Iskandar Widjaja begeistert im Kornversuchsspeicher - Berliner Stargeiger geht neue Wege in Klassik und Weltmusik am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal

Musik – Wissenschaft – Immobilie 

 

Iskandar Widjaja begeistert im Kornversuchsspeicher 

Berliner Stargeiger geht neue Wege in Klassik und Weltmusik am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal

 

An einem Mittwochabend im Juli findet sich im Kornversuchsspeicher am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal gleich neben der Kieler Brücke eine illustre Gesellschaft aus Real Estate, Investoren, Gästen und Künstlern zum Konzert von Iskandar Widjaja & Friends ein. Der unspektakuläre, denkmalgeschützte, sechsstöckige Backsteinbau stand seit der Zeit um 1900 schon immer am Ufer. Gelegentlich fahren Ausflugsschiffe mit Betriebssommerfestgesellschaften vorbei. In einem Schlauchboot paddelt ein Pärchen auf dem Kanal. Unter den Gästen ist  der Starorganist Cameron Carpenter. Bis 1989 lag der Kornversuchsspeicher im toten Winkel gegenüber der Führungsstelle Kieler Eck an der Mauer, wo heute Günter Litfin, dem zweiten Mauertoten im nahen Humboldthafen, gedacht wird.

 

Wann genau der Kornversuchsspeicher ein Technikdenkmal wurde, ist nicht leicht zu ermitteln. Zwischenzeitlich war er Lagerraum, Event Location, Kunstort und Immobilie vor dem Umbau, um demnächst das Wahrzeichen für die Wasserstadt Mitte an der Heidestraße abzugeben. An diesem Abend tritt Iskandar Widjaja mit seinen Freund*innen auf. Es gibt Fingerfood und Drinks. Im ersten Teil spielt er auf einer JB Vuillaume, was man Klassik nennt. Mélodie Zhao begleitet Widjaja am Steinway-Flügel. Der erste Satz, Presto, aus Christian Sindings Suite im alten Stil von 1889 wird zum fulminanten Auftakt. Widjaja spielt sehr schnell, forciert, rockt fast. Das Publikum lässt sich zum spontanen Applaus hinreißen. Die Suite – Presto, Adagio, Tempo Giusto – des norwegischen Komponisten gilt als eine Art Geheimtipp im Konzertprogramm.

Der Speicher wurde in zwei Phasen 1897/1898 und um 1915 erbaut. Wie sollte Getreide um 1900 am besten zur Weiterverarbeitung in der Großstadt gelagert werden? Bei der Lagerung von großen Mengen Getreide in neuartigen Silos, die seit 1873 in den USA von Fred Hatch entwickelt worden waren, trat eine Reihe von Problemen auf. Das Getreide musste in Räume gleichmäßig verschüttet werden, durfte nicht feucht, aber auch nicht zu trocken und staubig sein. Die Lagerung des Getreides erforderte neuartige Technologien. Wenn sich in einem Silo zu große Staubwolken bilden, können diese jederzeit explodieren. War das Getreide zu feucht, drohte Schimmel. Lange stand der Getreidespeicher leer oder wurde schlicht als Lagerstätte zweckentfremdet. 

Zweck des Kornversuchsspeichers war die wissenschaftliche Untersuchung der Getreidelagerung, die vergleichende Bewertung der Silo- und Schüttbodenspeicherung und die Erprobung moderner Maschinentechnik.[1]

 

Dass das Gebäude an einem modernen Verkehrsknotenpunkt in der Industriemetropole Berlin stand, lässt sich heute kaum noch erahnen. Zwischen den Bahnanschlüssen nach Hamburg im Nordwesten oder dem hannoverschen Lehrte im Westen und dem Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal lag der Kornversuchsspeicher an einem Verkehrsknotenpunkt für den Transport von Massengütern in Güterzügen und auf Frachtkähnen.Mit dem Standort am Kai des Berlin-Spandauer Schiffahrtskanals bestand eine hervorragende Anbindung an das Wasserstraßennetz und die Eisenbahn“[2], erinnert die Denkmaldatenbank. Technikhistorisch sind die Kinder und Kindeskinder sozusagen in verschiedenen Bautypen heute noch im nahen Westhafen u.a. mit dem riesigen Westhafenspeicher zu bestaunen. Der Kornversuchsspeicher ist so etwas wie der Vater aller Getreidesilos in Deutschland, wenn nicht Europa.

