Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul. Zu Robert Beachys Gay Berlin in der American Academy

Identität – Moderne – Sachbuch 

 

„Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ 

Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy 

 

Die American Academy im Hans Arnhold Center über dem Wannseeufer lud am Montag zu einer Buchpräsentation des Hausgastes und Historikers Robert Beachy ein. Gerade ist die deutsche Ausgabe Das andere Berlin im Siedler Verlag erschienen. Die lange und wechselvolle Geschichte der Villa Am Sandwerder 17-19 reicht bis in die 1880er Jahre zurück, als sich der Generaldirektor des Berliner Chemieunternehmens AGFA, Dr. Franz Oppenheimer, auf dem Grundstück eine Villa im neogotischen Stil bauen ließ, die wesentlich dem Grundriss des heutigen Hauses entsprach. Die Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrication in Rummelsburg nahm um 1900 ihren Aufschwung mit der Produktion von „chemische(n) Präparate(n) für photographische Zwecke“. 1926 erwarb die Villa der Bankier Hans Arnhold, der 1938 als Jude zur Emigration nach Amerika gezwungen wurde…  

 

Robert Beachy eröffnet sein 2014 in New York bei Alfred A. Knopf erschienenes Berlin-Buch, Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity, fulminant mit einem Zitat aus Wystan Hugh Audens bisher unveröffentlichtem Berlin Journal vom 6. April 1929. Auden gehörte zum Freundeskreis von Christopher Isherwood in Berlin. Geboren 1907 im englischen York, zählte er zu jenem Kreis junger englischer Schriftsteller, die in Berlin sowohl den ästhetischen wie politischen als auch sexuellen Aufbruch probten. Das Berlin Journal in der Berg Collection der New York Library nutzt Beachy für seinen überraschenden Aufmacher zur modernen Identität. Auden wechselt vom Englischen ins Deutsche, als er eine Begegnung mit einer jungen, flirtenden Frau in der Straßenbahn beschreibt: 

She ─ came and stood beside me till I got out. I wanted to make an 18th century bow and say 'Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.'

 

Gay Berlin ist ein Titel wie ein Reiseführer aus dem Bruno Gmünder Verlag: Explore The Gay World: Spartacus. International Gay Guide. Und die Titelei zwischen mehr Gay als Queer History, Reiseführer und Sexversprechen, Identitätsgeschichte und German History spielt bereits auf eine Verknüpfung von Wissenschaft und Unterhaltung im Format Sachbuch an. Gay Berlin wurde von Alex Ross im New Yorker vom 26. Januar 2015 als ausdrücklich begrüßenswert gelobt: „Beachy’s cultivation of the ‚other‘ Germany, heterogeneous and progressive, is especially welcome.“[1] Am Montagabend sprach Daniel Baranowski von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld in der American Academy mit dem Autor. Der wie Alfred A. Knopf zu Random House gehörende Siedler Verlag hat nun in Deutsch Das andere Berlin Die Erfindung der Homosexualität Eine deutsche Geschichte 1867-1933 daraus gemacht. Das tut an political correctness schon fast ein bisschen weh. Hätte doch mit Beachys Archivfund prominent und provozierend Schwul oder Schwul in Berlin als Titel zur Verfügung gestanden.

 

Die beiden schwulen Schriftstellerfreunde Isherwood und Auden werden für Robert Beachy zu Zeugen und Referenten für die Macht der sprachlichen Konstruktion sexueller Identität. Während Isherwood in seinen Berlin-Erinnerungen Christopher and His Kind 1929-1939 von 1976 Identität als eine Zugehörigkeit zu einem „tribe“ als Stamm, Sippe oder Volksstamm, wie er um 1930 nur in Berlin möglich war, formuliert, benutzt Auden das Adjektiv schwul als ebenso höfliche wie geschlechtlich konkretisierende Selbstvorstellung. Der auf deutschen Schulhöfen diskriminierend gebrauchte Begriff wird vom englischen Schriftsteller und Dichter Auden geradewegs stolz verwendet. 

