Silvesterkonzert - Zirkus – Clown
Silvester entschleunigt
Silvesterkonzert des Deutschen Symphonie-Orchesters im Tempodrom
Das Silvesterkonzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin mit Artisten des Circus Roncalli im Tempodrom ist jedes Jahr wieder ein Fest für die Ohren, Augen und Lachmuskeln. Natürlich gibt es die unterschiedlichsten Partys in Berlin. Es wird gefeiert, was das Zeug hält. Doch bereits mehrfach habe ich in den letzten Jahren das Silvesterkonzert des DSO im Tempodrom besucht. Ein Highlight.

Das DSO setzt einen Kontrapunkt zu den Berliner Philharmonikern. Insbesondere mit dem nahezu konkurrenzlosen Silvesterkonzert der Philharmoniker und nun auch noch der Staatskapelle Dresden. Bevor man sich in diesem Jahr so ganz und gar nicht entscheiden konnte und mochte, ob man zur gleichen Sendezeit eher die Philharmoniker in der ARD oder die Staatskapelle im ZDF sehen und hören wollte, lockte als dritte Alternative das Silvesterkonzert des DSO unter Alan Buribayev im Tempodrom.

Das Silvesterkonzert beginnt mit dem Auftritt des Dirigenten. Und während Simon Rattle in der Philharmonie und Christian Thielemann in der Semperoper das Dirigentenpult wie immer betreten, hält das Silvesterkonzert des DSO jedes Jahr eine Überraschung bereit. Unvergesslich der Auftritt von Kent Nagano 2005. Der damalige Chefdirigent und nun Ehrendirigent des Orchesters ritt auf einem Schimmel in die Arena. Alan Buribayev spielte auf anders überraschende Weise mit.

Der Dirigent kommt durch das Zirkusportal. Die Streicher begrüßen ihn, indem sie mit dem Bogen auf das Notenpult klopfen. Applaus. Der Dirigent geht auf den ersten Geiger zu, umarmt und küsst ihn auf die Wangen. Nacheinander werden von dem jungen Dirigenten, geb. 1979 in Kasachstan, mehrere junge Zuschauerinnen am Manegenrund umarmt und geküsst. Beim Silvesterkonzert darf der Dirigent das. Dann intoniert er mit dem Orchester und einem jungen Assistenten aus dem Publikum zum quietschenden Luftballon die ersten Takte des Donauwellenwalzers, als plötzlich der gefesselte, echte Alan Buribayev die Manege betritt.

Buribayev hat Humor. Das wird bereits mit seinem Auftritt deutlich. Und das ist wohl nicht nur Show. Der falsche Dirigent, der Clown Rob Spence, wird von ihm kurzer Hand an die Triangel verwiesen. Dirigenten gelten nicht gerade als Experten für Humor. Zwar mag Christian Thielemann Operetten dirigieren, aber einen besonderen Sinn für Humor verrät sein Silvester-Operetten-Konzert nicht gerade. Buribayev wird das Konzert mit Märschen, Ouvertüren, Tänzen und Suiten von Tschaikowsky, Rimsky-Korsakow, Smetana, Bellstedt, Grieg, Glinka, Chatschaturjan, Borodin und anderen mit viel Dynamik und feinsinnigem Humor dirigieren.

Als Solist des Abends war in diesem Jahr der Trompeter Sergei Nakariakov, geb. 1977, eingeladen. Die Ouvertüren und die Solistenauftritte sind sozusagen die Ruhepunkte im Konzert- und Zirkusprogramm. Nakariakov ist ein gefeierter Trompeter und verwöhnte das Publikum mit dem 3. Satz aus dem Violinkonzert berarb. für Trompete und Orchester von Felix Mendelssohn Bartholdy und dem Air aus der Orchestersuite Nr. 3 von Johann Sebastian Bach. Das war hochkarätige. Wie Juwelen funkelten insbesondere diese beiden Stücke im Programm.

