Verspätete Ankunft der Moderne - Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin, dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Horos Meteoros von Jakob Ullmann

Moderne – Musik – Publikum 

 

Verspätete Ankunft der Moderne 

Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin, dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Horos Meteoros von Jakob Ullmann 

 

Es ist ein Blogger-Dilemma: soll man kurz und mehr oder weniger belanglos über die Musik der Moderne bloggen, während in Berlin nicht nur exzellente Konzerte und Musikereignisse sich im 24-Stunden-Takt jagen, damit sich dann die Aufmerksamkeit versendet in den Weiten des Internets? Oder soll man mehrere Ereignisse thematisch bündeln und ausführlicher bedenken? Kurz und knapp und weg? Oder länger, durchdacht und vielleicht nachhaltiger? Mehr als 2 Minuten Lesedauer sind im Twitter-Universum zu viel. Gepostet und retweetet wird im Sekundentakt. Lesedauer ist Aufmerksamkeitsinvestment oder alles rauscht sowieso vorbei. Durchdenken und durcharbeiten fallen schon lange ins Loch der Blogosphäre. Trotzdem und gerade deshalb lohnt es sich, einmal drei aktuelle Musikereignisse zu besprechen.

  

Zu einer Sternstunde des Musikfestes Berlin wurde am Samstag das Eröffnungskonzert mit Daniel Barenboim und der Staatskapelle Berlin nicht so sehr wegen dem durchaus melodisch ausgearbeiteten Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky, sondern weil der Maestro das Konzert mit einem Konventionsbruch begann. Daniel Barenboim, der große Dirigent, Pianist und Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden, wandte sich mit dem Mikrophon an das Publikum, um in Rituel in memoriam Bruno Maderna seines Freundes und Lehrers Pierre Boulez einzuführen. Am zweiten Abend des Musikfestes erwies sich Yannick Nézet-Séguin mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra als ebenso präziser wie inspirierter Dirigent mit Sinfonien von Bernd Alois Zimmermann und Anton Bruckner. Zuvor hatte der Berichterstatter gar Jakob Ullmanns faszinierende Horos Meteoros mit dem ensemble mosaik im Kulturquartier silent green gelauscht.    

 

Die aktuelle Musikszene in Berlin ist außerordentlich lebhaft. Ständig werden neue Kombinationen und crossovers ausprobiert und aufgeführt. Mikromusik des DAAD hat der Berichterstatter in diesem Jahr wegen der Hitzewelle Mitte August schlechthin ausfallen lassen. Warum macht man aktuelle Musik? Diese Frage hat zwei Ursprünge: erstens wundern sich Freunde darüber, dass befreundete Künstler aktuelle Musik und Uraufführungen spielen, obwohl die Konzerte dann nicht ausverkauft oder gar nur dünn besucht sind; zweitens kennt der Berichterstatter kaum einen spannenderen Bereich als die aktuelle Musik in Berlin, die ständig neue Anstöße gibt. Sie wird auf höchstem technischen und intellektuellen Niveau, wenn man so will Weltniveau aufgeführt.

 

Es gibt in Berlin derzeit unterschiedlichste Akteure in der aktuellen Musik vom Weltstar Daniel Barenboim bis zu PHØENIX16 um Timo Kreuser. Das Berliner Künstlerprogramm des DAAD mischt mit seinen Künstlern in Festivals wie ultraschall oder MaerzMusik mit. Ein Kenner der internationalen Musikszene sagte auf dem Empfang nach dem Eröffnungskonzert, dass es in Berlin anders als in New York oder Paris überhaupt ein ungewöhnlich großes Publikum für Klassische Moderne, Zeitgenössische oder Aktuelle Musik gebe. Es ist ja keinesfalls so, dass es die Moderne gegeben hat und jetzt könnte man weiterhin Musik nach den Regeln und Schemata der Vormoderne komponieren. Es gibt eine Geschichtlichkeit der Musik, in die jede/r Komponist/in und jede/r Interpret/in eingebettet ist. Weil Musik nicht ohne Geschichte gemacht und wahrgenommen wird, transformiert sie sich ständig.

