Körper – Jungsein – Messen
Körper-Bild und -Leid
Junges dt spielt Corpus im Robert-Koch-Saal
Was heißt es, einen Körper zu haben? Und: Woher wissen Sie, dass Sie einen Körper haben? Was bedeutet es für Jugendliche heute, mit Körper-Bild-Diktaten erwachsen zu werden? Körperfragen sind oft quälend und die schwierigsten, die einem jungen Menschen begegnen. Sie werden einen das ganze Leben nicht loslassen.

Das Regieteam, Gudrun Herrboldt und Bettina Tornau, hat sich mit dem Schauspieler Bernd Moss und 7 Jugendlichen an das Thema heran gewagt. Entstanden ist das choreographische Körperprojekt Corpus, eine Textcollage. Die Texte sind Ratgebern entnommen, stammen aus Internet-Blogs oder werden in der Ich-Form als Geschichten erzählt. Premiere hatte Corpus am Donnerstag im historischen Robert-Koch-Saal in der Dorotheenstraße. Theater im Hörsaal und der Hörsaal als Theater.

Welch ein Ort! Der Robert-Koch-Saal. Nur wenige Mediziner haben das Denken des Körpers so tiefgreifend verändert wie Robert Koch. In diesem Saal hielt er am 24. März 1882 vor der Berliner Physiologischen Gesellschaft als Regierungsrat am Kaiserlichen Gesundheitsamt seinen bahnbrechenden Vortrag über die Entdeckung des Erregers der Tuberkulose, die in Berlin zu einer epidemischen Massenkrankheit geworden war.

Der Saal ist ein Juwel der Architektur und der Berliner Baugeschichte. Er überstand unbeschädigt die Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges. Zwischen 1873 und 1877 im spätklassizistischen Stil von Paul Emmanuel Spieker (1826-1896) erbaut, gehört das Gebäude zu jenen Bauwerken der späten Schinkelschule, die Gusseisen als Baumaterial und ornamentale Verzierung einsetzen. Denn Spieker war ein Schüler Friedrich August Stülers (1800-1865), der zwischen 1844 und 1855 das Neue Museum erbaut hatte. In den gusseisernen Säulen, Treppen und Gittern spiegelt sich die Begeisterung für das Baumaterial Eisen. Es wurde mit ziemlicher Sicherheit bei Borsig in der nahen Chausseestraße gegossen.

Links und rechts an den Zugängen zum Saal wurden 1982, als das Gebäude zum Robert-Koch-Forum umgewidmet wurde, Vitrinen mit Tuberkulosepräparaten aus der Sammlung des Instituts für Pathologie der Charité aufgestellt. Die Präparate aus den Körpern Tuberkulosekranker machen die Folgen der Krankheit in Kunstharz dauerhaft sichtbar. Sie sind eine Art dreidimensionale Fotografie. Für animierte, dreidimensionale Computer-Medizin-Programme wurden Leichen scheibchenweise fotografiert, um den menschlichen Körper zu generieren, worauf nicht zuletzt Claudia Reiche hingewiesen hat.

Robert Koch (1843-1910) veränderte das Denken vom Körper, weil mit der Entdeckung des Mycrobacterium tuberculosis zum ersten Mal ein mikroskopisch kleines Lebewesen, ein Mikroorganismus, für eine Krankheit im menschlichen Körper als Ursache nachgewiesen werden konnte. Koch war der Nachweis nicht zuletzt durch die Fotografie gelungen. Erstmals hatte er mit der Entdeckung des Milzbrand-Erregers, Bacillus anthracis, bei Kühen 1876 in Wollenstein bei Breslau ein Bakterium als Krankheitserreger nachgewiesen. Diese Entdeckung und die Methode des sichtbaren Nachweises einer Mikrobe als Krankheitserreger war so spektakulär, dass der Kreisphysikus Robert Koch durch Empfehlung aus Breslau an das Kaiserliche Gesundheitsamt nach Berlin berufen wurde.

Mit seinem Vortrag über die „Ätiologie der Tuberkulose“, die Ursachenlehre, im Hörsaal des Naturwissenschaftlichen und medizinischen Institutes der Königlichen Universität Berlin in der Dorotheenstraße 1882 wurde Koch mit einem Schlage berühmt. Der Körper des Menschen und aller Lebewesen galt fortan von Bakterien und Mikroben von Außen als bedroht.