 

Plötzlich verwandelt sich das Gebäude in eine Zukunftswerkstatt der Künste und eines neuen Stadtquartiers. In dieser Eigenschaft wird es zum beziehungsreichen Auftrittsort für Iskandar Widjaja, der in seinem Musikprogramm als einst klassisch ausgebildeter Jungstudent für Violine an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ neuartige Wege mit Christian Sinding neben Johann Sebastian Bach, Camille Saint-Saëns neben dem trendigen Langzeitkonzert-Komponisten Max Richter spielt. 2016 führte der in London lebende Max Richter bei maerzmusik – festival für zeitfragen – nächtens bis in den Morgen im Kraftwerk Mitte Sleep auf. Nachdem Widjaja ebenfalls 2016 ein vielbeachtetes Klassik-Konzert mit dem Deutschen Symphonie-Orchester unter Christoph Eschenbach mit Stücken von Henryk Wieniawski und Robert Schumann gespielt hat, das mittlerweile als CD vorliegt, setzt er nun verstärkt persönliche Akzente in seinem Musikverständnis. Die Trennung von U und E lässt er nicht gelten.

 

Ebenso charmant wie offen moderiert Widjaja sein Konzert im Kornversuchsspeicher vor floralem Dekor auf der weiß getünchten Backsteinwand selbst. Auch das ist fast ein Statement zu seinem Musik- und Künstlerverständnis. Entrückte Künstler, die nicht sprechen können oder wollen, weil es um „heilige Kunst“ geht, verpassen heute vor allem ein jüngeres Publikum. Gehört Iskandar Widjaja gar zu einem neuartigen Künstlertypus im Konzertsaal? Dieser neuartige Künstlersolist auf dem Konzertpodium sucht den Kontakt zum Publikum, indem er spricht, wie Yannick Nézet-Séguin auf Facebook Fotos mit Lisa Batiashvili von Backstage in der Waldbühne postet und mit Lockerheit wie Esprit die Genre mixt. Club und Konzertbühne sind ihm gleichermaßen wichtig. Für junge, aufstrebende Solisten wie Widjaja wird der Club, wo junge Menschen Musik hören, unverzichtbar. 

  

Das musikalische Spezialwissen der Klassik und Klassik-Kritiker ist fragwürdig geworden. Vielleicht fing es schon mit dem Cross Genre von Leonard Bernstein und seinem ebenso unterhaltsamen wie politisch bösen Candide 1956 oder der verspäteten Uraufführung von A Quiet Place 2013 an. Sir Simon Rattle hat das Mischen der Genres programmatisch und als Haltung durch George Gershwins Cuban Overture mit den Berliner Philharmonikern kürzlich in der Waldbühne, aber nicht nur für sie, bestätigt. Auf dem Konzertpodium ist heute eher ein elitärer, bürgerlicher Gestus zu vermeiden. Im Kornversuchsspeicher trennt Iskandar Widjaja den Klassikteil durch eine Pause vom Hybrid Genre des zweiten. Vielleicht reicht es, wenn er für das Publikum zu Bachs Musik sagt, dass „die Welt wieder in Ordnung ist“, wenn er ihn spiele. Die Ordnung und Harmonie in Bachs Musik, die nicht zuletzt auch eine mathematische ist, bewirkt eine ebenso geordnete wie entspannte Wahrnehmung, könnte man sagen.