 

Daniel Barenboim ist nicht nur ein außerordentlicher Bruckner-, Wagner- und Opern-Dirigent, vielmehr sollte er stärker als leidenschaftlicher Anstifter und Lehrer gewürdigt werden. Wem der Begriff des Lehrers zu stark ist, kann ihn in Richtung Vermittler verschieben. Mit allergrößter Selbstverständlichkeit nimmt er das Mikrophon und erklärt für das Publikum, dass Pierre Boulez seit den späten 80er Jahren Rituel nicht mehr als Orchester auf dem Podium, sondern möglichst in 8 Gruppen im Saal verteilt, aufführen lassen wollte. Wenige Konzertsäle eignen sich dafür besser als die Philharmonie von Hans Sharoun. Es geht um einen Klangraum und „Raumklang“[1] anstelle des Orchesterapparates auf dem Podium. Was passiert mit dem Klang, wenn er sich nicht mehr auf dem Podium zentralisieren lässt? Was verändert sich in der Wahrnehmung, wenn man nicht mehr die einzelnen Stimmen und Gruppen im Orchester sehen kann? – Ich werde mit Jakob Ullmanns Horos Meteoros, das diese Fragen noch radikaler verarbeitet, darauf zurückkommen.


© Kai Bienert

Engagiert führt Barenboim am Pult mit den riesigen Seiten der Partitur vor, wie immer wieder derselbe „Akkord in seiner Komplexität“ von den 8 Gruppen variiert wird. Es geht, wie Barenboim – nach Erinnerung – erklärt, darum dass der Akkord am Ende genauso klingt, wie beim ersten Mal, „wenn es gelingt“, wie er hinzufügte. Was Barenboim vorführte, unterscheidet sich noch einmal von dem Essay, Musikalische Rituale: Inhalt und Form, den Martin Wilkening für das Programmheft geschrieben hat. Barenboim erklärt mit Beispielen vorab, wie er praktisch mit dem Orchester das Stück eingeübt hat. Statt Geschichte und Theorie kann der Dirigent ganz praktisch das Musikmachen erklären und vorführen.


© Kai Bienert

Gleichzeitig muss man sagen, dass die Funktion des Dirigenten in Rituel denkbar stark zurückgenommen wird. Er gibt für die jeweilige Kombination der 8 Gruppen nur den Einsatz, damit sich dann der Akkord in den Gruppen aus Schlagzeug und Bläsern sowie Streichern in Gruppe 6 ausdehnen kann. Er gibt den Einsatz zu einer jeweils neuen Variation mit dem erhobenen rechten Daumen, als drücke er einen Knopf oder Schalter, woraufhin der Akkord im Gong einsetzt und wiederholt wird. Boulez selbst hat darin die Einzigartigkeit der Musik von Bruno Maderna, seinem Lehrer, gesehen und formuliert. 

Die besten Aspekte, die großartigsten Momente seiner eigenen Musik, entspringen diesem unmittelbaren, irrationalen Gespür für Musik und aus diesem Grund sind seine erfolgreichsten Stücke diejenigen, die den Musikern die größte Eigeninitiative zugestehen. Am Schluss seines letzten Werks, eines Oboenkonzerts, schrieb er: „Ich hoffe, dass ich genügend Material für den Solisten, den Dirigenten und das Orchester bereitgestellt habe, um sie mit dem, was ich geschrieben habe, zurechtkommen und sich daran erfreuen zu lassen.“[2]

  