Kochs bahnbrechende Entdeckung unter dem Mikroskop mithilfe der Fotografie bereitete den Weg für die Bakteriologie, die Mikrobiologie, die Hygienelehre. Der gesunde Körper war mit einem Mal von zahllosen, sichtbar-unsichtbaren Feinden gefährdet.

Dass wir wissen, dass wir einen Körper haben, den wir z.B. durch Gummihandschuhe oder Zellstoffmasken vor Krankheiten schützen müssen, verdanken wir nicht zuletzt Robert Koch. Von der Grippe bis zum HIV-Virus und SARS basiert das Wissen auf dem Sichtbarkeitsparadigma das mit Mikrofotografie heute unter dem Elektronenrastermikroskop hergestellt wird.

Das Gebäude in der Dorotheenstraße gehört zum Institut für Mikrobiologie und Hygiene der Charité. Im 19. Jahrhundert waren allerdings die Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität und die medizinische Versorgung durch die Charité noch von einander getrennt. Corpus ist nicht zuletzt als Projekt zur 300 Jahrfeier der Charité in diesem Jahr vom und mit dem Deutschen Theater produziert worden. 2010 jährte sich gleichfalls Robert Kochs Todestag zum 100ten Mal.

Wie wir über unseren Körper denken, hat sich verändert. Doch dass wir unseren Körper als einen geschlossenen, bestimmbaren, messbaren denken, ist nicht zuletzt durch Kochs Entdeckung mithilfe der Fotografie begründet. Heute bestimmen Fotografien und Videos unser Körper-Bild. Die zirkulierenden Körper-Bilder in den Medien prägen, wie wir unseren Körper sehen und ihn sehen wollen. Wir sprechen heute von unserem Körper als einem Produkt unserer selbst. Wir fühlen uns durch Wissensformationen für ihn verantwortlich von ausgerichteten, gesunden Zähnen bis zur Muskelfaser.
Die (medizin-)historische Dimension des Körpers spielt in Corpus, außer dass die Inszenierung im Robert-Koch-Saal stattfindet, so gut wie keine Rolle. Das Wissen vom – unserem - Körper bleibt nahezu a-historisch auf aktuelle Diskurse bezogen. Das mag der Zielgruppe der Jugendlichen des Jungen dt geschuldet sein. Dennoch ist es schade, dass so der Ort der Aufführung eher marginalisiert wird.

Corpus wird in 7 Kapiteln aufgeführt und geht von der These aus, dass der „Körper heute nicht mehr einfach nur Schicksal ist, sondern Produkt von Anstrengungen: Er wird gemacht, geformt, inszeniert“. Beispielsweise wird thematisiert, dass blonde Menschen heute mehr Chancen haben. Blond ist ein Erfolgsrezept. Blonde haben mehr Chancen. Jugendliche wollen heute blond sein, damit sie nicht mit Anfang Zwanzig im Archiv eines Unternehmens verschwinden.
Köper werden heute nach Idealmaßen und dem Body-Mass-Index vermessen. Schon vor Beginn der Aufführung wird dem Publikum ein Fragebogen in die Hand gedrückt, bei dem der Body-Mass-Index (BMI) ganz oben eingetragen werden soll. Gewicht durch Größe in Metern zum Quadrat und schon ist der BMI ermittelt. Normal- und Übergewicht stehen fest. Darüber hatte ich mir bisher keine Gedanken gemacht. Wozu so eine Selbstbefragung im Theater-Hörsaal doch gut ist.

Bernd Moss ist eine Art Körperdozent und erklärt den Jugendlichen erst einmal mit Ratgeber-Weisheiten, welche Distanzen unser Körper einnimmt. Wie nah wir andere Menschen an uns heranlassen, kann man messen. Natürlich müssen heute auch die einzelnen Körperteile ge- und vermessen werden. Der ganze Körper von Messbändern überzogen.
Im 3. Kapitel geht es über Selbstversuche mit dem Körper. Die Jugendlichen verändern die Hauterscheinung ihres Gesichtes oder ein junger Mann geht mit Schwangerschaftsbauch im Foyer des Deutschen Theater herum, um zu testen, wie die Menschen auf ihn reagieren. Ein schwangerer, junger Mann löst natürlich insbesondere bei älteren Männern ziemliche Irritation aus.