 

Der Umfang und die Kombinationen der Musikgenres bei Iskandar Widjaja ist erstaunlich und vielschichtig. Auf seinem neuen Album Mercy, das am 7. September erscheinen und auf das im Kornversuchsspeicher aufmerksam gemacht wird, spielt er Johann Sebastian Bachs Violinkonzert in d-Moll (BW 1052r) mit zurückhaltender Begleitung am Cembalo äußerst leidenschaftlich und virtuos. Das Violinkonzert erhält eine neuartige Intensität. Auf dem Konzertpodium lässt sich verfolgen, wie sehr er sich nicht nur intellektuell und technisch, sondern körperlich in die Musik hineinarbeitet. Ein intensiver Bach steht für ihn gleichwertig neben Max Richters Komposition Mercy. Das sprengt durchaus historisch-kritische Aufführungspraktiken und rückt Johann Sebastian Bachs Erbarme Dich aus der Matthäus-Passion wie in Eneril mit der mongolischen Vokalistin Urna Chahar-Tugchi in die Nähe einer spirituellen Weltmusik.  

 

Es ist durchaus eine Frage, ob und in welcher Weise das Gefühl für Johann Sebastian Bach eine kompositorische Kategorie war. Für Iskandar Widjaja als Musiker und Violinist ist Bach ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Bezugspunkt beispielsweise auf dem Album Mercy. Das Album ist zwar um Max Richters gleichnamige Komposition aufgebaut. Doch eigentlich bezieht sich das Album auf Johann Sebastian Bachs Erbarme Dich für Geige und Mezzosopran aus der Matthäus-Passion. Um das Erbarme Dich werden Kompositionen und Arrangements von Yiruma, Arvo Pärt, Max Richter, Giordano Franchetti und Urna Chahar-Tugchi sowie Bach selbst angefügt. Doch formuliert das Erbarme Dich ein Gefühl? 2013 inszenierte Peter Sellars die Matthäus-Passion mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle in der Philharmonie. Magdalena Kočená sang quasi mit der Geige von Daniel Stabrawa.[3]   

Erbarme dich, mein Gott, 

Um meiner Zähren willen! 

Schaue hier, Herz und Auge 

Weint vor dir bitterlich. 

Erbarme dich, mein Gott.

  

Die Bitte um das Erbarmen, engl. Mercy, bei Johann Sebastian Bach wird in der Ersten Violine mit wiederholten Seufzern transformiert. Um der flehentlichen Bitte Nachdruck zu verleihen, wird geweint. Insofern geht es nicht primär um den Ausdruck eines Gefühls, sondern um eine rhetorische Figur. Der letztlich sich unterwerfenden Bitte um Gnade wird Nachdruck verliehen. Insofern handelt es sich hier um eine Geste der Unterwerfung, um Gnade durch Gott zu erhalten. Die üblicherweise ca. 6 Minuten der Arie Erbarme dich werden in der Bachschen Harmonik besonders reich variiert. Doch weder die Bitte noch die Gnade sind ein Gefühl. Vielmehr ist die Gnade als Erbarmen ein göttlicher Rechtsakt, den eben nur Gott in seiner alttestamentarischen und damit christlich, jüdischen und islamischen Allmacht ausführen kann.

  

In der Passion als Leiden oder Leidensweg lässt Gott die Gnade an Jesus gerade nicht walten. Er verweigert sie bis zu seinem Tod – „Um die neunte Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Matthäus 27/46) – und zur österlichen Auferstehung von den Toten. Johann Sebastian Bach als Kirchenmusiker ist dies bei der Komposition der Arie Erbarme dich auch in der notwendigen Vergeblichkeit der Bitte um Gnade bewusst. Insofern schimmert in den Seufzern der Violine eine gesetzmäßige und theologische Vergeblichkeit durch. Statt emotionaler Aufwallung und Expression verläuft die Passion von vornherein theo-logisch. Deshalb kann die Musik in einer paradoxen Zuversicht harmonisch bleiben.