… And what an incredible statement that would have been! Instead of disdain for his admirer, or bemusement, Auden believed her flirtation to be based on a misperception; … he formulated an appropriate response that his German admirer would have understood.[2]       

 

Für Beachy wird das Zusammentreffen in der Tram zu einer Schlüsselszene für die  Möglichkeiten, über Sexualität in Berlin zu sprechen. Der nonverbale Flirt in der Anonymität des großstädtischen Verkehrsmittels Tram wird von Auden quasi als eine offene und geradezu öffentliche  Einladung zur Sexualität wahrgenommen und formuliert. Die Anonymität der Großstadt bringt allererst die Möglichkeit zum Augenkontakt und dessen praktische Umsetzung. Die Prostitution in der Großstadt, die kürzlich auch auf der Abschlussveranstaltung Kulturen des Wahnsinns thematisiert wurde, findet im Berlin um 1930 nicht nur als Gewerbe statt. Sie gehört zur Lebenspraxis und einer Wirklichkeit, die Sexualität fast immer und überall möglich werden lässt. Und anders als in der englischen Sprache kann Auden seine Sexualität mit schwul artikulieren: 

… Auden’s Berlin awakening is striking, and in the late 1920s he could describe his sexuality more articulately even in halting German than he ever could in English.[3]      

 

Es geht Robert Beachy in seiner breit angelegten Studie zur Homosexualität als Identität nicht zuletzt um sprachliche Prozesse und Berlin als Ort, der dies ermöglicht hat. Auf durchaus überraschende Weise gelingt es ihm nicht nur, Berlin selbst für Karl Heinrich Ulrichs als entscheidend für eine sexuelle Identitätsformulierung zu benennen. Vielmehr noch wird die Formulierung und Herausbildung einer homosexuellen Identität von größter Diversität in einem ständigen kommunikativen Prozess zwischen Polizei, Medizin, Naturwissenschaft, Gesetzesbestimmungen und Jurisprudenz zwischen politischen Lagern von links bis rechts als Phänomen an Berlin festgemacht. 

A central argument of Gay Berlin is that the emergence of an identity based on the notion of a fixed sexual orientation was initially a German and especially a Berlin phenomenon. This makes the Berlin etymology of schwul that much more significant, since language can help us to chart the growth of a new group identity.[4]

 

Die neue „Gruppenidentität[5] der Homosexuellen oder Schwulen wird von Robert Beachy geradezu als positives Programm formuliert. Er schreibt damit auch die Geschichte der Homosexualität in Deutschland und insbesondere Berlin als Emergenz oder Entstehung einer „fixed sexual orientation“, was durchaus zu hinterfragen wäre. Die Formulierung lässt durchaus offen, ob die „fixed sexual orientation“ eben jener Bestimmung und Beschreibung einer bestimmten Sexualität zu verdanken ist oder ob die sexuelle Orientierung von Anfang an fixiert war, die dann mit der Sprache formuliert werden kann. Doch die Sprache kann nach Beachy helfen, das Anwachsen einer neuen Gruppenidentität zu erfassen. Durch die Verbreitung und den Gebrauch des Wortes schwul lässt sich demnach für den Historiker die Geschichte der Sexualität verstehen.

 

Die Geschichte der Sexualität und die Sexualität überhaupt in ihrer Geschichtlichkeit zu untersuchen und zu beschreiben, knüpft einerseits an Michel Foucaults Histoire de la sexualité von 1976 an, andererseits grenzt sich Beachy entschieden gegen ihn ab. Erstens legt Beachy nun Wert darauf, dass die Herausbildung der Homosexualität nicht als Projekt der modernen Medizin gesehen werden kann, sondern dass sie als „collaboration of Berlin’s medical scientists and sexual minorities“ und zweitens als „a uniquely German phenomenon“ zu verstehen ist.[6] Beachy argumentiert damit, dass Foucault einfach und entscheidend übersehen habe, dass „the urban context sources … gave rise to the neologism and its science as specifically German“. Damit verschiebt er die Geschichte der Sexualität entschieden. Während für Foucault nämlich La volonté de savoir bzw. Der Wille zum Wissen für eine Geschichte der Sexualität entscheidend war, rückt nun das Wissen als Zusammenarbeit bzw. „collaboration“ in den Vordergrund.

