Buch – Präsentation – Zwischennutzer
Palermo oder Bierbrunnen
Laden 52 präsentiert Visuelle Lektüren/Lektüren des Visuellen
Palermo, Tropicana Bar oder Mhm … lecker wie bei Muttern heißen die gastronomischen Highlights im Berlin Carré an der Karl-Liebknecht-Straße schräg gegenüber vom Alexanderplatz. Vor 1989 war hier eine auch bei Tagesbesuchern aus dem Westen beliebte HO-Kaufhalle. Wieland Speck hat sie mit versteckter Kamera in seinem Film Westler 1984 verewigt.

Auch ich erinnere mich schemenhaft an einen Besuch in diesem Wunderladen des Sozialismus, dem zum Weltfrauentag am 8. März alljährlich die beliebten Tulpen viel zu früh ausgingen. Dann kam die Wende mit den Plastikpalmen, der Palermo Pizzeria und dem nie versiegenden Bierbrunnen.

Mittlerweile hat sich am Alex viel getan und das Versprechen auf Erlebnisshopping bei Alexa führte am Eröffnungstag, dem 12. September 2007, zu Schwerverletzten. Das Berlin Carré rangiert nun unter Fernerliefen. Die Kunden sind auch weggelaufen, so dass vietnamesische Billig-Strumpf-Läden neben Birkenstock-Sandalen einziehen konnten. Plastikbeine – weiblich - gegen Korksandalen.
Die Wohlthat’sche Buchhandlung an der Ecke, über der sich die Marienkirche im Fenster spiegelt, gehört seit 2005 zur Verlagsgruppe Weltbild aus Augsburg. Mixa lässt grüßen. Hier gibt es Bücher billig. Wer bei Weltbild, also auch bei Wohlthat kauft, bezieht seine Bücher bei den 12 katholischen Diözesen, dem Verband der Diözesen Deutschlands und der Soldatenseelsorge Berlin! Ihnen gehört Weltbild. Die katholische Kirche war schon immer erfinderisch in der Mittelakquise.

Im Laden 52, bei den Zwischenmietern, und der Veranstaltungsreihe „In this case with a notion of temporality“ gab es am 18. Juni die Bücher gleich umsonst. Visuelle Lektüren wurden vorgestellt und Mängelexemplare verschenkt. Es handelt sich um ein Projekt zwischen Wissenschaft und Kunst, um feministische Kunst. Wo nichts mehr geht, kommt die Kunst und dann das Umbaukommando.
Das Zwischenmietertum in Berlin ist ein Deal zwischen Immobilienmarkt und Kunstszene für eine Zeit, auf die sich kein Geschäft einlassen würde. Ohne Kunst-Zwischenmieter wären Orte wie das Berlin Carré ärmer. Ohne Immobilienmarkt, der Zwischenmieter sucht, könnte Kunst sich keine Orte wenigstens zeitweilig erobern, die sonst nicht bezahlbar wären.

Die bereits 2009 in der Schriftenreihe querdurch erschienenen Visuellen Lektüren/Lektüren des Visuellen stammen aus der Hamburger Hochschule für bildende Kunst (HfbK) und wurden von Hanne Loreck und Katrin Mayer als Herausgeberinnen vorgestellt. Mareike Bernien und Katrin Schroedinger boten ein performatives Screening. Claudia Reiche stellte ihren Buchbeitrag Der „kleine Penis des Weibes“ Neue Klitorisdarstellungen im Verhältnis zur `Leere´ vor.

Das Buch ist (k)ein Buch, vielmehr ein Band, dem ein Symposium mit den Stipendiatinnen des Graduiertenkolleges Dekonstruktion und Gestaltung: Gender im Studienjahr 2005/2006 und einer entsprechenden Tagung im Herbst 2006 zugrunde liegt. Gestalterisch wird Dekonstruktion bereits in der Auflösung eines „festen“ Buchkörpers praktiziert: Das Cover entsteht sozusagen aus einer Grafik und einem senkrecht gestellten Titel, der schon auf Seite 3 des Buches gedruckt ist.
Bedenkt man nur für einen Moment, welche Techniken kommerzielle Verlage heute für die Covergestaltung verwenden, dann ist das V-L-Cover mit den que(e)ren Violett-Streifen nicht nur ein ungewöhnliches. Denn Dekonstruktion ist kein Verfahren der Verneinung. Vielmehr rückt es die Konstruktion von Buch und Geschlecht mit diesem Band ins wissenschaftlich-künstlerische Interesse.