Die Aufführungspraxis wird höchst irritierend, weil der große Dirigent Daniel Barenboim quasi nicht dirigiert, wie es die Konvention verlangt. Vielmehr knüpft er an Boulez‘ „Porträtskizze“ an. All jene Gesten und Mienen entfallen, die das Publikum häufig als Emotionen wahrnimmt, um danach den Dirigenten zu beurteilen, bis zu dem Punkt, dass Julia Spinola aus der Saisoneröffnung der Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko eine „vorgezogene Hochzeitsnacht“ à la Hedwig Courts-Mahler macht.[3] Das ist auch Geschichte. Aber auf welchem Niveau?! Gerade dadurch, dass die Gruppen im Raum verteilt sind, müssen sich die Hörer*innen auf das Hören und nicht das Sehen verlassen. Niemand wird alle Gruppen zugleich sehen können, um – und man bedenke den Effekt – die Musik im Klang zu verstehen. Das Publikum muss sich auf das Hören der Musik verlassen und fühlt sich besonders herausgefordert.

 

Nun ist es in der Philharmonie so, dass keineswegs nur Berliner oder deutschsprachige Menschen das Publikum bilden. Die Philharmonie ist international und mehrsprachig. Das wird gewiss auch der Fall in der Staatsoper sein. Doch mit einer gewissen Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit sprach Daniel Barenboim deutsch, was auch sehr charmant war. Immerhin konnte ich meiner irritierten, wahrscheinlich spanischen Sitznachbarin auf Englisch vermitteln, dass Barenboim ein Schüler und Freund und also ein hervorragender Kenner dessen Komposition und einer angemessenen Aufführungspraxis sei, um ihr im Programmheft nach der Pause das Foto des jungen, faszinierten Daniel Barenboim mit Pierre Boulez, der offenbar im Tonstudio eine Partitur erklärt, zu zeigen. Vielleicht gibt es einen gespaltenen Dirigenten Barenboim, den Virtuosen und den Vermittler. Als Freund und Schüler hat er den Pierre Boulez Saal initiiert und für ein anderes Hören geöffnet. So heißt denn auch die „Leitidee“ für „sein“ Pierre Boulez Saal-Programm „Musik für das denkende Ohr“.

 

Worum es mit der „Musik für das denkende Ohr“ und Musik überhaupt geht, führte Daniel Barenboim, der ebenso geschickt Placido Domingo und Anna Netrebko in die Staatsoper für Verdis Macbeth zu holen weiß, mit Rituel vor. Natürlich muss ein Dirigent nicht dirigieren, wenn eine Gruppe einen Akkord hält bzw. mit „Eigeninitiative“ durchspielt. Barenboim blätterte dann gleich einige Seiten weiter in der Partitur, was während eines Konzertes witzig wirken kann. Doch zugleich regt es dazu an, über die Funktion des Dirigenten nachzudenken. Im Unterschied zum Esssay von Martin Wilkening, der durchaus musikhistorisch ausgerichtet ist – „Maderna war Venezianer, und man kann die gewissermaßen mehrchörige Anlage von Rituel mit seinen acht Klanggruppen nebenbei als eine Hommage an die Musikgeschichte dieser Stadt verstehen, die untrennbar mit der Entwicklung der Mehrchörigkeit verbunden ist.“[4] –, gab Daniel Barenboim einen unschätzbaren Einblick in das Musikmachen mit Rituel in memoriam Bruno Maderna.


© Kai Bienert

Am 9. Juni 2017 hatte Sir Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern Igor Strawinskys Le Sacre du printemps in einer schonungslosen Radikalität aufgeführt, was durchaus Unmut beim Publikum hervorrief. Das eröffnende Fagottsolo spielte weniger eine Melodie, als dass es dem ersten Teil, des 3. Aktes von Rattles Tristan mit den Berliner Philharmonikern 2016 glich.[5] Das Melodische bietet einen Halt nicht zuletzt in Le Sacre du printemps. Schon beim Fagottsolo, denkt der Berichterstatter, ah, beim Barenboim gibt es Melodie. Wahrscheinlich gibt es, streng gesehen, nur zwei Interpretationsmöglichkeiten für Le Sacre. Entweder man lässt die Melodie und das Melodische als Versprechen oder Hoffnung im Stück zu oder man lässt sie weg. Es dreht sich viel um das Melodische als das Liedhafte, während Strawinsky doch vor allem auf das Rhythmische, Archaische und vielleicht gar Grausame im Frühlingsopfer setzte. Auf faszinierende Weise ließ sich so mit dem Eröffnungskonzert, fast möchte man sagen, der doppelte oder auch gespaltene Barenboim erleben.    


