Salon in revolutionären Zeiten - Rebellionen, Revolutionen oder Reformen im Salon Sophie Charlotte der BBAW

Salon – Musik – Revolution 

 

Salon in revolutionären Zeiten 

Rebellionen, Revolutionen oder Reformen im Salon Sophie Charlotte in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 

 

Im Salon Sophie Charlotte geht es eher reformierend als revolutionär bei einem Glas gediegenen Montepulciano d’Abruzzo zu, während in 16 Einzelsalons vom Leibniz-Saal bis in den Taubenschlag über Rebellionen, Revolutionen oder Reformen? gesprochen wird. Im Leibniz-Saal kündigt die Gastgeberin Sabine Kunst (Präsidentin HU Berlin) beispielsweise gerade ein Gespräch zwischen Nike Wagner und Gerhard R. Koch an, das das Akademiemitglied Ernst Osterkamp moderiert. Am Paternoster findet ab 19:30 Uhr stündlich Dantons Tod im Paternoster! von Simon Schlingplässer und Alfred Hartung statt. Im Einstein-Saal hat der FU Präsident Peter-André Alt um 21:00 Uhr Joachim Sauer, Chemiker, HU Berlin, und Gatte der Bundeskanzlerin sowie neben anderen das Akademiemitglied Dagmar Schipanski, einstige Bundespräsident-Kandidatin, zu Austausch über Der Umsturz von 1989/90: eine Revolution? geladen.

 

In revolutionären Zeiten, da Madonna nicht nur andere Frauen in Washington zur „Revolution“ aufruft und gleich ein politisch völlig unkorrektes „Fuck you!“ via Livestream und CNN hinterherschickt, wird im Salon Sophie Charlotte der Diskurs plural an mehreren Orten gleichzeitig gepflegt. Und die Bundeskanzlerin Angela Merkel hört fast inkognito im Salon von Sabine Kunst mit dem Titel Sind Revolutionen noch möglich? der Urenkelin des Revoluzzers Richard Wagner Nike Über Revolution und Reformation in der Musik zu. Deutschland hat es besser. Für Donald Trump wäre der Salon Sophie Charlotte nichts gewesen, obwohl die digitale Mikroblog-Revolution von Twitter und Snapchat ihn an die Macht gebracht hat.

 

Auf Twitter und Snapchat geht es nicht um Diskurse im Salon, sondern darum Befehle und Handlungsanweisungen zu erteilen. Michael Thomas Flynn hat es mit seinem Profil „General Flynn“, designierter Nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten Trump, mit seinem U-decide-Tweet am 2. November 2016 vorgemacht hat. Die Frage des Akademiepräsidenten Martin Göschel, ob „Revolutionen noch möglich“ seien, als Jahresthema des Salons Sophie Charlotte geht insofern haarscharf an der jüngsten Revolution vorbei. Die Präsidentschaftswahl war kein politischer Prozess, sondern eine Revolution der befehlsförmigen Tweets über Channels gegen den politischen Diskurs. Da der Berichterstatter nicht alle Salons gleichzeitig besuchen konnte, versäumte er: Likest Du nur oder lebst Du auch? Die digitale Revolution und ihre Folgen.  

 

Der Politik-Diskurs sollte am 20. Januar 2017 vor den versteinerten Gesichtern der republikanischen wie demokratischen Ex-Präsidenten Clinton, Bush, Carter, Obama abgeschafft werden. Darin liegt letztlich die Pointe der Antrittsrede von Donald Trump. Mit der Kampfansage an die Washingtoner Administration wird im Tweet-Modus der Diskurs in seiner literarischen Elastizität abgeschafft. Die einzig mögliche Revolution kam und kommt also aus einen 140-Zeichen-Kosmos. Dass die Kampfansage an die Administration mehr als 140-Zeichen lang ist, wird allein dem Format Inauguration geschuldet sein. 