Die beiden Silvesterkonzerte des DSO um 15 Uhr und um 19 Uhr gibt es erst seit 8 Jahren. Doch sie haben Aussicht, Kult zu werden. In Kooperation mit dem Weihnachtscircusvon Roncalli im Tempodrom bieten sie eine unvergleichliche Kombination aus erstklassiger, intelligent ausgewählter Orchestermusik gespielt von einem exzellenten Orchester unter namhaften Dirigenten mit internationalen Weltklasse-Akrobaten und innovativen Clowns. Das ist eigentlich unschlagbar. Oder haben sie schon einmal eine ähnliche Kombination erlebt? Man sollte annehmen, dass sie erstens unbezahlbar und zweitens kaum zu organisieren ist. Es sind allein die besonderen Umstände in Berlin, die derartiges möglich machen.

Roncalli gastiert seit 8 Jahren mit seinem Weihnachtscircus im Tempodrom von Mitte Dezember bis zum 3. Januar. Das Silvesterkonzert ist sicherlich der Höhepunkt des alljährlichen Gastspiels. Wenn der öffentlich-rechtliche RBB nicht als Medienpartner mitmachen würde, dann wäre es wohl selbst für Roncalli nicht ganz einfach, das Tempodrom voll zu bekommen. Die Silvesterkonzerte sind ausverkauft. Das DSO ist anders als die Philharmoniker, die eine eigenständige Stiftung sind, eine GmbH, die zu 5% vom RBB, zu 40% vom Deutschlandradio, zu 35% vom Bund und zu 20% vom Land Berlin getragen wird. Das Orchester wie sein Silvesterkonzert verdanken ihre Existenz demnach den besonderen kulturpolitischen Verhältnissen in Deutschland.

Das Tempodrom ist eine Berliner Geschichte. Eigentlich dürfte es das spektakuläre Gebäude gar nicht geben. Die Geschichte des Tempodrom hat viel mit der alternativen Kultur der 80er Jahre zu tun. Alles begann mit einem Zirkuszelt am Rande der Mauer, mit einer Nachkriegsbrache, die von der U1 aussah, als gäbe es keine Zukunft für das ehemalige Gelände des Anhalter Bahnhofs. Die Krankenschwester Irene Moessinger machte 1980 eine Erbschaft und belebte die Fläche ohne Zukunft mit alternativer Kultur in einem ausrangierten Zirkuszelt. Das Tempodrom der 80er Jahre wurde geliebt und gehasst. Geliebt von der alternativen Szene aus Kreuzberg und Schöneberg. Und gehasst von den konservativen Berlinern, die in Namen wie Nina Hagen, die im Tempodrom Erfolge feierte, nur Provokation sahen.

Berlin war vielleicht immer ein Ort des Unmöglichen. Im Tempodrom wurde das Unmögliche Programm. Als das Tempodrom, das in den Tiergarten gezogen war, in der Zeit nach 1989 den neuen Bundesbauten weichen sollte, wurde ein fester Bau im alten Niemandsland geplant. Das Unmögliche spielt sich immer zwischen großartigen Träumen und totalem Scheitern ab. Denn für das Unmögliche gibt es keine Versicherungen. Es lässt sich nicht kalkulieren. Der Bau des Tempodrom wurde zu teuer, politische Intrigen taten ihr übriges und schließlich musste die Kulturmanagerin Moessinger ihr ganzes Vermögen verloren geben.

Das Tempodrom bietet bis zu 3.800 Besuchern Platz. Doch ein so großes Haus ist immer Versprechen und Fluch zugleich. Man muss es nämlich voll bekommen. Die hoch ambitionierte Architektur aus dem Hamburger Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner erinnert mit seinem Dach an ein Zirkuszelt. Doch derartige Zelte aus Beton sind eben ziemlich kostspielig, weil bautechnisch aufwendig. Während die Kathedrale in Brasilia (1970) von Oskar Niemeyer zwischen den aufstrebenden Stelen mit Glas ausgespannt ist, wird das Zeltdach im Tempodrom aus Spannbeton gebildet. Wenn es allerdings richtig bespielt wird, dann ist es unvergleichlich.

