Europa zersplittert - Zum Salon Sophie Charlotte mit dem BBAW-Jahresthema EUROPA Ein Zukunftsort

Europa – Akademie – Wissenschaften

 

Europa zersplittert

Zum Salon Sophie Charlotte mit dem BBAW-Jahresthema EUROPA ─ Ein Zukunftsort

 

Ab ca. 18:45 Uhr wurde über Europa an mehr als 15 Orten in Vorträgen, Gesprächen und Lesungen gleichzeitig gesprochen. Hatte noch der Kunsthistoriker Horst Bredekamp als Einführung zu einem Gespräch mit Umberto Eco und Jürgen Trabant im Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zunächst einen Abriss über die Darstellung der Europa in der Kunstgeschichte seit der Renaissance geboten, so eröffnete im Raum 228, 2. OG, fast gleichzeitig unter dem Oberthema Berlin erforscht Europa Ute Frevert ihren Salon mit EUME ─ Europa im Nahen Osten ─ der Nahe Osten in Europa. Ganz zu schweigen von der Präsentation der Turfanforschung mit den Schriftfragmenten von der Seidenstraße zwischen Europa und China in Raum 261, 2. OG.

Eingeladen wurde mit dem Salon Sophie Charlotte zu einem „der vielen Salons“. Der Salon Sophie Charlotte der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wird seit 2006 alljährlich im verwinkelten Gebäude der Akademie am Gendarmenmarkt gleich gegenüber dem Schinkelschen Schauspielhaus und heutigen Konzerthaus durchgeführt. Obschon öffentlich und bei freiem Eintritt mit Speisen und Getränken zu moderaten Preisen wird der Salon Sophie Charlotte doch zum alljährlichen Cruising der Akademikerinnen und Professorinnen aus Nah und Fern im Schein der Stehlampenschirme.

Alljährlich stellt sich die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften ein Jahresthema. Im Salon Sophie Charlotte wird es präsentiert. Verschiedene Arbeitsbereiche der Akademie wie die Turfanforschung oder ihre eigene Geschichte wie die Verstrickungen im Nationalsozialismus oder die Geschichte des Harnack-Hauses als „Klub der Nobelpreisträger“ der 20er Jahre in Dahlem werden dann unter dem Jahresthema in Ausstellungen, Lesungen etc. vorgestellt. Das muntere Summen und Brummen zum Jahresthema stand 2012 unter dem Thema Artefakte. Wissen ist Kunst ─ Kunst ist Wissen, 2013 Die Wissenschaft und die Liebe sowie nun also Zukunftsort: EUROPA oder eben auch EUROPA ─ ein Zukunftsort.

Die Vielfalt der Salons im Salon Sophie Charlotte generiert auch eine gewisse Fragmentarität und Flüchtigkeit. Die Besucherinnen ─ immer generisches Femininum ─ und der Berichterstatter schleichen sich am Leibniz-Saal während des Vortrags von Horst Bredekamp vorbei zum abgeteilten „Leibniz-Casino“ mit Blick auf den Gendarmenmarkt, wo Häppchen bereitliegen, Wein ausgeschenkt wird und der Vortrag auf einer Leinwand entweder am Stehtisch oder im Sofa unterm Stehlampenschirm zu verfolgen ist. Doch dann vermag der Vortrag auch zu verfangen und man bekommt mit, dass das Bild nach der antiken Mythologie der Europa variiert und schwankt bis zu einer Budapester Skulptur, in der sich das Verhältnis des Opfers verkehrt. Europa packt den Stier bei den Hörnern.

(Bild auf Bitten der BBAW wg. Urheberrechtsfragen gelöscht.)