Because today we are not merely transferring power from one administration to another or from one party to another, but we are transferring power from Washington, D.C. and giving it back to you, the people.[1]

  

Das Versprechen der Transformation, der Übertragung, der Macht nicht von einer Administration auf die nächste, sondern von „Washington, D. C.“ zurück an das Volk, wie hier „the people“ zu übersetzen ist, entspricht dem Gestus der Revolution und nicht einer Reformation oder Rebellion. Gleichzeitig wird mit dieser Formulierung der Washingtoner Diskurs ersetzt durch Tweets und Likes oder Hates des Volks am Smartphone, das seinerseits von Bots unterstützt wird. Oder gerade umgekehrt. Es war die ultimative Kampfansage an die Washingtoner Thinktanks der Parteien aus der Position der Macht. Obwohl White House Reporter Julie Hirschfeld Davies in der NYTimes auch einen Appell an die Einigung der Nation sehen will oder eher mit dem Hinweis auf „Trump’s Advisors“ karikiert, geht es gerade nicht um eine Transformation der Macht an das Volk, sondern einzig und allein in die Hand von Donald Trump. Die große Kunst der Autokraten, Revolutionen als Farce aufzuführen.

 

Salon ist Diskurs in seiner immer auch flüchtigen Gleichzeitigkeit und Vielfalt. Deshalb ist er unübersichtlich und lässt sich kaum fassen. Zeichnen sich doch gerade die Salon-Erinnerungen von Rahel Levin-Varnhagen von Ense als Buch unter dem Titel Rahel. Ein Buch des Andenkens dadurch aus, dass das Salon-Gespräch bis auf Anekdotisches flüchtig und uneinholbar bleibt.[2] In einer Diskussion über Rebellionen, Revolutionen oder Reformen und Trump wird man die Inaugural Speech des fünfundvierzigsten Präsidenten weniger auf ihren Inhalt hin lesen müssen, als vielmehr auf Gesten der Revolution. 

Oder gibt es heute, um mit Herfried Münkler zu fragen, nur noch Rebellionen? Sind Revolutionen die „Lokomotive der Geschichte“, wie Karl Marx meinte, oder eher die „Notbremse“, wie Walter Benjamin sagte? Was unterscheidet die Revolutionen von 1789, 1848, 1917 und 1989? Führen die Rebellionen in der arabischen Welt zu einer Renaissance islamischer Orthodoxie? Und wie revolutionär war eigentlich die Reformation?[3]

 

Das Salon-Gespräch wird im Salon Sophie CharlotteSind Revolutionen noch möglich? – eher durch plötzliche Einsätze, Zwischenfragen und Zwischenbemerkungen, Zwischenrufe eher selten, Abbrüche und neue Wendungen geprägt.[4] Es kommt nie wirklich an ein Ende. Vielmehr wird es abgebrochen, weil die Zeit um ist. Ernst Osterkamp moderierte das Gespräch zwischen Nike Wagner und Gerhard R. Koch, um seine Position als Musikhistoriker, dass die Musik als Oper mit der Aufführung von La muette de Protici die Revolition in Belgien am 25. August 1830 losgetreten habe, pointiert zu vertreten. Nike Wagner widersprach indessen hinsichtlich der Rolle der Musik für die Revolution. Die Musik kann nie die Revolution übernehmen. Doch es gäbe auch keine Revolution ohne Musik, versuchten sich die Gesprächspartner zu einigen. Mehr als der Vortrag ist es der brüchige Modus des Gesprächs, der den breiteren Diskurs, dass überhaupt miteinander gesprochen wird und der den Abend bestimmte. Um 23:30 Uhr sang Hanna Schygulla Lieder der Hoffnung und des Widerstands. Aber – und so geht es beim Salon – der Berichterstatter war da schon wieder woanders.