Zu den Markenzeichen von Roncalli gehören die Clowns, die in den 80er Jahren quasi neu erfunden wurden. Aktuell bestreiten vor allem Rod Spence und Baldrian alias Thomas Leuenberger den Clownspart. Leuenberger hat mit Baldrian ein poetisches Entschleunigungsprogramm entwickelt. Während im Zirkus und im Leben Schnelligkeit und Präzision fast alles sind, kommt Baldrian sozusagen im Liegestuhl in die Manege und misst erst einmal einem Zuschauer im Parkett den Puls. Clowns praktizieren den Widerstand gegen das alltägliche Funktionieren. Sie haben rote Nasen oder grüne Augenbrauen.

Während in den Medien aggressives Schnellsprech angesagt ist, damit das Publikum gar keine Zeit zum Nachdenken oder gar Nachfragen bekommt, spricht Baldrian so langsam, dass einem das Zuhören ohne nachfragen schwer fällt. Schweizer haben offenbar allein von der Sprechgeschwindigkeit alle Zeit der Welt und die Überzeugung, dass man ihnen unbedingt zuhören wird. Baldrian ist als Figur Schweizer. Leuenberger allerdings auch. Baldrian will entschleunigen. Davon wird üblicherweise viel gesprochen, aber nur Wenigen gelingt es, ihr Leben zu entschleunigen. Auf der Spielkonsole und dem iPad zählt die Beschleunigung.

Entschleunigung war ein wenig das geradezu paradoxe Motto des Silvesterkonzertes. Natürlich sind Märsche und Tänze musikalisch nicht gerade ein Genre des Entschleunigung. Sie finden doch in eher schnelleren Takten ihre Einlösung. Bei einer Suite kann das schon anders sein. Aber bei Edvard Griegs Peer Gynt-Suite Nr. 1 geht es entschieden um Beschleunigung. Dafür war dann auch Rod Spence in einem Tanz mit einem ziemlichen Widerstand leistenden Lufballon zuständig. Doch wenn man dann etwa die Ouvertüre zur Oper Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck als Auftakt zum zweiten Teil des Abends hört, dann gibt es dort schon mehr symphonische Entschleunigung. Das Air aus der Orchestersuite Nr. 3 von Bach ist schon fast Entschleunigung pur.

Baldrian vollführt mit seiner Entschleunigungsassistentin Gisela, die er als sexy ankündigt, nach sehr ruhiger Musik Luftakrobatik. Die Flugbewegungen von Gisela sind schon erstaunlich beruhigend und poetisch. Es ist eigentlich gar nicht spektakulär. Doch genau darin kommt das Poetische hervor. Das Poetische ist unspektakulär. Es entsteht im Nachhören und Nachsehen. Das Poetische im Zirkus ist der Moment der Ruhe. Während das Spektakuläre an der Grenze zum Unsichtbaren mit der Schnelligkeit operiert, lassen sich Giselas poetische Flugbewegungen so langsam mit den Augen verfolgen, dass die Sichtbarkeit fast aufgehoben wird.

Rod Spence ist als Clown ein anderer Typ. Sein Clown macht auf lächerliche, fast brutale Weise sichtbar, was in der Wahrnehmung des Publikums tief vorhanden ist. Wenn das Publikum einen jungen, kasachischen Dirigenten erwartet, dann findet dieses es vielleicht gar nicht so seltsam, dass der Dirigent die schönen, jungen Frauen im Parkett küsst. Von einem jungen Dirigenten aus Kasachstan kann man sich das vorstellen. Das ist natürlich ziemlich unverschämt. Der Clown macht diese Unverschämtheit sichtbar und führt sie mit einer gewissen Überzeichnung vor.