Europa, so kann man Horst Bredekamps Vortrag aus dem Exzellenzcluster Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor verstehen, wird nicht nur vom Stier geraubt und auf seinem Rücken transportiert, vielmehr transportiert sie auch unterschiedliche Wissensformen in der Kunst- und Bildgeschichte. So wird in einer Renaissance-Illustration Europa vor allem als eine Abschieds- und Verlustszene gezeichnet. Im Vordergrund betritt „Iupiter in forma tauri“ mit „europa“ auf dem Rücken „CRETA INSULA“ zwischen Europa und Asien gelegen, während am heimischen Strand von Sidon, heute im Süden des Libanon, die ebenfalls nackten Gefährtinnen der Europa ihre Arme in den Himmel recken. Europa wird so eine vom eurasischen Kontinent geraubte, könnte man sagen. Unter Verlust und durch Abgrenzung des orientalen Mutter- wie Hinterlandes bildet sich spätestens seit der Renaissance in der griechischen Mythologie eine „Identität Europas“ heraus, ließe sich sagen.

(Bild auf Bitten der BBAW wg. Urheberrechtsfragen gelöscht.)

Es gibt nicht das eine Bild von Europa, wird man an Bredekamp anknüpfend formulieren müssen, das nur stilistisch variiert, sondern ein ikonographisch gleitendes mit zahlreichen Bruchstellen und Transformationen. Wenn das Szenarium der Europa vor allem als eines des Raubes, der geschlechtlichen Inbesitznahme und der gewalttätigen Zeugung eines Geschlechts ist, dann ist es im griechischen Horizont der Mythologie, die in der Renaissance wiederkehrt, vor allem eines der Gewalt und Markierung. Europa wird markiert(!) von Jupiter. Sie wird zum Zeichen, Wissensformat und Territorium. Und zwar geschieht dies bildtechnisch, als sich unter anderem mit den Niederlanden im 15. Jahrhundert andere Mächte als die des Mittelmeers und der Levante herauszubilden beginnen.

Begleitet von bzw. in eine Konstellation mit dem Szenarium des Raubes, der Entführung und der Markierung gesetzt wird „Mercurius“ mit seinem Merkurstab, Flügeln und geflügelten Füßen. Der römische Gott der Waren, des Handels und der Diebe, Merkur, begleitet den Raub der Europa. Und wie stark schimmert in diesem verhältnismäßig kleinen Flügelwesen ein Amor hindurch? Wenn durch die Lettern die Konstellation von „EUROPA“, „IUPITER IN FORMA TAURI“, „MERCURIUS“ und „CRETA INSULA“ nicht besonders stark markiert und hervorgehoben worden wäre, hätte man wohl das Flügelwesen für einen Amor halten können. Der Schrift-Bild-Modus im Szenarium der Europa, der an mittelalterliche und vor allem theologische Kombinationen von Schrift und Bild erinnert wie beispielsweise in Marcillats AVE EVA, wird hier für die Aufdeckung anderen, durchaus theologischen Wissens eingesetzt.

Wird Europa wirklich als Opfer in der Renaissance aufgefasst, wie Bredekamp mehr oder weniger vorschlägt, um sie dann mit der Bildgeschichte und ihrem Wissen in eine Täterin zu verkehren, wenn sie u. a. bei Lovis Corinth Jupiter, den Stier, mehr oder weniger zum Gespielen und Opfer ihrer Lust macht? Was weiß Lovis Corinth von Europa? Was wünscht er sich von ihr? Und welche Rolle spielt der Wunsch nach Unterwerfung in der Logik des Opfers? Was beginnt sich bei Lovis Corinth in den Aquarellen von Europa zu spiegeln jenseits einer impressionistischen oder expressionistischen Epochenordnung? Um die Jahrhundertwende hatte Corinth eine „Malschule für Weiber“ gegründet, aus der sozusagen seine spätere Frau als Model und Malerin hervorgehen wird.