 

In Zeiten wie diesen, um es einmal so zu formulieren, muss man sich gut überlegen, wie ein Gespräch stattfinden kann und wie es sich vom Tweet oder den Bildgewittern von Snapchat unterscheidet.[5] Das Gespräch ist ganz offensichtlich nicht die Stärke von Donald Trump. Es ist ein Modus des Sprechens, der ihm eher fremd ist – undzwar nicht nur im Wahlkampf. Die hoch formalisierte Sprechweise der Fernsehdebatten durchbrach Trump nicht zuletzt mit seiner eigenen befehlsförmigen Wortwahl oder Lexik. Entschuldigung für die Abschweifung: Aber man wird davon ausgehen dürfen, dass Donald Trump beim Frühstück kein Gespräch mit seiner Frau führt. Ein Präsident, der nicht einmal auf seine First Lady wartet, um mit ihr das scheidende Präsidentenpaar zu begrüßen, führt keine Gespräche mit seiner Frau oder irgendjemand anderem. Im Gespräch müsste man warten und zuhören. 

 

Die von Jackie Evancho[6] gesungene Nationalhymne bei der Amtseinführung verglich Ernst Osterkamp im Gespräch mit Frau Wagner und Herrn Koch en passant mit Jimi Hendrix Star Spangled Banner-Interpretation 1969 auf dem Woodstock-Festival.[7] Die Gesangsinterpretation oder Nichtinterpretation als historische Zäsur. In der Tat ist der musikalische Effekt zwischen einer Casting-Show-Sängerin mit dünner Stimme, aber blondem Haar und weißer Haut, mindestens so revolutionär wie Hendrix‘ Protest gegen den Vietnam-Krieg auf der E-Gitarre. In Hendrix‘ Anthem lassen sich die Kampfflugzeuge und Maschinengewehre auf der Gitarre in einer Ambivalenz von Schrecken und Trauer hören, während bei Jackie Evancho hörbar irgendwo in den Kulissen der Mann mit dem Baseballschläger wartet. Musik lässt sich vielleicht nicht auf Revolutionen festlegen, doch sie kann revolutionär werden.

 

Nike Wagner erinnerte in einer Passage zu Beethovens 9. Sinfonie mit der prärevolutionären Ode an die Freude von Friedrich Schiller an die zweifelhafte Karriere dieser Komposition des Humanismus‘ par excellence. Denn Josef Stalin habe die Neunte besonders gern gehört. Im September 2016 ließ Nike Wagner im Rahmen des Beethoven-Fests in Bonn »Revolutions«-Musiken vom Ural Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Dmitri Liss aufführen. Neben Beethovens Geschöpfe des Prometheus erklang die Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution auf Texte von Marx, Engels und Lenin für Orchester und Chor op. 74 (1936/37) von Sergei Sergejewitsch Prokofjew. Die Komposition wurde allerdings nicht anlässlich der Feierlichkeiten aufgeführt, sondern zurückgehalten, weil sich die Funktionäre unsicher darüber waren, ob in der großangelegten Kantate nicht ebenso eine Kritik an Stalin angelegt sein könnte. Sie wurde erst – wohl in Umarbeitungen – 1966 nach Prokofjews und Stalins Tod aufgeführt. Für Nike Wagner war das ein Indiz für die Ambivalenz der Musik gerade dann, wenn sie Revolution erzählen und hörbar machen soll. Denn zur Instrumentierung gehören Maxim Maschinengewehre.

 

Im sogenannten Taubenschlag hielt die Arabistin Friederike Pannewick vom Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Universität Marburg den Vortrag Arabische Literatur und die Kunst der Straße in Zeiten des Umbruchs. Zum Arabischen Frühling bzw. den Arabischen Revolutionen formulierte sie zwei Fragen. „Äußerst sich Dissens und widerständisches Denken in stabil erscheinenden Diktaturen auf dieselbe Weise wie in Zeiten von Revolution?“ Und: „Macht es einen Unterschied für die Literatur, ob der Tyrann fest im Sattel sitzt oder gerade gestürzt wurde?“ Diese eher mikrologisch-empirischen Fragestellungen zur Revolution und ihrer sprachlich-literarischen Artikulation sind u.a. deshalb wichtig, weil die Revolutionen des Arabischen Frühlings um 2011 fast schon aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden sind oder für Europa zu schwer zu regulierenden Folgen geführt haben.