Gute Clowns sind mit ein wenig Glück Analytiker und Therapeuten, die gesellschaftliche Symptome aufspüren. Sie sind immer „unsere“ Unverschämtheit, die sich lächerlich überzeichnet bahnbricht. Der Clown betreibt die Überschreitung einer Grenze, in der wir uns bewegen. Wenn wir über den Clown lachen, lachen wir darüber, was wir uns niemals trauen würden. Unsere Verschämtheit hält uns davor zurück, das auszuagieren, was der Clown in der Manege macht.

Rod Spence macht das beispielsweise, wenn er Menschen aus dem Publikum in die Manege holt und sie mit Witz bloßstellt. Es kommt zu keiner wirklichen Bloßstellung, aber zum Spiel damit. Besonders begeistertes und geradezu konvulsivisches Lachen in der Arena erzeugt Spence, wenn die Personen aus dem Publikum zweideutige Gesten machen oder sich dagegen sträuben, diese nach Anweisung auszuführen. Mit anderen Worten: Der Clown kitzelt immer das Wissen um die Grenzen des Zulässigen, dessen, was uns bloßstellen würde.

Bernhard Paul als schon jetzt nach 35 Jahren geradezu legendärer Gründer, Regisseur, Zirkusdirektor und Unternehmer von Roncalli hat offenbar die Dimension des Zirkus zwischen Sensationsapparatund Gesellschaftsanalyse ganz gut verstanden. Zumindest darf man das mit dem Weihnachtscircus in diesem Jahr besonders vermuten. Pauls Zirkusunternehmen und nicht zuletzt sein Engagement beim Wintergarten waren immer so nah an den gesellschaftlichen Strömungen, dass sie stets zwischen überwältigendem Erfolg und Pleite pendelten. Der Clown Baldrian ist Gesellschaftsanalyse. Die Truppe Sokolov von Dimitry Sokolov mit seiner Schleuderbrettakrobatik ist Sensation pur. Menschen, ja eine ganze Truppe, die Dank Schleuderbrett in Schrauben und Salti durch die Luft fliegt, spielt mit dem Traum von dem Menschen Möglichen.

Selbst die besten Zirkusorchester könnten nicht den Tanz I aus der Jazz-Suite 2 von Dmitri Schostakowitsch oder Lezginka aus der Ballettmusik Gayaneh von Aram Chatschaturjam zur Schleuderbrettakrobatik so präzise aufführen wie das DSO. Umso wundervoller ist es, dass das Deutsche Symphonie-Orchester unter Alan Buribayev fast traumwandlerisch und immer auch mit Blick auf die Artisten spielt. In den besten Szenen stimmen Musik und Artistik völlig überein, was einen besonderen Zauber macht.

Während die Berliner Philharmoniker mit Dvořák, Brahms, Strauss und Strawinsky ihr Programm unter das Motto des Tanzes gestellt hatten, was sicher den Tanz auf allerhöchstem Niveau vorführte, ist doch die Kunst des Silvesterkonzertes des DSO musikalisch ganz und gar nicht zu unterschätzen. Gerade in dem besonders abwechslungsreichen Programm zeigte sich die ganze Sicherheit und Bandbreite dieses Orchesters.

Am 6. Januar wird Kent Nagano das DSO aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums des Deutschlandfunks in der Philharmonie Köln dirigieren. Am 7. Januar wird das Programm mit Werken von Franz Schubert, Alban Berg und Arnold Schönberg in der Berliner Philharmonie zu hören sein. Thomas Zehetmair, Violine, wird als Solist zu hören sein. Das Konzert mit eher selten gespielten Kompositionen wie dem Violinkonzert Dem Andenken eines Engels von Alban Berg wird sicher die herausragende Qualität des Orchesters zeigen.

Mit den besten Wünschen für 2012
Torsten Flüh
Kent Nagano
Thomas Zehetmair, Violine
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Samstag 7. Januar 2012, 20:00 Uhr
Philharmonie Berlin
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