Verstörende Revolutionen - Diversität und Sprachpolitik von extremistischen Verlagen auf der Frankfurter Buchmesse

Buchmesse – stören – Fraglosigkeit

 

Verstörende Revolutionen 

Diversität und Sprachpolitik von extremistischen Verlagen auf der Frankfurter Buchmesse 2017

 

Am späten Samstagnachmittag, schon fast zum Schluss der Frankfurter Buchmesse kam es in Halle 3.1 am Stand G 82 doch noch zum Tumult beim Verlag der Neuen Rechten, der Identitären und der AfD. Der Verlag Antaios mit Götz Kubitschek als seinem Verleger organisiert nicht nur das Verlagsprogramm, sondern auf einem „Flugblatt“ einen „Wegweiser durch unsere Szene“ in den Hallen A bis G gleich mit. Die sogenannte konservative Revolution wird von Antaios offensiv und vereinnahmend durch den „Wegweiser“ mit Autorennamen organisiert, denen „unsere Szene“ gewiss nicht immer lieb ist: „… 3.0/C 64 (Botho Strauß, Martin Mosebach), 3.0/C 87 Eichborn (Alexander Gauland), 3.0/G 10 Campus (Jörg Baberowski) …, 4.1/F 14 Suhrkamp (Sloterdijk, Chantal Mouffe, Tuvia Tenenbom), 4.1/G 8 (Houellebeq)“ – Tuvia Tenenbom empfohlen von Antaios Verlag?!

 

Nicht weniger befremdlich bricht die Revolution auf der Mainzer Straße im Stadtteil Gallus an der Tram-Haltstelle vom trotzkistischen Mehring Verlag aus Essen in die Frankfurter Messe- und Finanzwelt ein. An allen Ecken fräst sich das Kapital als Geschäftshochhausbauten, Skyline Plaza und Europaallee durch das Stadtbild. Wie aus fernen Zeiten laden die extremen Linken mit der Oktober-Revolution und „Warum die russische Revolution studieren“ zur Buchvorstellung mit „1917 - Die Februarrevolution und die Strategie der Bolschewiki“ ins Haus Gallus und an den Stand E 30 in der Halle 4.1 ein. Die alten Geschichten von Heimat, Rasse, Geschlecht und Ehre auf der einen sowie marxistisch-leninistischer Revolutionserzählung kehren im Oktober 2017 wieder. Deshalb empfiehlt es sich, diese Narrative auf der Buchmesse einmal genauer zu betrachten und das „Passagen Buch“ stören! gegenzulesen.

Bereits in der Eröffnungsrede hatten der Direktor der Frankfurter Buchmesse, Jürgen Boos, und der Vorsteher des Börsenvereins, Heinrich Riethmüller, erwähnt, dass auch rechte Verlage auf der Messe vertreten seien. Man müsse das als Demokratie aushalten. Am Samstagabend wurde um 22:00 Uhr schnell ein „Statement der Frankfurter Buchmesse und des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels“ per E-Mail verschickt. Bei „Veranstaltungen von Verlagen der Neuen Rechten“ sei es „zu Handgreiflichkeiten“ gekommen, „die von der Polizei aufgelöst wurden“. Am Sonntagmorgen herrschte dann besonders großer Andrang am Stand des Verlags Antaios. Man muss die „Vielfalt der Meinungen“ und die Buchmesse als „Ort des freien Dialogs“ aushalten können. 

Wir verurteilen jede Form der Gewalt. Sie verhindert den Austausch von politischen Positionen. Wir werden sie als Mittel der Auseinandersetzung nicht zulassen. (Pressemitteilung, 14. Oktober 2017, 22:04)

In der Demokratie geht es ums Aushalten. Das ist allerdings nicht gerade die Stärke der „Neuen Rechten“ und ihrer Verlage. Und „freie(r) Dialog“? Sie suchen die Konfrontation mit den Linken, wenn beispielsweise die Ehefrau des Verlegers Kubitschek, Ellen Kositza, einen „Offene(n) Brief an die Amadeu Antonio Stiftung“ verfasst.[1] Die Amadeu Antonio Stiftung hatte pikanter Weise ihren Stand auf der Frankfurter Buchmesse gleich schräg gegenüber in Halle 3.1 in Gang G auf Nummer 89. Nun ist die Stiftung als ausgesprochen linke nicht gerade gesprächsbereit mit der Neuen Rechten vom Antaios Verlag. Vielmehr lieferten sie sich wenigstens einen Disput mit Pressemeldungen.   

Eine Diskussion „auf Augenhöhe“ mit den Neuen Rechten würde bedeuten, dass wir unsere demokratischen Überzeugungen zur Debatte stellen. Grund- und Menschenrechte oder die offene Gesellschaft und ihre Errungenschaften zur Disposition stellen? Der Neuen Rechten entgegen kommen und ihre Meinungen diskutabel machen? Nein, dazu sind wir nicht bereit. Die Amadeu Antonio Stiftung wird der Neuen Rechten nicht die sehnlich herbeigewünschte Bühne bieten, um ihre Propaganda zu verbreiten.[2]

 

Die Sprachwahl des Verlags Antaios ist entscheidend. Antaios ist der Spezialist für das Neue-Rechte-Sprech. Es beginnt mit dem „Wegweiser“ durch „unsere Szene“, setzt sich fort in der Adresse des Verlages mit „Rittergut Schnellroda“ und entfaltet eine durchaus bemerkenswerte Lexik und Syntax. Alles ist richtig und falsch zugleich. Das ehemalige Rittergut ist heute ein Ortsteil der Gemeinde Steigra in Sachsen-Anhalt. Es fällt zunächst gar nicht so sehr auf, wie das „Rittergut“ zurückkehrt, und knüpft dann doch ein ideologisches Textgewebe. An das „Rittergut“ lässt sich auf vielfache Weise anknüpfen. Es funktioniert ebenso in einem Mittelalter-Spiele-Kontext wie in den Narrativen von edelmütigen Rittern. Beiläufig wird die Auflösung des „Ritterguts“ in den „Ortsteil“ gelöscht. Die Geschichtlichkeit des „Ritterguts“ wird zum Argument für Revisionismus und Ressentiment.  