© Kai Bienert

An dieser Stelle wird nun eine kurze Besprechung von Horos Meteoros von Jakob Ullmann in der Kuppelhalle des ehemaligen Krematoriums Wedding und Kulturquartiers silent green eingeschoben. In der achteckigen Kuppelhalle sind die Stuhlreihen auf den schwarzen Vorhang ausgerichtet. In der Mitte des Raumes ein Mikrophon. Die Seiten sind mit den schwarzen Vorhängen aus der Zeit des Raumes als Trauerhalle verhängt. Es ist nichts zu sehen, außer die teilweise leider leeren Stuhlreihen. Kein Orchester wird auftreten. Keine Musiker werden zum Musizieren Platz nehmen. Im Publikum der Komponist Jakob Ullmann. Das Konzert mit dem kryptischen Titel wird exakt 55 Minuten und 3 Sekunden dauern. Tatsächlich wird es in Ullmanns Stück um das Hören, um das Schauen, auch das Wegschauen und die „Reaktion des Publikums“ gehen. Denn er knüpft an Ἱκέτιδες/Hiketides, Die Schutzflehenden, von Euripides an. 

Horos Meteoros ist Jakob Ullmanns radikale Oper …, in der er dem Publikum jegliches szenische Geschehen, jegliche Entwicklung und sogar das Schauen verweigert, vielmehr die Situation herumdreht und die Reaktion und Situation des Publikums zum eigentlichen Ursprung des Dramas erklärt.[6]

  