Im Teil Pathologie erzählen die 4 jungen Frauen und drei Männer von Krankheiten und Verletzungen im Wettbewerb. Krankheits- und Verletzungsgeschichten in der Ich-Form sind Aufmerksamkeitsköder. Sie steigern sich in den Wettbewerb der schlimmsten Krankheiten und Verletzungen, indem sie einander immer wieder mit einem Stop-Zwischenruf unterbrechen.
In das Muster der Krankheiten als Gegenbild des perfekten Körpers passt neben Kunstdarm und am Zaun zerfetztem Arm auch die Nahrungsmittelunverträglichkeit. Durch den Terror der Körpermaße entsteht nicht zuletzt Anorexia nervosa. Anas Brief und Anas Gesetz sind Texte aus http://ana-till-the-end.blogspot.com Einem Blog mit dem Motto Ana is love – Hunger is beautiful. Die Bloggerin Beanie hat von 2008 bis zum 8. Oktober 2010 ein Tagebuch über ihre Magersucht geschrieben. Jetzt ist sie geheilt.

Anas Brief und Anas Gesetz werden recht dramatisch mit Stimmen von der Galerie des Robert-Koch-Saales inszeniert. Magersucht ist heute ein Massen- und Medienphänomen. Google listet für Anorexia nervosa Deutschland 2.560.000 Einträge. Es ist eine Erkrankung, unter der vor allem junge Frauen leiden. Doch die Häufigkeit bei jungen Männern nimmt zu. Es ist vermutlich die häufigste Schnittstelle von Wissen um den Idealkörper(-Index) und seinem patho-logisch werden.
Im 5. Kapitel geht es um die Nahrungsaufnahme, die mit Salatblatt, Schnitzel, Götterspeise und einem Glas Milch fehlschlägt. Dazu wird aus Diane Ackermanns Bestseller Die schöne Welt der Sinne (2002) zitiert. Das Buch wurde 1990 als A Natural History of Senses veröffentlicht. In der Aufführung wird nicht ganz klar, in welchem Verhältnis das Zitat des Buches zur fehlschlagenden Nahrungsaufnahme steht. Man könnte es auch als Kritik verstehen.

Im Abschnitt Körpercodes geht es um Bewegungen, Gesten und Blicke, die sich - vermeintlich - verstehen lassen. Die Darstellung gipfelt in einer diskoartigen Szene, bei der schließlich alle 7 Jugendlichen ineinander verschlungen sind.
Welchen utopischen Gehalt die Aussage, dass eine Jugendliche „das Gefühl hatte, dass sich mein Körper auflöst“ im Kapitel Körperutopien, haben soll, blieb undeutlich. Entkommt man dem Wissen um seinen Körper, wenn man das Gefühl hat, dass sich der Körper auflöst? Ist ein Gefühl, vom Körper, der sich auflöst, ein Gegenentwurf zum Körperwissen? Dann könnte man letztlich nur das Gefühl gegen das Wissen in Stellung bringen.

Insgesamt ist die Aufführung von Corpus ein bestechendes Theater-Ereignis mit viel Charme. Die Jugendlichen – Katarina Dmitrieva, Josephine Lange, Lorenz Nolting, Michael Krieger, Bianca Praetorius, Onca Turan und Wojciech Zopoth – sind hoch engagiert und sehr talentiert. Am Schluss gab es begeisterten Applaus und der Premierensekt wurde sicher auf dem Prosekturtisch im Laborglas serviert.

Corpus ist eine Möglichkeit, junges Theater zu machen.
Torsten Flüh
Corpus
Junges dt
13. November 2010, 16.00 Uhr
14. November 2010, 19.30 Uhr
25. November 2010, 19.30 Uhr
26. November 2010, 19.30 Uhr
27. November 2010, 19.30 Uhr
28. November 2010, 19.30 Uhr
9ed671ef-c3cc-435e-b9c2-08f59c4ebb59|0|.0
Tags:
Corpus,
Körper,
Körper-Bild,
Robert Koch,
Medizin,
Fotografie,
Claudia Reiche,
Paul,
Emanuel Spieker,
Charité,
Ätiologie,
Wissen,
Deutsches Theater,
Bild,
Robert-Koch-Saal
Categories:
Theater