 

Angesichts von Flüchtlingsströmen und den damit verbundenen Herausforderungen könnten heute Politiker geneigt sein, die Revolutionen des Arabischen Frühlings z.B. seit Februar 2011 in Syrien als Ursache zu instrumentalisieren. Hätten beispielsweise die westlichen Demokratien die revolutionären Bewegungen gegen Assad von vornherein bekämpfen sollen? Diese Fragen schwingen im Hintergrund des Vortrags von Friederike Pannewick mit, wenn untersucht wird, ob die revolutionären Umbrüche überhaupt einen Sinn gemacht haben. Was ist übriggeblieben? Gegen die großen Narrative erfolgreicher Revolutionen wie der Französischen Revolution oder auch den Ereignissen um 1989 – Der Umsturz von 1989/90: eine Revolution? (Einstein-Saal) –  fokussiert Friederike Pannewick ihre Forschung auf kleine, einzelne Erzählungen.

 

Die Frage nach dem Unterschied verschiedener Praktiken während der Diktatur einerseits und der Revolution andererseits erklärt die Arabistin klar. „Stabile autokratische Herrschaftssysteme“ führen zu literarischen Verfahren des „Schwarzen Humor im Märchengewand“ und generieren „indirekte Kritik zwischen den Zeilen“. Wenn ein altes oder als Narrativ kursierendes „Märchen“ anders erzählt wird, dann lässt sich darin durchaus eine Kritik mitlesen. Während der Revolution wird die Kritik in vielfältiger Weise öffentlich. Statt zwischen den Zeilen erscheinen nun „Graffiti, Videos im öffentlichen Raum“ und werden als offene Kritik wahrgenommen. Für die Zeit der Kritik im Regime führte Friederike Pannewick den syrischen Maler und Filmemacher Hazem Al-Hamwi an. In seiner Erzählung schluckt der kritische Künstler literarisch vieldeutig eine Karikatur des Autokraten hinunter, damit er nicht verhaftet wird. Die Kritik ist sozusagen da, liegt dem Künstler aber als Verschränkung von Bild und Text schwer im Magen.  

 

Die Angst des Einzelnen und der Gesellschaft antwortet nach Friedericke Pannewick auf die Frage nach dem Sinn der Revolution. Während die Angst vor dem Staats- und Sicherheitsapparat den Erzähler bei Hazem Al-Hamwi dazu zwingt, die schwerverdauliche Leinwand mit dem Bild zu verschlucken, glaubt Rosa Yassin Hassan, dass die „Kultur der Angst“ in Syrien für immer verschwunden ist. 

Nur zwei Dinge sind, so glaube ich, sicher: Erstens, dass Syrien nie wieder so werden wird, wies es einmal war, und zweitens, dass dieses alte morsche Gebäude einer Kultur der Angst, in dem wir aufgewachsen sind, bis auf die Grundmauern zerstört ist. Trotz des hohen Preises, der dafür zu zahlen ist: Die Freiheit bewirkt, dass wir uns von leblosen Gegenständen in Menschen verwandeln, und genau deswegen sind wir die Einzigen, die für unser Schicksal verantwortlich sind.[8] 

 

In einer „Kultur der Angst“ wird nicht gesprochen, ließe sich sagen. Nicht einmal über die Angst wird gesprochen. Es sei denn in der Weise, dass von heruntergeschluckten Manuskripten und Bildern in Märchen erzählt wird. Der Diskurs und das Sprechen im Salon oder in Vereinen, Teekränzchen und Gesellschaften wie der Gesetzlosen Gesellschaft, die am 4. November 1809 in Berlin gegründet wurde und weiterhin aktiv ist[9], wurden besonders in Berlin um 1800 zu einem gesellschaftlichen und Wissen generierenden Motor. Der Grad der Institutionalisierung dieser Zusammenkünfte und ihrer Diskurse war und ist höchst unterschiedlich, wie es beispielsweise Hannah Lotte Lund in ihrer Dissertation Der Berliner »Jüdische Salon« um 1800. Emanzipation in der Debatte. erforscht hat und weiterhin erforscht.[10]

 