 

Die konzeptuelle Operation, die Robert Beachy hiermit vornimmt, so schmeichelhaft sie für Berlin und Deutschland sein mag, ist für eine Queer History und/oder Gender Studies und die Diskussion darum keinesfalls nebensächlich. Es geht nämlich exakt um den neuralgischen Punkt, welche Rolle die Sprache spielen soll. Ist Sprache gerade dann, wenn die Etymologie von schwul signifikant wird, eine Kraft, die Gruppenidentitäten herausbildet, oder eine, die zur Disziplinierung und Normierung eingesetzt wird? Noch ein wenig schärfer formuliert: hat die Ausstellung HOMOSEXUALITÄT_EN im Deutschen Historischen Museum, die noch bis 1. Dezember läuft, gar den falschen Blickwinkel? Mit Gay Berlin sagt Robert Beachy nämlich: So what?! Ist doch alles super gelaufen bis 1933.

 

Die moderne Identität oder auch Identität als ein Projekt der Moderne wird von Beachy nicht nur mit der Schnittstelle Berlin als Großstadt verortet und identifiziert, sie wird auch als Milieustudie eines „Bildungsbürgertums“ als Elite erzählt.[7] Beispielsweise im ersten Kapitel The German Invention of Homosexuality zu Karl Heinrich Ulrichs. Beachy setzt das ins Englische unübersetzbare „Bildungsbürgertum“ für die Herkunft und Familie Ulrichs‘ im Jahr 1825 im ostfriesischen Aurich an. Weil der Vater Beamter und viele der Familienangehörigen evangelische Pastoren oder Mitarbeiter in der Kirchenverwaltung waren, komme Karl Heinrich aus dem Milieu des „Bildungsbürgertums“. Nachdem Ostfriesland mit Aurich 1815 durch den Wiener Kongress nach französischer Annexion durch Napoleon von Preußen an Hannover ging, blieb es alerdings weiterhin ein agrarisch geprägter Landstrich. Die Identifizierung eines „Bildungsbürgertums“ in Aurich oder dann später in Burgdorf, darf angezweifelt werden.  

 

Das Kapitel zu Karl Heinrich Ulrichs, das als die deutsche Erfindung der Homosexualität durch Ulrichs‘ „Urninge“ als einem Neologismus, einem neuen Wort durch die Verknüpfung von griechischer Mythologie um den Gott Uranus unter Übertragung der Dichotomie einer Zweigeschlechtlichkeit nach monotheistischem Modus erzählt, argumentiert mit den frühen Briefwechseln und bekenntnisartigen Schriften des Juristen und Aktivisten, um es mit einem aktuellen Begriff zu formulieren. Für Beachy wird Ulrichs Identitätskonzept des „Urning“ „a full-blown sexual orientation with its own distinct quality and character“.[8]

 

Ulrichs‘ Familiengeschichte wird mit den Briefen an seine Schwester etc. geradezu als eine geglückte erzählt, weil die neue Theorie von der Sexualität und dem Geschlecht zuerst in einem Brief an seine Familie formuliert wurde. 

In a second letter from November, addressed „Dear Loved Ones,“ Ulrichs shared the basic insight that would shape the ultimate theory of sexual identity.[9] 

Die prekäre Rolle des akademischen Wissensformates Theorie und des Zwangs zur Verortung sexueller Praktiken als Orientierung wird gerade gegenüber der Familie verpflichtend, damit das Familienmitglied weiterhin geliebt werden kann, anders als bei Michel Foucault, von Beachy gerade nicht thematisiert. 