Scheinbar, und das liegt natürlich auch an der Flüchtigkeit des Salons, beschäftigt die Opferfrage heute Europa sehr, obwohl und weil Bredekamp diese genau am Schluss seines Vortrages umkehren will. Dabei gerät ein wenig aus dem Horizont, dass das Szenarium des Opfers nicht nur eines des Verlustes, sondern vor allem eines der Markierung, der Schaffung eines Signifikanten ist. Und wie verhält es sich dann mit dem Wissen der Bilder? Wenn aktuell am Szenarium der Europa allererst die Opferfrage mit Vehemenz an prominenter Lokalität gestellt wird, dann hat die problematische Umkehrung des Opfers offenbar viel mit aktuellen Angstfigurationen zu tun.

Es soll hier gar nicht an die auch mit Häme verwürzte Kritik und Diskussion um die Fälschung eines Galileo-Mondes angeknüpft werden, die in der ZEIT am 28. Dezember 2013 eröffnet wurde. Die Kritik kommt eher aus der falschen Ecke einer allzu traditionellen Kunststil- und Epochengeschichte des schönen Bildes und der Meisterwerke. Dass Bilder auch mit Wissen verknüpft sind und diesem entspringen, darf unbestritten bleiben. Das Problem liegt allerdings in einer Wissenschaft der enthüllenden Zeichen, also der Signifikanten. Die gefälschte Mond-Zeichnung wird 2007 an einer Leerstelle zum sichtbaren Zeichen des Bild-Wissens bei Horst Bredekamp.

Ganz und gar nicht zufällig entspringt das Wissen vom Mond einer Anordnung von Hand, Bild und Zeichnung als Zeichen. Denn es war nicht zuletzt der Züricher Kulturwissenschaftler Achatz von Müller[1], der sozusagen die Signifikanz des Bredekampschen Mondes von Galileis Hand 2007 im Ressort Physik (!) der ZEIT feierte:

So gelingt es Bredekamp auf geradezu atemberaubende Weise, seine Sicht auf die erkenntnisweisende Funktion des »Bildes« in der Gestalt der Zeichnung zu verdeutlichen und zu belegen. Er schließt damit, wie er selbst der Untersuchung voranstellt, entsprechende Versuche anhand zeichnerischer Leistungen im Kontext der politischen Theorie des Thomas Hobbes und der Erkenntnistheorie von Wilhelm Leibniz ab. Dass er von Galilei jedoch wiederum zurück auf dessen Lebensfreund Lodovico Cigoli zu schließen vermag, transzendiert noch einmal die wissenschaftliche Apotheose der Zeichnung. Cigoli nämlich schmückte im Erscheinungsjahr des Sidereus die Kapelle Papst Pauls V. in Santa Maria Maggiore in Rom mit einem Kuppelfresko, das die »Himmelskönigin«, auf einer Mondsichel stehend, zeigt. Es ist das Zitat einer der Phasenzeichnungen Galileis aus dem New Yorker Sidereus. (DIE ZEIT, 28. Juni 2007  13:31 Uhr)               

Und dann entging dem Berichterstatter, ganz dem Modus der vielen Salons mit einem Glas Rotwein in der Hand folgend, womöglich das Gespräch mit Umberto Eco. Jedenfalls saß dann irgendwann später ─ es muss nach dem Besuch der Turfanforschung auf der Seidenstraße gewesen sein ─ Emine Sevgi Özdamar unter dem Stehlampenschirm im Leibniz-Saal. Wenn es viele Salons gibt, dann entgeht einem ja immer auch ein anderer Salon. Vielfalt ist natürlich schön und politisch korrekt, auch wissenschaftspolitisch, aber blöderweise muss man sich dann für das Eine oder Andere entscheiden oder es bleibt alles Fragment. Das ist dann auch ein bisschen wenig, liegt aber möglicherweise an der Wissenschaft und Forschung selbst.

Fragment ist ein gutes Stichwort. Denn die Turfanforschung besteht, soweit der Berichterstatter es erklärt und auf dem Büroschreibtisch zu sehen bekam, überhaupt nur aus größeren und kleineren Fragmenten von meist kanonischen buddhistischen Texten in mehreren Schriftsprachen. Kurz die Turfanforschung umfasst 40.000 Fragmente, von denen 30.000 digitalisiert worden sind.  