Das Publikum und jede/r Einzelne/r wird zum Ursprung und Mitwirkenden in Horos Meteoros. Das Stück wurde am 19. Juni 2017 in Athen im Rahmen der Documenta14 aufgeführt. Am 28. August führten es PHØNIX16 und das ensemble mosaik nun in Berlin auf. Fast nie liest der Berichterstatter, das Programmheft vorher. Dann könnte er ja auch kaum noch reagieren. An der Grenze des Hörbaren werden in unterschiedlichen Intensitäten Atem- und/oder Windgeräusche aus der Stille vernehmbar. Es lässt sich nicht sagen, von wo sie kommen oder mit welchem Instrument, gar der Stimme sie gemacht werden. Der Ursprung des Hörbaren lässt sich nicht verifizieren, wobei sich strukturell an Pierre Boulez‘ Rituel erinnern lässt, dass der Berichterstatter erst nachträglich gehört haben wird. Wir wissen nicht, ob für Jakob Ullmann beim Komponieren Boulez und Rituel eine Rolle gespielt haben. Es lassen sich Verknüpfungen herstellen. Obwohl das Bildmaterial als Visuelles auf NIGHT OUT @ BERLIN konzeptuell in unterschiedlichen Weisen eingesetzt wird, stellt Horos Meteoros den Blogger auch vor die Schwierigkeit, wie er schreiben soll, um nicht nur eine „Blogwurst“[7] also einen heruntergeschriebenen und dadurch erschwert zu lesenden Text zu entfalten. Welche „Reaktion“ des Publikums gab es denn? – Nun, erzählt werden kann, dass der Berichterstatter sich zu orientieren versuchte und seine Konzentration aufwendete, um das kaum Hörbare erst einmal ohne die Rahmung durch Euripides‘ Hiketides zu hören. Es gab aber auch derart eine „Reaktion“ im Publikum, dass ein jüngerer Mann leicht gelangweilt auf seinem Smartphone herumwischte. Während sich eine Melodie genießen lässt und sie vielleicht durch die Wiederholung eng mit dem Genuss verknüpft werden kann, unterläuft Ullmanns Komposition ohne Melodie auch das Genießen. Wenn man einen Kopfhörer aufsetzt, um ein Konzert zu hören, dann sieht man das Musikmachen auch nicht. Aber in einem Konzert kommt doch, obwohl es um das Hören geht, immer irgendwie das Sehen als Vermittlungsebene und das Schauen der Musik hinzu. „Horos Meteoros ist verbannte Musik und verbannte Musiker, ist Musik ohne Musiker und Musiker ohne Musik. Oper ohne Drama und Drama ohne Oper. Horos Meteoros ist eingesperrte Musik mit eingesperrtem Publikum“, heißt es salopp auf dem Programmzettel. Die Türen gehen zu und die schweren samtenen, schwarzen Vorhänge werden zugezogen. Es wird gelauscht, wann und ob die Musik einsetzt und endet. Vielleicht macht das Lauschen allererst die Musik. Wer nicht lauschen kann oder will, hört in der „verbannte(n) Musik“ gar keine. Bei 55 Minuten und 3 Sekunden kann man die Musik langsam angehen lassen. Jakob Ullmann lässt in Horos Meteoros das Hören und Wissen von der Musik komplett in der Schwebe. Da gibt es Bezüge zu Pierre Boulez und die radikale Frage danach, was Musik ist. Womit sie einsetzt und was das Ohne mit dem Hörer-Ich macht. Was wird man noch alles über Horos Meteoros erzählen können, wenn es insbesondere ein Ohne aufführt? – Ich breche hier ab. – Doch die Tonaufnahme, der die Wiederaufnahme „aus Mitteln des Wiederaufnahmefonds“ galt, wird trotz aller digitaler Raffinesse (k)ein Konzert sein und schon gar nicht wie in der Kuppelhalle, ohne die es nicht möglich geworden wäre.

 

Yannick Nézet-Séguin sorgte mit der Aufführung von Bernd Alois Zimmermanns Sinfonie in einem Satz in der Fassung mit Orgel von 1951 durch das Rotterdam Philharmonic Orchestra für einigen Furor. Anlässlich des 100. Geburtstages setzt das Musikfest einen Schwerpunkt mit Stücken von Bernd Alois Zimmermann, die kaum im Repertoire gespielt werden. Die Sinfonie in einem Satz ist schon vom Titel her, eine das Regelwerk einer Sinfonie in Frage stellende. Denn eine Sinfonie hat wie die Symphonie Nr. 4 in Es-Dur von Anton Bruckner, die das Orchester als zweiten Teil des Konzertes spielte, üblicherweise 4 Sätze. Aus der Sinfonie in einem Satz klingt bei Zimmermann die Gewalt der Zerstörung des 2. Weltkrieges. Sie beginnt wie eine Detonation im Orchester. Später in seiner Oper Soldaten wird Zimmermann explizit auf die Detonation der Atombombe Bezug genommen haben. Zimmermann, der sich in seiner musikalischen Eigensinnigkeit keiner Schule zurechnen lässt, macht mit seiner Sinfonie in einem Satz auch ein Ende der Sinfonie als Form. Denn sie blieb seine einzige. Während die Großform der Sinfonie seit der Klassik sozusagen die Königsdisziplin des Komponierens in seiner Komplexität ausmachte, beginnt und endet sie bei ihm mit einem gewaltigen einzigen Satz.