Eine nicht ganz unwesentliche Invention des Buches ist das Interface von Flo Gaertner. Er hat ein Interface entwickelt, das ein eigenes graphisches Format für Sprache und Bild bietet. Denn um die Be-, wenn nicht gar Hinterfragung des Verhältnisses von Sprache und Bild geht es schon qua Titel in diesem Band. Die Herausgeberinnen schreiben zum Verhältnis von Bild, Sprache und Geschlecht:
... Schnell zeichnete sich für das neue kulturelle Leiparadigma Bild ab, dass nicht nur die Anfänge eines kritischen Nachdenkens über das Bild im Status der »Frau als Bild« (Silvia Eiblmayr) in der Film- und Kunstwissenschaft, also eine repräsentationstheoretisch-feministische Kritik, in Vergessenheit geraten sind. Vielmehr wurde mit dem Iconic Turn (Gottfried Boehm) als anti-poststrukturalistischer Entgegnung auf den Linguistic Turn (Richard Rortry) der ausgehenden 1960er Jahre Differenzdenken in eine neue, gleichsam globale Bildwissenschaft überführt – mit hegemonialen Ansprüchen. … Eine der Intertextualität vergleichbare Intervisualität oder Interikonizität ist lediglich im Entstehen begriffen, und die Metaphorologie wird, wie auch die Ikonotextualität, eher aus Sicht der Literaturwissenschaft angesteuert. (S. 12)
… Was die latente wie manifeste Einschreibung von Geschlechtsverhältnissen in das Bild betrifft, erscheint der Theoretiker des Pictorial Turn, der Literaturwissenschaftler W.J.T. Mitchell, zumindest ansatzweise als Ausnahme, impliziert er doch mit seiner Finte, Bildern probeweise ein Geschlecht und eine (Haut)Farbe zuzusprechen, auch die Möglichkeit, sie sich als handelnde Subjekte vorzustellen und damit ihre Intersubjektivität herauszufordern. (S. 13)

Von einem entsprechend kritischen Punkt aus entwickelten Mareike Bernien und Katrin Schroedinger sowie Claudia Reiche ihre Lektüren. Bernien und Schroedinger haben für ihr performatives Screening einen entsprechenden Titel gewählt:
Es handelt sich hier um eine Verwechslung. Gute Nacht.
Es ist ein Zitat. Bernien und Schroedinger lesen abwechselnd die Einstellungen eines Films. Der Film wird (nicht) gezeigt. Die Projektionsfläche bleibt weiß. Wo entstehen die Bilder? Wo entsteht der Film? Wie verhält sich die sprachliche Verfasstheit des Films zu seinen Bildern? Ist die Leere der Projektionsfläche, über die sich die Sprache legt, die Leere des Films?
Dann führen sie eine bearbeitete Sequenz aus Michelangelo Antonionis Film L'eclisse/The eclipse (1962), die sie ins Medium Sprache übersetzt hatten, vor. Es ist jene, in der durch Fotografien an der Wand Monica Vitti animiert wird, sich in eine Afrikanerin zu verwandeln. Die Fotografien der Massaii generieren ein Bild von Monica Vitti als Massaii. Die Schauspielerin wird in einer homoerotischen Szene zur Massaii.
Claudia Reiche knüpft als Medienkünstlerin und -wissenschaftlerin an die österreichische Künstlerin Christina Goestl an, die 2003 im Rahmen ihrer Vortragsperformance im Frauen.Kultur.Labor thealit Bremen eine kurze 3d-Animation namens Clitoris Design zeigte. Es geht um eine medizinisch-feministische Diskussion über die Größe der Klitoris, die 1998 von der australischen Medizinerin Helen E. O'Connell im Journal of Urology maßgeblich angestoßen wurde.
O'Connels Beschreibung der - enormen - Größe der – (un)sichtbaren – Klitoris als Organ führte zu einem medialen Prozess, der die Klitoris schließlich im Bestreben um Gleichwertigkeit zum männlichen Penis geradezu zu einem Monster-Penis anschwellen ließ. Plötzlich kursierten in populären Medien neue Bilder von der Klitoris bishin zu 3d-Animationen, die über das Modell der Ähnlichkeit jedem Monster-Cock oder Mega-Dildo alle Ehre machten. Goestl griff mit ihrer 3d-Animation und 2009 mit einer Installation diesen Prozess auf.