Und was die Turfanforschung nach einer Anekdote noch ausmacht, ist der ursprüngliche Zufall durch den die Turfanforschung entstanden sein soll. Es soll nämlich so gewesen, dass … (Name entfallen) irgendwann um die vorletzte Jahrhundertwende, die Ungenauigkeit liegt jetzt am Salon, auf der Seidenstraße im ostturkistanischen Turfan vorbeikam, von britischen Ausgrabungen in Dunhuang hörte und dann eine Münze geworfen habe, ob er weiter nach Dunhuang reisen, was damals noch ohne SUV beschwerlich war, oder in Turfan zu graben beginnen solle. Der Münzwurf entschied Turfan. Und – abgekürzt – so kam die größte und vielfältigste Schriftensammlung von der Seidenstraße nach Berlin und Göttingen. Die freundliche, wissenschaftliche Mitarbeiterin, es muss Frau Rabuske gewesen sein, drückte mir dann noch eine Ausgabe der Turfanforschung von 2007 in Englisch in die Hand. Und weiter mit dem Rotweinglas in der Hand, das ich seitlich auf einem Schrank abgestellt hatte, um ja nicht unwiederbringliche Fragmente zu gefährden.

Nein, die Turfan-Studies gehören natürlich wirklich zu den wichtigen internationalen Forschungsvorhaben der Akademie, die in vielfältigen Bereichen stattfindet. Sie sind ein europäisches Projekt, werden von der EU gefördert und gehören nun zum International Dunhuang Project ─ Cultural Routes of Eurasia (IDP─ CREA). Die Turfan-Studies sind gut vernetzt und erinnern an Sprach- und Übersetzungsstrategien an den „Kulturwege(n) Eurasiens“. Die Turfanforschung findet seit 1992 durch ein Depositarvertrag mit der Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz unter dem Dach der BBAW statt und verfolgt die Digitalisierung, Übersetzung und wissenschaftliche Auswertung der Fragmente. Beispielsweise kann man dann über das Digitale Turfan-Archiv Soghdische Texte in Brāhmī-Schrift oder Christlich-soghdische Texte in nestorianischer Schrift ansteuern.    

Die Turfanforschung ist ein international von Göttingen bis zur Duhuang-Akademie im nord-west-chinesischen Dunhuang und nach Kyoto weit verzweigtes langfristiges Wissenschaftsnetz. Wie die MEGA, die Marx-Engels-Gesamtausgabe, als Forschungsvorhaben sind diese meistens Langzeitprojekte. Die MEGA spielte für den Salon Sophie Charlotte 2014 unter dem Jahresthema EUROPA – Ein Zukunftsort nur einekleine Rolle, was doch eigentlich falsch oder wenigstens bedenkenswert ist. Und vielleicht liegt es gerade am Erfolg des Forschungsvorhabens wie es letztes Jahr mit dem Abschluss der „Kapital-Abteilung“ in der Friedrich-Ebert-Stiftung vorgestellt wurde, dass die MEGA nun zum Zukunftsort Europa nur als „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ mit Jürgen Herres in Konferenzraum 1 zu Gehör kommen sollte. Denn Das Kapital von Karl Marx war durchaus ein europäisches Projekt, das sich mit der MEGA als höchst fragmentarisch erwiesen hat.

Stattdessen glänzte im Einstein-Saal das Gespräch der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy mit Pierre Rosenberg, ehemaliger Direktor des Louvre in Paris, und Klaus-Peter Schuster, ehemaliger Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin mit der befehlsförmigen Behauptung „Die Alten Meister sind in uns! ─ Das Museum als Erbe und Herausforderung“. Dem Gespräch der alten Meister hätte es sicher nicht geschadet, beispielsweise Stefan Willer vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Fragen des kulturellen Erbes dazu zu bitten. So allerdings blieben die Kunsthistorikerinnen (generisches Femininum!) und ehemaligen Museumsdirektoren mit dem Glanz der führenden Museen Europas unter sich und im Schein der Stehlampenschirme.