… Auf welchen Wegen und aus welchen Gründen hat sich der Erkenntnisbereich organisiert, den man mit dem relativ neuen Wort »Sexualität« umschreibt? Es handelt sich hier um das Werden eines Wissens, das wir an seiner Wurzel fassen möchten: in den religiösen Institutionen, in den pädagogischen Maßnahmen, in den medizinischen Praktiken, in den Familienstrukturen, in denen es sich formiert hat, aber auch in den Zwangswirkungen, die es auf die Individuen ausgeübt hat, sobald man sie davon überzeugte, sie hätten in sich selber die geheime und gefährliche Kraft einer »Sexualität« zu entdecken.[10] 

 

Das weltweit erste, öffentliche Coming-Out von Karl Heinrich Ulrichs in der Geschichte der Moderne – „first public coming-out in modern history“[11] – am 29. August 1867 auf dem deutschen Juristentag in München trägt auch traumatische Züge, weil er seine Rede erstens nicht beenden konnte und sie zweitens die Abrechnung mit dem Juristentag unter dem Titel „Gladius furens“: das Naturrätsel der Urningsliebe und der Irrtum als Gesetzgeber: eine Provokation an den deutschen Juristentag. sechste Schrift über mannmännliche Liebe im Verlag von Max Spohr in Leipzig erst postum 1898 an eine größere Öffentlichkeit kommt. Zuvor war das Buch im „Selbstverlag des Verfassers“ in kleiner Zahl erschienen. Das Coming-Out war vom Juristentag totgeschwiegen worden. Erst als Karl Heinrich Ulrichs 1895 fast vergessen im Exil in L’Aquila bei Neapel verstorben war, verlegte Max Spohr, der seit 1893 die Publikation von Schriften zur Homosexualität unternommen hatte, seine Schrift. Die Umstände und die Überlieferung, mit denen das rasende Schwert (glaudius furens) geführt wurde, können bei aller Verehrung für Ulrichs‘ Zivilcourage nicht unbedacht bleiben.  

 

Was von Ulrichs nicht geschrieben wie publiziert wird und sich dennoch gerade unter politisch interessierten Jurastudenten um 1850 herausbildet, ist die Rolle der Studentenverbindungen. So gründete sich am 2. Juli 1848 die „Brunsviga“ an der Universität Göttingen aus „zumeist Braunschweiger Studenten“.[12] Ulrichs studierte von 1844 bis 1846 in Göttingen und anschließend bis ins hochpolitische Revolutionsjahr 1848 in Berlin. Sein Faible für uniformierte Försterschüler, wie er es in einem Brief an einen Freund formulierte, korrespondiert auffällig mit der Uniformierung von Studenten in Verbindungen. Anders gesagt: Der tumultartige Auftritt auf dem Juristentag in München kann durchaus einer fehlerhaften Übertragung der Erfahrungen, Praktiken und Diskussionen in einer Studentenverbindung oder auch der Erzählungen um jene Vereinigungen unter der Hand und vor allem dem Siegel der Verschwiegenheit geschuldet sein.

 

Unter dem Pseudonym Numa Numantius veröffentlichte Karl Heinrich Ulrichs 1864 seine Schrift „Vindex“ Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe in „Commission bei Heinrich Matthes in Leipzig“. Als preisgekrönter Verfasser, Übersetzer und Leser lateinischer Literaturen dürfte ihm der römische Dichter Rutilius Numantius aus der Zeit um 413 n. Chr. nicht unbekannt gewesen sein, an den er mit dem Pseudonym anknüpft, um sogleich in der Einleitung in Aussicht zu stellen, die „Fessel der Pseudonymität … ehestens brechen“ zu wollen.[13] Denn das Pseudonym hatte er allein derer, die ihm „die nächsten sind auf Erden“, also seiner Familie, namentlich der Schwester und ihrem Ehemann, einem evangelischen Pastor, gewählt. Mit anderen Worten: Die Schrift ist nicht nur einer Lösung des Rätsels in einer juristischen Argumentation geschuldet, sondern auch der Familie gegenüber welcher nun als „Wissenschaft“, insbesondere Naturwissenschaft und Wissenschaft von der Natur „der mannmännlichen Liebe“ argumentiert wird. Liebe und Zwang der Familie tragen somit zur Motivation der Schrift bei, nicht zuletzt weil Ulrichs nach Verlust seiner Assessoren-Stelle von der finanziellen Unterstützung seiner Familie abhängig geworden war. 