Die Gesetzeslose Gesellschaft trägt mit ihrer Gesetzeslosigkeit nicht nur die Geste der Revolution in ihrem Namen, sondern hält sich auch jenseits einer gesetzlichen Institutionalisierung. Während in der Erzählung und Herstellung einer Geschichte bezeichnenderweise erst nach 150 Jahren durch den „Gesetzeslosen“, Historiker und Begründer der brandenburgischen Landesgeschichte Willy Hoppe 1959 darum bemüht ist, die Regelhaftigkeit der Gesellschaft zu formulieren, wird in einem Festgedicht von 1819 nicht zuletzt die ambivalente Urplötzlichkeit der Gesellschaft herausgestellt.[11] Auf geradezu konspirative Weise generierten sich die ersten Treffen und Sitzungen aus dem Moment heraus. 

Unabdingbar war und blieb die Regelmäßigkeit der Versammlungen. Sie fanden, wie schon gesagt, in Form einer Tischgemeinschaft statt. Alle 14 Tage kam man am Sonnabend zusammen, im allgemeinen um 3 Uhr. Die Protokollbücher gestatten die Feststellung, dass nicht allzuoft eine Zusammenkunft ausgefallen ist. In der Woche vor der jeweiligen Tafel trug ein Bote bei den Mitgliedern ein Blatt umher, das der "Zettelschreiber vulgo Tyrann", wie es einmal heißt, mit Angabe von Ort und Zeit ausgefertigt hatte. Darauf schrieb jeder unter gleichzeitiger Zahlung von einem Groschen Courant als Botenlohn seinen Namen, entweder in die Spalte Aderunt (werden da sein) oder Viderunt (gesehen).[12]  

 

Der Salon Sophie Charlotte ist heute weniger urplötzlich. Begleitet von regionaler Berichterstattung wird er zum Modul der Öffentlichkeitsarbeit an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Alljährlich sind die Flure der Einrichtung, an der sich auch das Deutsche Textarchiv befindet, allerdings plötzlich gefüllt. Zugang hat Jede und Jeder, der der gut einen Monat im Voraus publizierten Einladung des Präsidenten folgen möchte. Der Salon Sophie Charlotte kommt in der rbb-Abendschau und in den Tageszeitungen vor. Als der Berichterstatter kommt, trifft er nicht nur im Vorübergehen die Bundeskanzlerin, sondern auch Dieter Rita Scholl, die kürzlich im mit dem Lila Lied im Salon Chanson aufgetreten war. Das mag an Hanna Schygullas Eröffnungsauftritt gelegen haben, doch es ist sicher ebenso ein Indiz für die Offenheit und Freiheit, die im Salon Sophie Charlotte praktiziert wird.  

 

Zu den regelmäßigen Programmpunkten gehört die Paternoster-Performance im „1. OG“, was sich nur mithilfe einer Karte finden lässt. In diesem Jahr bekam sie mit Georg Büchners Dantons Tod im Paternoster! eine besondere Drehung. Nördlich des Mains muss man heute vielleicht daran erinnern, dass der Paternoster nicht nur ein aus dem Gebrauch gekommener, nur noch in Sonderfällen und zum Vergnügen zu nutzender Aufzug ist, sondern buchstäblich auch Vaterunser heißt. Danton’s Tod, wie es im Manuskript mit Apostroph geschrieben steht, ist das Revolutionsdrama schlechthin.[13] Mit der Französischen Revolution sollte nicht zuletzt das Pater noster als Gebet der christlichen Kirchen, insbesondere der katholischen abgeschafft werden. Mit Camille „für sich“ gesprochen: 

Der Himmel verhelf’ ihr zu einer behaglichen 

fixen Idee. Die allgemeinen fixen Ideen, welche 

man die gesunde Vernunft tauft, sind unerträglich 

langweilig. Der glücklichste Mensch war der, welcher 

sich einbilden konnte, daß er Gott Vater, Sohn und 

heiliger Geist sei.[14]  

 