Clitonics-Animation: HIER
In der Internetpräsentation des Fernsehsenders arte nahm die „wahre“ Darstellung der Klitoris mit einer Klitorisgrafik aus Stephen Firmin und Variety Moszynski 2003 erschienenen Buch The Clitoris: Forbidden Pleasure, US 2003 eine Form an, die nicht nur an den männlichen Penis, sondern auch an Darstellungen von Außerirdischen in frühen Science Fiction Filmen erinnert. Reiche macht auf das textuelle Verfahren O'Connels aufmerksam, in dem sie deren Überschriften zitiert:
… „The truth about women“ oder „Female sex organ 10 times bigger than thought“ …
Und sie kommt zu dem Schluss:
Wie ein Avatar einer neuen Zeit, grammatikalisch in männlicher Form, prangt diese Klitoris eingangs der Website zu »le sexe des femmes«. (S. 200)
Die rosa-fleischlich farbene Klitoris erscheint 2004 nun unter dem Titel: LE CLITORIS, CE CHER INCONNU in einem Film von Michèle Dominici. Die liebe Unbekannte - im Französischen maskulinum: le - wird nun zum "abgebildeten" Bekannten.

Das Bild der Frau und ihres Sexes wird an das zehnmal größer als gedachte Sexualorgan der Frau gekoppelt. Reiche entwickelt nicht nur, dass die vermeintlich neue Forschungserkenntnis von O'Connel ein mehr oder weniger alter Hut ist. Vielmehr zeigt sie mit ihrer Lektüre einer entscheidenden Passage aus Sigmund Freuds Text über den Fetischismus (1927), dass man Freud ganz anders lesen müsste und dass das Folgen für die neuen Bildwelten von Frau und einer Geschlechterdifferenz hätte.
Liest frau/man Freud wie Reiche, dann hat er im Bezug auf den Fetischismus den Penis des Weibes gerade nicht als minderwertig formuliert. Vielmehr wird die Wertigkeit als solche in Frage gestellt. Reiche belegt ihre Lektüre nicht zuletzt damit, dass Freud bereits die Klitorisdarstellungen in der Medizin gekannt haben dürfte. Zu den Klitorisdarstellungen von Helen O'Connel hat sich seither wenig verändert. Die Sequenz lautet:
Schließlich darf man es aussprechen, das Normalvorbild des Fetisch ist der Penis des Mannes, wie das des minderwertigen Organs der reale kleine Penis des Weibes, die Klitoris.
Nach Reiche ist das „minderwertige Organ“ der Penis des Mannes in seiner Eigenschaft als Organ im Unterschied zum Fetisch bzw. dem Phallus, womit die sexuelle Differenz eine (un)darstellbare wäre.

Der Band von Hanne Loreck und Katrin Mayer enthält neben den vorgestellten Beiträgen weitere von Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen, die sich an der Schnittstelle von Wissenschaft zum Bild und Kunst am Bild situieren. Neben Eva Meyers Beitrag Orlando oder die Eigengesetzlichkeit des Geschlechts stehen Hanne Lorecks Metamaskerade: Autobiografie Madonna und Cindy Sherman sowie Ulrike Bergermanns MONSTRARE. Zum Ausstellen von Dis/Ability sowie viele andere anregende Artikel mehr.
Der Reiz des empfehlenswerten Bandes besteht vor allem darin, dass nicht nur wissenschaftlich über Bilder nachgedacht, sondern dass auch die künstlerische Bilderproduktion selbst ins Interesse gerückt wird. Damit eröffnet sich eine Möglichkeit, den Pictorial Turn weiter zu treiben, als es Mitchell bisher gelungen ist.
Torsten Flüh
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