 

An den Forschungen unter dem lateinischen Titel „Vindex“ wie Ankläger oder auch Beschützer ist vor allem die literarische Form einer in Paragraphen strukturierten ebenso philosophischen wie juristischen als auch naturwissenschaftlichen Schrift auffällig. Die Wissenschaft wird auf strengste Weise als „System“ in „Sätzen“ formalisiert. Die Sätze werden als Aussagen im Tempus ebenso wie Modus des Präsenz formuliert. Als Deklarativsätze generieren sie auf diese Weise allererst das Wissen der Wissenschaft. Das Rätsel soll gerade keines bleiben, sondern bis in die feinsten Verästelungen gelöst werden. Das eröffnende Hauptargument ist dabei die Natur, die nicht zuletzt seit Ludwig Feuerbachs Rezension Die Naturwissenschaft und die Revolution[14] in den Blättern für literarische Unterhaltung Anfang November 1850 als Argument eben auch für eine sexuelle Revolution formatiert worden war.    

§. 1. Der Fundamentalsatz, den ich aufstelle, und auf den ich mein ganzes System aufbaue, ist der Satz:

Die Natur ist es, die einer zahlreichen Classe von Menschen neben männlichem Körperbau weiblich Geschlechtsliebe giebt, d. i. geschlechtliche Hinneigung zu Männern, geschlechtlichen Horror vor Weibern. 

Für diesen meinen Satz will ich hier die wichtigsten der mir zur Zeit bekannten wissenschaftlichen Beweisgründe anführen, mir vorbehaltend, in besonderen Schriften dieselben noch näher auszuführen und möglicherweise neuentdeckte noch hinzuzufügen.[15] 

  

Entgegen der Lektüre und Erzählungen von Robert Beachy wird mit der Eröffnung der Forschungen lesbar, dass das naturwissenschaftliche Modell der „Classe“ bzw. Klassifizierung als Formulierung der „Geschlechtsliebe“ einerseits als Versprechen eines Wissens von der Natur als Ursache, andererseits als eines Wissens vom Geschlecht und der Geschlechtlichkeit, was später Sexualität genannt werden wird, formuliert wird. Der „Fundamentalsatz“ erweist sich auch als ein wenig ungelenk, weil „Körperbau“ und „Geschlechtsliebe“ quasi materialistisch unterschieden werden müssen. Numa Numantius vermeidet indessen vor allem das im Hannoverschen Gesetz kriminalisierte Wort Wollust oder Lust als moralische Kategorien. Eingedenk dessen, dass Friedrich II. von Preußen als Souverän 120 Jahre zuvor die Wollust als „Devine volupté“ in seinem Gedicht La Jouissance zur Herrscherin der Welt erklärt hatte, ist die „Geschlechtsliebe“ und das Denken in Klassen der Natur ein bemerkenswerter Umbruch in der Geschichte der Sexualität.[16] Die Sexualität wird auf völlig andere Weise formuliert. Nicht mehr die Souveränität des Herrschersubjekts entscheidet über die Rechtmäßigkeit der sexuellen Praxis und Präferenz, sondern die Natur als ebenso gleichgültige wie grausame Macht.

 

Wenige Jahre später, 1869, greift Karl Heinrich Ulrichs nunmehr unter Klarnamen und als „Fortsetzung der Schriften des Numa Numantius“ den „Berliner Criminalfall v. Zastrow“ auf. In dem Mordfall an einem Sechzehnjährigen im Invalidenpark geriet Carl von Zastrow als bekennender „Urning“ unter Verdacht und wurde nach umfangreichen Presseberichten, psychiatrischen Untersuchungen, Verhören und Gegenüberstellungen schließlich zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Robert Beachy liest die öffentlich geführte Diskussion als eine Verbreitung und Popularisierung wie auch Ausdifferenzierung des Wissens um die Homosexualität. Letztlich führte die öffentliche Debatte um Zastrow eine Woche nach dessen Verurteilung zu einer Verschärfung des Gesetzes gegen Homosexualität. Beachy zeichnet dies gut lesbar und detailliert auf. In der Logik der Ulrichs-Biographie und der Verbreitung des Vokabulars zur homosexuellen Identität wird indessen übersehen, dass Ulrichs mit seiner neuen Schrift selbst an ihrer Ausdifferenzierung beteiligt ist: 