Dantons Tod ist für den Paternoster möglicherweise besser als andere Stücke geeignet. Denn im revolutionären Geschehen setzt der Diskurs auf merkwürdige Weise aus bei Georg Büchner. Camille Desmoulins formuliert „für sich“ und nicht für jemanden anderes außer dem Publikum den Schrecken der Revolution. Das Für-sich-gesprochene wird zum Kommentar für die von Danton konstatierte Unfähigkeit des Regierens. Wenn „keiner (das Regieren) versteht“ hat der Diskurs ausgesetzt. Statt miteinander zu sprechen, wird guillotiniert. Das ist der Schrecken, der vielleicht jeder echten Revolution eigen ist. 

Ich lasse Alles in einer schrecklichen Verwirrung. 

Keiner versteht das Regieren. Es könnte vielleicht 

noch gehn, wenn ich Robespierre meine Waden 

hinterließe.     

 

Der Paternoster ist kein Salon. Er ist eine Maschine, die mehr oder weniger aus sich selbst läuft. Statt miteinander zu sprechen, läuft eine Maschine, die nach Camilles Formulierung eines Selbstgenusses funktioniert: „Der glücklichste Mensch war der, welcher sich einbilden konnte, daß er Gott Vater, Sohn und heiliger Geist sei“. An die Stelle der Trinität nach der christlichen Lehre, setzt sich ein revolutionärer Mensch, der sich einbildet, „Gott Vater, Sohn und heiliger Geist“ zu sein. Die Revolution verabschiedet sich vom Diskurs im Moment seines Vollzugs. Und deshalb folgt Donald Trump nur der Logik der Revolution, wenn er sofort die Folter als probates Mittel des Regierens verkündet. Ob es die Folter der Inquisition in Spanien des 16. Jahrhunderts oder die Folter der chinesischen Kulturrevolution gewesen ist, sie folgt der Revolution auf dem Fuße, während noch nicht ganz klar ist, ob Donald Trump das Regieren verstehen wird. 

 

Torsten Flüh 

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[1] Donald Trump’s Inaugural Speech, Annotated. New York Times reporters analyze the 45th president’s comments. In: New York Times, 2017.

[2] Siehe Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Berlin 1833. (Digitalisat Deutsches Textarchiv in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.)

[3] Martin Grötschel: Rebellionen, Revolutionen oder Reformen? Salon Sophie Charlotte Gerda-Henkel-Stiftung 12.12.2016.

[4] Siehe auch den Abschnitt Gespräche – Bettina von Arnim in Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Zur Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 77-97.

[5] Die Ikonographie von Snapchat im Downloadtrailer läuft völlig ohne Gespräch, dafür aber mit Herzchenaugen, Handküssen und blonden, langen Mädchenhaaren ab. Die Kommunikation auf Snapchat verläuft demnach irgendwo zwischen Prostitution und Pornographie – so zumindest die Eigenwerbung.

[6] Jackie Evancho National Anthem At Trump Inauguration (ABC YouTube)

[7] Jimi Hendrix- Star Spangled Banner at Woodstock (YouTube)

[8] Zitat nach Mitschrift während des Vortrags.

[9] Siehe dazu die Website „Die gesetzlose Gesellschaft zu Berlin“ http://www.gesetzlose-gesellschaft.de/

[10] Hannah Lotte Lund: Der Berliner »Jüdische Salon« um 1800. Emanzipation in der Debatte. Berlin/Boston 2012. (Siehe auch: Torsten Flüh: Neues von den Berliner Salonièren. Zu Private Thursday, Wikimedia-Salon und zur Salonforschung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Juni 2014 18:57.

[11] Willy Hoppe: Die Geschichte der Gesellschaft. Berlin 1959. (Index)

[12] Ebenda.

[13] Siehe auch: Torsten Flüh: Genießen und Geschichte. Claus Peymanns Danton’s Tod von Georg Büchner am Berliner Ensemble. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2012 22:18.

[14] Georg Büchner: Danton's Tod. Frankfurt (Main), 1835. In: Deutsches Textarchiv S. 140, abgerufen am 26.01.2017.

 


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