Gemütlichkeit – Stehlampe - und Glanz der großen, der klangvollen Namen spielen im Salon Sophie Charlotte keine geringe Rolle. Je klangvoll populärerer die Namen, desto größer der Saal. Das hat mit Wissen und dem Wunsch nach Wissen, dem Begehren zu wissen, zu tun. Und wenn man nicht gerade Egon Bahr (91) heißt – „Die Öffentlichkeit ist durch eine Fülle von Unsicherheiten geprägt und denkt unwillkürlich, die Rettung könne von der Erfahrung kommen.“[2] (Konjunktiv beachten!) ─, sind viele alte Meister vielleicht auch ganz glücklich für das Podium, das ihnen bereitet wird. „Die Alten Meister sind in uns!“, bestätigt die Alten Meister mit Ausrufezeichen und verpasst dann doch die aktuellen Diskussionen um das Museum und die Digitalisierung.   

Überhaupt ist das Gebäude der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften natürlich eines der Treppenhäuser und langen Gänge, die für den Salon mit farbigen Scheinwerfern inszeniert werden. Zwischen Leibniz-Saal (1. OG), Taubenschlag (5. OG) und Wissenschaftsforum (EG) schlendern die Gäste hin- und her.  Eile wäre der falsche Modus. Trifft man doch im Schlendern diese und jene Kollegin oder Kollegen. In der Rotunde (2. OG) singt der Akademiechor um 19:30, 20:30 und 21:30 für jeweils 10 Minuten über 5 Stockwerke hinauf und hinunter internationale Chormusik und am Paternoster (1. OG) fragen Studierende der Universität der Künste um 19:00, 20:00 und 22:00 Uhr zehnminutenlang in einer Performance „Was zum Kuckuck ist eigentlich dieses Europa?“. Und natürlich erinnert die Frage den Berichterstatter dann an Das Winzige und Europa, wie es Gayatri Spivak angesprochen hatte. Wer nur die Aufzüge nutzt, versäumt überraschende Einblicke. 

Es mag durchaus sein, dass das Format Salon zwischen Intimität und Öffentlichkeit auch sehr strukturiert genutzt werden kann. Zu bestimmten Zeiten werden bestimmte Veranstaltungen besucht und von Anfang bis zum Schluss verfolgt. Der Berichterstatter hat beide Aspekte des Formats ausprobiert. Im kleinen Raum 228, 2. OG, Fenster hinaus zum Gendarmenmarkt, kam er gerade rechtzeitig, als das Gespräch von Ute Frevert mit Erika Fischer-Lichte endete und für einen Moment die Plätze für „Paris ─ Berlin ─ Sokyrynci: Ebenen des Nachdenkens über Europa“ frei waren. Es wurden zwei Forschungsprojekte aus dem Centre Marc Bloch vorgestellt.

Das sozialwissenschaftliche Centre Marc Bloch in der Friedrichstraße 191 gehört sozusagen zur Humboldt-Universität und wird vom französischen CNRS, Centre National de la Recherche Scientifique, und dem Pariser Außenministerium sowie dem Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert. Die Gastgeberin des Salons, Ute Frevert, stellte den Direktor des Centre, Patrice Veit, kurz vor, um ihm und seinen Mitarbeiterinnen Béatrice von Hirschhausen und Daniel Schönpflug dann den Raum für die Vorstellung von zwei Projekten zu geben. Daniel Schönpflug stellte das binationale Forschungsvorhaben „Saisir l’Europe ─ Europa als Herausforderung“ vor und verwies darauf, dass das französische Verb saisir schwierig und nur mehrdeutig mit be- und ergreifen zu übersetzen sei.