If Ulrichs had helped to introduce the identity of a congenital homosexual or Urning, this "ceature" was also believed to be psychologically diseased at least by most medical professionals.[17]    

 

Ulrichs adressiert seine Schrift „Incubus.“ Urningsliebe und Blutgier 1869 in seiner ersten Vorbemerkung „als Wort der Wissenschaft für Männer der Wissenschaft“ diesmal noch stärker an akademische Leser in der Hoffnung, dass seine Wissenschaft Unterstützung durch die Wissenschaftler findet. Denn es sei „Beruf der Wissenschaft … absolut nichts unerforscht zu lassen“. „Mediciner, Juristen oder sonstige Diener der Wissenschaft“ sollen seine Schrift lesen und sich an ihr messen lassen. Der positivistische Gebrauch der Wissenschaft und der Urning als „ein Naturräthsel“ behalten die Trennung von geschlechtlichem „Körperbau“ und nun „Liebestriebe“ bei.[18] Gegenüber der „Geschlechtsliebe“ in der ersten Schrift findet nun eine Verschiebung in Richtung eines naturhaften wie psychologischen Triebes statt. Ulrichs stellt für seine „Erörterung“ drei folgenreiche Fragen zur Verantwortlichkeit v. Zastrows, die eine Ausdifferenzierung des Wissens vom „Urning“ nach erstens „Existenz seiner geschlechtlichen Neigung“, zweitens „Handlungen“ an „unmannbaren Knaben“ und drittens „Grausamkeiten“ bei „Geschlechtshandlungen“ generieren werden. Wissenschaft beginnt mit dem Stellen von Fragen. Und Ulrichs ist daran interessiert, den „Urning“ über die Frage nach der „Verantwortlichkeit für das Vorhandensein des Triebes urnischer Geschlechtsliebe“ (S. 29) zu entkriminalisieren.

 

Die Abgrenzung des „Urnings“ erfolgt bei Ulrichs entschieden gegen „Päderasten“ (S. 36) und „Blutgier“. Doch sein juristisches Argumentationsverfahren besteht vor allem darin Fallgeschichten von der Antike bis in die jüngste Zeit anzuführen. Dafür spielt die Frage der Zurechnungsfähigkeit von Zastrows in Berlin für den Autor in Würzburg (S. 86) eine entscheidende Rolle. Die Natur, ließe sich sagen, ist ein Argument für das Recht an einer individuellen Ausübung von Sexualität. Wenn Zastrow zurechnungsfähig für „seines mit Knaben gepflogenen geschlechtlichen Verkehrs“[19] war, dann geht es sehr wohl um eine richtige Praxis der Sexualität, die Minderjährige schützt und ausschließt. Die „Handlungen wilder Grausamkeit und Blutgier durch unwiderstehlichen inneren Drang“ werden für Ulrichs zu einer Frage der „innere(n) Freiheit“, die zum Kriterium des psychiatrischen Krankheitswissens wird.[20] Der schmale Grat zwischen einem Rechtsanspruch des Individuums aus der Natur heraus und einem pathologischen Drang, der die „innere Freiheit“ verunmöglicht, wird in Incubus auch zum Problem der Urning-Identität. Denn nicht zuletzt der Titelgebende Incubus oder Dämon brütet im Körper des Urnings geisterhaft und alptraumartig aus, was sich nicht beherrschen lässt.      