 

Unter anderem hat Nigel Kennedy 2002 mit dem Gewandhausorchester Erbarme dich als bruchlosen Megahit eingespielt.[4] In der Matthäus-Passion funktioniert die theo-logische Musik durch Emotionen anscheinend bruchlos. Es gibt, sagen wir etwas Tröstendes in der Musik. Sir Simon Rattle hat 2014 für die Johannes-Passion auf eine andere, dunklere Färbung hingewiesen.[5] Es ist merkwürdig genug, dass in einer zunehmend widersprüchlichen Wahrnehmung von Welt ausgerechnet Johann Sebastian Bachs in seiner Zeit als zu opernhaft und zu emotional kritisierten Passionsmusiken heute als Open Air-Ereignis taugen. Insbesondere mit der Stimme der Ersten Violine des Erbarme dich werden Gefühle von theologisch fast obszöner Innerlichkeit verknüpft.

  

Iskandar Widjajas Erbarme dich klingt ein wenig rauer. Mit Mercy und Eneril nimmt es gänzlich andere Wendungen an. Man könnte sagen, dass sich die verweigerte oder zumindest aufgeschobene Gnade qua Musik in Trost von universaler Reichweite verwandelt. Die Musik tröstet wie in dem streng komponierten und konstruierten Stück Spiegel im Spiegel von Arvo Pärt aus dem Jahr 1978, das Iskandar Widjaja im Kornversuchsspeicher mit Friedrich Wengler am Klavier spielt. Auf der CD wird von Giordano Franchetti eine Art Raumklang aus dem Bauch einer schwangeren Frau in das Stück montiert. Auch Fratres von Arvo Pärt von 1977 spielt auf religiöse Musikpraktiken an, um sich zugleich von einer bestimmten Religion zu lösen. Am weitesten geht Iskandar Widjaja mit Urna Chahar-Tugchi in Eneril.

 

Indem Urna Chahar-Tugchi und Iskandar Widjaja in Eneril die formelhafte Kompositionspraxis von Johann Sebastian Bach Erbarme dich hier mit der Gesangspraxis der mongolischen Steppe kombinieren, treffen zwei unterschiedliche Musikpraktiken aufeinander, um sich doch in einem Musikereignis zu finden. Kann das funktionieren? Wie kann Urna mit ihrer Stimme auf die Komposition von Johann Sebastian Bach in der Aktualisierung und Interpretation von Iskandar Widjaja reagieren? Zwei gänzlich verschiedene Musikpraktiken werden hier kombiniert und abgestimmt zu einer Art tröstlicher Weltmusik. Der Effekt dieses Musikexperiments ist überraschend und löst Begeisterung aus. Musik wird vielleicht immer dann besonders intensiv, wenn es vor allem um ein gemeinsames Musikmachen geht. Dann springt, wie man sagt, ein Funke über wie im Kornversuchsspeicher.   

 

Torsten Flüh

  

Iskandar Widjaja 

Merci - Trailer

  

15. August 2018 

Umago classics 

J.S.Bach: The Partitas 

 

7. September 2018 

CD Release Party&Konzert "Mercy" 

Club Haubentaucher Berlin

 

Kornversuchsspeicher

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[1] Kornversuchsspeicher. In: Denkmaldatenbank.

[2] Ebenda.

[3] Siehe Torsten Flüh: Ein Licht in der Dunkelheit. Zu Bachs Matthäus-Passion als Eröffnung der Festtage in der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Oktober 2013 00:16.  

[4] Nigel Kennedy: J.S. Bach – Erbarme Dich, Mein Gott | St. Matthew Passion (Gewandhausorchester) Open Air at the Marktplatz Leizig YouTube.

[5] Siehe Torsten Flüh: Herzenssache. Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion der Berliner Philharmoniker auf DVD und Blu-Ray. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. Oktober 2014 20:32.  


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