 

Furtwängler und Karajan beispielsweise werden mit der Sinfonie in einem Satz wenig angefangen haben können. Denn es war ja auch keine Sinfonie. Haben die Berliner Philharmoniker sie einstudiert und aufgeführt? Am 13. Februar 2009 hat Sir Simon Rattle sie in einem Schumann-Programm(!) in der 2. Fassung von 1953 mit den Philharmonikern aufgeführt.  Uraufgeführt wurde die erste Fassung am 3. März 1952 in Köln durch das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester unter Leitung von Hans Rosbaud. Zu den Eigenarten von Bernd Alois Zimmermann gehören ziemlich kryptische, durchaus mit einer positiven Geste versehene Beschreibungen seiner Werke. So auch 1952 zur Sinfonie in einem Satz als könnten noch weitere ähnliche Werke folgen. Die Katastrophe des 2. Weltkrieges und ihre Folgen werden auf für 1952 vielleicht typische Weise nicht angesprochen. Das Trauma ist noch frisch. 

Die Sinfonie in einem Satz ist 1951 entstanden. Es handelt sich bei diesem Werk nicht um eine Auseinanderreihung mehrerer Sätze, die ohne Pause, unter Einschaltung von verbindenden Zwischengliedern, durchgespielt werden, sondern um ein musikalisches Gefüge, welches aus einer einheitlichen Grundsubstanz, einer Grundgestalt, entwickelt wird und von dort seine Form erhält.[8]   


© Bob Bruyn

Eine Auseinanderreihung ist eine durchaus eigensinnige Auffassung der Satzform einer Sinfonie. Zimmermann verneint sie, um anstelle dessen „ein musikalisches Gefüge, welches aus einer einheitlichen Grundsubstanz, einer Grundgestalt,“ zu „entwickel(n)“. Beobachten lässt sich, dass Zimmermann um 1950 womöglich all jene überkommenen Formen wie bei den Rheinischen Kirmestänzen 1950 aufgreift, um sie umzuschreiben. Eine „einheitliche Grundsubstanz“ wird dort formuliert, wo eine Detonation im Orchesterapparat stattfindet? Und welche Rolle spielt dann das religiös so überaus stark besetzte Instrument der Orgel? In dem Klanggewitter lässt sich das Kircheninstrument der Orgel kaum vernehmen, wenn das Rotterdam Philharmonic Orchestra sie in der Philharmonie mit der geradezu legendären Schuke-Konzertorgel einsetzt. Kein Gloria, kein Triumph, kein Trost durch die Orgel. Yannick Nézet-Séguin und das Rotterdam Philharmonic Orchestra entfalten die durchaus verstörende Kraft der Sinfonie in einem Satz.

 

Einen größeren Kontrast als Anton Bruckners Symphony Nr. 4 in Es-Dur kann es kaum zur Sinfonie in einem Satz geben. Bei Bruckner ist zumindest mit Yannick Nézet-Séguin alles heil und gut. Statt oder mit „Auseinanderreihung“ funktioniert das Regelwerk der sinfonischen Musik und Sinfonie mit Themen, Seitenthemen und einem „Bild“ wie am Schnürrchen. Die „Romantische“ ist bei Bruckner und Nézet-Séguin nicht einen Moment zerrissen oder zweifelnd. Während der Dirigent Zimmermanns Sinfonie vom Blatt dirigiert hatte, führte er das Orchester nun quasi auswendig durch alle gleichwohl harmonischen Steigerungen des Stücks. Die Romantik ist bei Bruckner eher Spitzweg als Caspar David Friedrich, eher hoffnungsvolle „Morgendämmerung“ als Verlassenheit des Mönchs am Meer. 

Der Komponist fand hierfür das Bild der Morgendämmerung in einer mittelalterlichen Stadt – zeitloser erscheint seine Idee der Klangformung aus dem Nichts mit Entwicklung großer Bögen, deren innerer Zusammenhang bis zum Finale aufrechterhalten wird. Das vogelrufartige „Zizibe“-Seitenthema lässt die Natur antworten, deren Stimmen sich zu einem mächtigen Unisono-Strom vereinen.[9] 

 