 

Robert Beachys Geschichte der Modern Identity lässt sich gut lesen, weil über die Erfindung bzw. vielfältig verknüpfte Namensgenese des Urnings, des Schwulen und des Homosexuellen durchaus ein homogenisiertes Wissen von der „anderen“ Sexualität in ihrem Facettenreichtum aufbrechen lässt. Die Gruppenidentität ist indessen auch ein Problem, weil sie heterogen und hybrid genannt werden muss. Das Problem des Wissens als disziplinierende Macht wird von Beachy gerade nicht thematisiert, stattdessen argumentiert er mit seinem Berlin-Phänomenen gegen Michel Foucault, was eigentlich etwas schade ist. Die durchaus schwierige Geschichte der Sexualität und des Wahnsinns in Berlin ist mit neuartigen Erzähl- und Aufschreibepraktiken verknüpft, wie sie mit dem Forschungsprojekt Kulturen des Wahnsinns behandelt werden. Sie spielen konkret im Kriminalfall v. Zastrow neben den Erzählformaten einer sich herausbildenden großstädtischen Presse, die um 1900 quasi zum Weltpressezentrum werden wird, eine wichtige Rolle. Das Wissen vom Urning bzw. vom Homosexuellen hilft nicht nur bei der Herausbildung einer Gruppenidentität, sondern nutzt es wie bei von Zastrow auch als zerstörende Macht gegen eine auf diese Weise bestimmte Gruppe von Menschen.  

 

Als Sachbuch funktioniert Gay Berlin prima. Weil das Genre eben jene Elastizität des auch mitreißenden Erzählens und Wissens erlaubt, die anstelle einer genaueren Analyse von Ulrichs‘ Incubus und den Konsequenzen daraus für die Frage von Identität eine widersprüchliche, aber flotte Kriminalgeschichte erzählt. Denn gerade darin liegt ja das Paradox, dass die „identity of a congenital homosexual or Urning“ nicht nur eine stolze Gruppenidentität hervorbringt, sondern fast gleichzeitig als „psychologically diseased“ mit den Modi der Wissenschaft formuliert werden kann. In Incubus lässt sich eben durchaus neben all den Fallgeschichten der leise Schrecken über das naturwissenschaftlich formulierte Identitätskonzepte mithören. Über den „Eulenburg Scandal and the Politics of Outing“, „Hans Blüher, the Wandervogel Movement, and the Männerbund“  bis zu „Weimar Politics and the Struggle for Legal Rerform“ erzählt Beachy eine Geschichte von der Homosexualität und Berlin, wie sie wahrscheinlich nirgendwo anders hat stattfinden können. 

 

Torsten Flüh 

 

Robert Beachy 

Gay Berlin 

Birthplace of a Modern Identity 

Paperback 

$ 16,95

  

Das andere Berlin 

Die Erfindung der Homosexualität 

Eine deutsche Geschichte 1867-1933 

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 464 Seiten, 13,5 x 21,5 cm 

mit Abbildungen 

ISBN: 978-3-8275-0066-3 

€ 24,99 [D] | € 25,70 [A] | CHF 33,90

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[2] Robert Beachy: Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity. New York : Alfred A. Knopf 2014, p. xi.

[3] Ebd. p. xii.

[4] Ebd.

[5] Robert Beachy: Das andere Berlin. Die Erfindung der Homosexualität: Eine deutsche Geschichte 1867 – 1933. München: Siedler Verlag 2015, S. 13.

[6] Robert Beachy: Gay Berlin [wie Anm. 2] p. xiv.

[7] Ebd. S. 7.

[8] Ebd. S. 6.

[9] Ebd. S. 16.

[10] Michel Foucault: Vorwort zur deutschen Ausgabe. In: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 7.

[11] Robert Beachy: Gay Berlin [wie Anm. 2] p. 5.

[13] Numa Numantius (Karl Heinrich Ulrichs): „Vindex“ Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe. Leipzig 1864, S. XII. (Google-Books)

[15] Numa Numantius (…): „Vindex“ [wie Anm. 13] S. 1.

[17] Robert Beachy: Gay Berlin [wie Anm. 2] p. 35.

[18] Karl Heinrich Ulrichs: „Incubus“ Urningsliebe und Blutgier. Leipzig 1869 S. 5. [Internet Archive]

[19] Ebd. S. 44.

[20] Ebd. S. 85. 


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