an die es sich als Autor zu halten gilt, generiert. Anders gesagt: wie Mathias Spahlinger mit selbstredend sein Stück passage/paysage reflektiert, hat in der Praxis viel mit der Musik zu tun. Für Enno Poppe und jüngere Komponisten ist passage/paysage „ein Jahrhundertwerk“. 

Wir hatten mit diesem Stück unseren Sacre du printemps, das Stück, das die bisherigen Gesetze außer Kraft setzte und durch etwas ersetzte, was wir noch nicht verstehen konnten. Wie sollte es danach weitergehen?[17]

 

Vielleicht ist es gar der Beruf des Schriftsetzers, den Mathias Spahlinger erlernt hat, der eine besondere Sensibilität für das Schreiben von Musik geweckt hat. War der Ausbildungsberuf des Schriftsetzers oder Setzers doch einer, der allerhöchste Disziplin und Kenntnis der Interpunktion und Rechtschreibung erforderte. Zwar erhielt der Schriftsetzer vorgefertigte Texte, die er auf Platten für die Zeitungs- oder Buchseite zu setzen hatte. Doch wenn er einen Fehler machte, war dieser von einer langen Nachhaltigkeit. Der Schriftsetzer hatte sich an das Gesetz zu halten und materialisierte es zugleich. Die gesamte Literaturproduktion war auf das Engste mit dem Setzer verknüpft, was beispielsweise in dem Verhältnis von Manuskript und Buch bei Franz Kafkas Der Prozess die allergrößte Rolle für den Roman als Textgattung spielen konnte, worauf mit der Ausstellung des Manuskriptes im Martin Gropius Bau 2017 aufmerksam gemacht wurde.[18] Das Mikrologische des Schriftsetzens konnte den ganzen Großroman wie bei Marcel Prousts À la recherche du temps perdu verändern oder allererst als Werk generieren.[19]  

 

Sensibilisiert für derartige, gesetzmäßige Voraussetzungen in der Musikliteratur wird passage/paysage 1990 zum Erlebnis einer ungemeinen, musikalischen Intensität, ohne dass sie Sinn oder Erzählung produzierte. Am Schluss gibt Enno Poppe fast mechanisch immer wieder den Takt für eine quasi endlose Stelle in der Musik. Nichts wiederholt sich. Nichts findet zusammen. Es ist, als sei die Musik für zehn, fünfzehn Minuten, einer gefühlten Ewigkeit angehalten, ohne dass die Zeit stillsteht. Alle Streicher – 16 Violinen I, 14 Violinen II, 11 Violen, 9 Violoncelli, 8 Kontrabässe – man bedenke, dass sie in den großen Symphonien den Klang, das Volumen und die Grundierung, Gefühl, Stimmung ausmachten –, zupfen mit äußerster Grobheit und voller Lautstärke ein H, das immer ein wenig verwackelt ist, so dass immer deutlicher wird, dass sich die Instrumente verstimmen und die Musik immer falscher wird. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass der den Klangkörper stiftende Kammerton a‘ im H negiert, ausradiert wird, bis passage/payage abbricht. 

 

Torsten Flüh 

 

Musikfest Berlin 2018 

bis 18.09.2018 

 

ARTE

Musik in Zeiten von Krieg und Revolution (1/3)
Musik in Zeiten des Großen Krieges

Andreas Morell, Deutschland 2016
bis 8.10.2018

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[1] Vgl. Torsten Flüh: Texturen in der Musik. Das Sonderkonzert der Deutschen Oper und das Emerson String Quartet mit Barbara Hannigan beim Musikfest 2015. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2015 20:52.

[2] Olaf Wilhelmer: Vierundzwanzig Verwandlungen. Über die Musik Anton Weberns. In: Musikfest: passage/paysage Ensemble Modern Orchestra Enno Poppe. 3.9.2018. Berlin 2018, 12.

[3] Marianne Schuller, Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld: transcript, 2003, S. 7.

[4] Vgl. Torsten Flüh: Das Versprechen der Klangwolke. Berliner Philharmoniker spielen unter Sir Simon Rattle die 8. Symphonie von Gustav Mahler. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2011 19:44.  

[5] Helmut Lachenmann zitiert nach: Olaf Wilhelmer: Vierundzwanzig … [wie Anm. 2] S. 12.

[6] Vgl. dazu auch Torsten Flüh: Entstehen und Enden der Musik. Das furiose Lachenmann-Mahler-Programm der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. November 2011 22:49.

[7] Einladung zum Sammelband in der Reihe Mikrographien / Mikrokosmen. Kultur-, literatur- und medienwissenschaftliche Studien von Prof. Dr. Gertrud Lehnert und Maria Weilandt, Universität Potsdam, Institut für Künste und Medien, als Herausgeberinnen vom 8. September 2018.

[8] Karl Kraus: Wiese im Park (Schloß Janowitz). Zitiert nach: Musikfest: passage/paysage … [wie Anm. 2] S. 26.

[9] Jacques Rancière: 8. Die angewandte Kunst als soziale Kunst: der Tempel, das Haus, die Fabrik. In: ders.: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen Verlag, 2013, S. 175.

[10] Ebenda S. 177.

[11] Ebenda S. 179.

[12] Vgl. Klaus Gehrke: Musiker an der Front. In: DW Musik 11.08.2014.

[13] Georg Trakl: Ein Winterabend. (1915) Zitiert nach: Musikfest: passage/paysage … [wie Anm. 2] S. 26.

[14] Anmerkung der Redaktion. In: Musikfest: passage/paysage … [wie Anm. 2] S. 21.

[15] Mathias Spahlinger: selbstredend. In: Ebenda S. 18.

[16] Enno Poppe: Mathias Spahlinger. In: Ebenda S. 14.

[17] Ebenda S. 15.

[18] Siehe: Torsten Flüh: Ausstellung des Unsichtbaren. Zur Ausstellung Franz Kafka Der ganze Prozess im Martin-Gropius-Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. August 2017 21:36.

[19] Vgl. dazu auch: Torsten Flüh: Das Versprechen der Geschichte. Barbara Naumann und Peter Geimer zum Semesterthema non finito … der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. November 2017 22:18.


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