Die Romantische wird 1874 komponiert, umkomponiert und 1881 von Hans Richter mit den Wiener Philharmonikern uraufgeführt. Für Romantik und Naturromantik ist es nach einer „schweren Börsenkrise von 1873“[10] und auch in der aufstrebenden Industriemetropole Wien eigentlich schon ziemlich spät. Obwohl für den Organisten und Gläubigen Bruckner an seinen Symphonie-Partituren ständig gezweifelt haben soll, lassen sich so gut wie keine Zweifel in der Form wahrnehmen. Vielmehr entspricht Anton Bruckners Musik dem Modell des Perfektionisten, der durch Überbietung keine Zweifel aufkommen lassen will – oder darf. Die ständigen Überarbeitungen und Verfeinerungen versetzen das Werk gerade auch bei der Vierten in eine gewisse Unruhe, die von „der Bruckner-Philologie“[11] indessen beruhigt werden muss und normalisiert wird. Anders gesagt: in dem Maße wie die Perfektion vorangetrieben wird, verdeckt sie den Zweifel. Vereinfachung der Stimmführung und Vereinheitlichung des Periodenbaus sieht Olaf Wilhelmer denn auch als Strategien der Überarbeitungen.

 

Yannick Nézet-Séguin interessiert sich vermutlich weniger für die Widersprüchlichkeit des Brucknerschen Kompositionspraxis. Er bringt die 4. Symphonie zum Strahlen und Strahlen. Nach der Katastrophe bei Zimmermann ist nun alles wieder gut. Und wahrscheinlich ist es genau das, was das Publikum zu hören wünscht. Die musikalische Exzellenz der Aufführung ist ganz und gar unbestreitbar. Das Publikum in der Philharmonie ist begeistert. Der Dirigent ist dabei ganz und gar ungekünstelt und versteht sich offenbar mit dem Orchester, das er quasi groß gemacht hat. An diesem Abend trägt er sogar nur ein modisches, schwarzes Hemd statt eines Fracks o.ä., mehr Unkompliziertheit und Nähe geht eigentlich gar nicht. Er ist längst ein technisch perfekter Stardirigent. Und das Rotterdam Symphonie Orchestra ist womöglich einen Tick populärer als das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam. 

 

Torsten Flüh 

 

Musikfest Berlin 

bis 18. September 2018 

 

PHØNIX16 

diverse Konzerttermine   

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[1] Vgl. zum Raumklang der Philharmonie das Festkonzert 2013: Torsten Flüh: Die hohe Schule des Hörens. Zum Festkonzert der Berliner Philharmoniker für 50 Jahre Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Oktober 2013 22:12.

[2] Pierre Boulez: Bruno Maderna – Eine Porträtskizze. In: Musikfest Berlin: Eröffnungskonzert Staatskapelle Berlin Daniel Barenboim. Berlin, 2018, S. 9.

[3] Julia Spinola: Besessen um die eigene Zukunft gespielt. In: Süddeutsche Zeitung 26. August 2018, 18:35 Uhr Klassik.

[4] Martin Wilkening: Musikalische Rituale: Inhalt und Form. In: Musikfest … [wie Anm. 2] S. 11.

[5] Vgl. Torsten Flüh: Nicht fürs Wohnzimmer. Sir Simon Rattle dirigiert Tristan und Isolde konzertant mit den Berliner Philharmonikern sensationell radikal. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. April 2016 22:38.

[6] Siehe: HOROS METEOROS. PHØNIX16.

[7] Vgl. auch: Torsten Flüh: Wurst, Wulst, Blogwurst. Odysseen im Universum der Blogger. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. August 2010 21:31.

[8] Bernd Alois Zimmermann zitiert nach: Musikfest Berlin: Rotterdam Philharmonic Orchestra Yannick Nézet-Séguin. Berlin, 2018, S. 8.

[9] Olaf Wilhelmer: Fassung bewahren. Symphonische Selbstbehauptung bei Anton Bruckner und Bernd Alois Zimmermann. In: ebenda S. 11-12.

[10] Ebenda S. 11.

[11] Ebenda. 


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