 

Der Forschungsverbund des Projektes „Saisir l’Europe“ spricht die Krise als Chance an, während allenthalben die Krise als Bedrohung des existierenden Europa wahrgenommen wird. Im Projekt „Saisir l’Europe“ geht es „vor dem Hintergrund anhaltender Krisen“ darum, „Europa neu und anders zu denken“. Es ist in den Sozial- und Geisteswissenschaften angesiedelt und beschäftigt sich damit, Europa anders als einen normativen und homogenen Raum zu denken. Dazu gehört vor allem auch ein ambitionierter Bereich, den man Konfliktforschung nennen könnte. Wie entstehen Konflikte, wie lassen sie sich jenseits einer kruden Dichotomie denken und was bedeutet das für ein Europa der Heterogenität?

(Bild vom Vortrag auf Bitten der BBAW wg. Urheberrechtsfragen gelöscht.)

Nicht weniger anregend wurde das Projekt „Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa“ von Béatrice von Hirschhausen vorgestellt. Geht es doch mit den Phantomgrenzen um solche, die es eigentlich gar nicht mehr gibt. Aus rein didaktischen Gründen zeigte die Leiterin des Projekts verschiedene Karten und Ansichten von Berlin, die vor allem im Wahlverhalten, im Straßenbahnnetz oder bei einer Luftaufnahme bei Nacht Berlin mit unterschiedlicher Straßenbeleuchtung immer noch als eine durch die Mauer geteilte Stadt sichtbar machen. Dass es eine derartige Phantomgrenze in Berlin gab, sie nach wie vor gibt und sie selbst durch erhebliche demographische Verschiebungen beispielsweise in Prenzlauer Berg oder Mitte nicht verschwunden ist demnächst im Jahr 25 nach der Vereinigung, leuchtet zwar selbst dem Berichterstatter ein. Trotzdem bleiben sie doch einigermaßen rätselhaft.

Wenn es also schon und noch eine Phantomgrenze in Berlin gibt, das doch eine gewisse Mobilität und Migration kennt, dann ist es nur allzu verständlich, dass sich derartige in gewisser Weise patho-logische Grenzen in Ostmitteleuropa halten müssen. Sabine von Löwis stellte diese in ihrem Referat in Sokyrynci in der Ukraine vor. Das Fehlen der Grenze wird mehr oder weniger mühsam in Sprache und Kultur aufrechterhalten, um Identitätskonzepte als Legitimation des Handels zu retten. Überraschend ist an derartigen geradezu mikrologischen Forschungen weniger, dass es Phantomgrenzen gibt, als vielmehr wie hartnäckig sie beibehalten werden und dadurch beispielsweise auch europäische Prozesse beileibe nicht nur im ländlich-agrarischen Raum bremsen.

Angereichert mit den unterschiedlichen Referaten und Aspekten stellt sich bei aller Flüchtigkeit und Zersplitterung dann doch ein Nachdenken über Europa ein. Europa sind nicht nur Brüssel, die Europäische Union und der EURO, was doch einigermaßen zentralistische Vorstellungen sind. Vielmehr wird Europa zu einem zersplitterten, nur schwierig genau begrenzbaren Raum unterschiedlicher Wissensformationen. Und das unterscheidet sich dann doch sehr von starken Normierungs- und Homogenisierungsbestrebungen, wie sie politisch als Identitätsbildung durchaus unter deutscher Leitung verkauft werden. Der Wert Europas, der sich so schwer beziffern lässt, erweist sich dann doch in einer Heterogenität, ständigen Veränderungen und Migration, die auch in einer globalisierten Welt nicht schwinden will.

Torsten Flüh

 

PS: Am 29. Januar 2014 um 18:30 Uhr gibt es dann noch ein Feature über den Salon Sophie Charlotte – Europa ein Zukunftsort auf der medialen Kreativplattform ALEX TV.

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[2] Egon Bahr im Interview mit Herlinde Koelbl: Das war meine Rettung. In: Zeitmagazin, Nr. 4, 16. Januar 2014, S. 46

 


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Categories: Kultur

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