 

Dem Verlag und seinen Protagonisten geht es um eine strategisch vereinnahmende Umdeutung von Begriffen. Der Modus der Pressemitteilung als „Flugblatt zur Buchmesse“ setzt sich lexikalisch ab. Er appelliert an einen revolutionären Kontext, wie schon die Veröffentlichung von Goethes „Flugblatt“ mit dem nachträglichen Titel „Von deutscher Baukunst“ in Herders „Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter“ 1773 eine Geste des Widerspruchs und des Eigenen versprach.[3] Antaios leistet eine Ideologisierung des Neue-Rechte-Sprech. 

Wenn man Sie heute rechts von der Mitte einsortiert, weil Sie bestimmte Meinungen vertreten, werden Sie rasch die ganze Härte der offenen und toleranten Gesellschaft zu spüren bekommen. 

Aber keine Bange! Wir zeigen Ihnen, wie man damit umgehen kann, ja überhaupt, wie das funktioniert: Mit Linken leben.[4]

 

Dem Angst-Bürger wird einladend „Aber keine Bange!“ zugerufen. Flugblätter waren seit dem 18. Jahrhundert eine vor allem linke, kritische Publikationsstrategie wie bei Georg Büchner des Neuen Deutschland und der Studentenbewegung, der Achtundsechziger. Flugblätter waren politische Mitteilungen gegen Dekrete, Gesetze, Zeitungen und Springer-Presse. Im Neuen-Rechte-Sprech wird wenigstens als eine Sprachstrategie die Umschreibung und Besetzung von linken Begriffen betrieben. Im „Durchhalte-Stoffbeutel für 30 €“ mit dem Verlagslogo, der züngelnden Schlange, und dem altdeutschelndem Motto „meyn geduld hat ursach“ werden die Neuerscheinungen Mit linken Leben von Martin Lichtmesz und Caroline Sommerfeld und Das andere Deutschland. Neun Typen von Erik Lehnert und Wiggo Mann angeboten.[5] Schnäppchen im Jutebeutel, nur dass er jetzt „Durchhalte-Stoffbeutel“ heißt. „meyn geduld hat ursach“ ist seit 2013 das Motto der „Lage und Möglichkeiten der intellektuellen Rechten“ von Karlheinz Weißmann.[6] Es ist eine Kampfansage.

 

Antaios bietet die Welterzählung nicht der Anti-, sondern „KONTRA KULTUR“ als „identitäre Jugendkultur“ mit einem „Kosmos aus Lektüre, Filmen, Bildern, Kleidung, Verhaltenskodex, Musik, Typen und Geschichte“ mit einem Lexikon von „»Aktion« bis »Zentropa«“ und „Wandkalender“[7] mit Fotos von „NULL PROZENT HIPSTER“ und Mädchenblick von „1956“. Antaios und die „intellektuelle Rechte“ bieten ein geschlossenes Weltbild, von dem man dachte – „1956“ –, dass es das gar nicht mehr gibt. Doch genau dies hat sich der Verlag zur Aufgabe gemacht. Er bietet die Heimaterzählung vom und auf dem „Rittergut“. Dass die Welt auf dem „Rittergut“ in Sachsen-Anhalt als Ortsteil von Steigra eine überschaubare sein muss, die sich notfalls mit einem Schäferhund verteidigen lässt, kann man sich denken, denn die Antaios-Literatur sieht sich auch „anti-urban“. Hipster sind urban, Rittergut ist anti-urban.

 

Die Sprachpolitik der „intellektuellen Rechte(n)“ kennt neben der Besetzung von Begriffen ebenso die klare Dichotomisierung. Um eine „rechte“ Welterzählung zu generieren, müssen distinkte Gegensätze geschaffen werden. Urban gegen anti-urban. Identität gegen Identitätskritik. Geschlechtergrenzen gegen Diversität. Geschichte gegen geschichtslose Globalisierung. Die „intellektuelle Rechte“ hat erkannt, dass sie sprachpolitisch arbeiten muss. Sie arbeitet dabei, wenn es darauf ankommt, ahistorisch. Denn der Begriff intellektuell als ein verstandesmäßiges Denken war in totalitären Systemen, im Nationalsozialismus wie im Sozialismus verpönt. Als „intellektuelle Rechte“ erheben die Sprachpolitiker Anspruch darauf, die wahren Intellektuellen und Widerständigen im Mainstream zu sein. Diese Sprachpolitik der „Neuen Rechten“ ist weit fortgeschritten. Sie lässt sich exemplarisch im „Gesamtverzeichnis 2017“ wie im „Flugblatt zur Frankfurter Buchmesse“ des Antaios Verlags beobachten.   

 

Die Amadeu Antonio Stiftung ist nicht unumstritten. Sie wird allerdings schon seit 2007 besonders von der rechtsextremen Zeitung Junge Freiheit, den „Identitären“, der „Neuen Rechten“ und Ellen Kositza als Vertreterin des Antaios Verlags persönlich wegen ihrer Vorsitzenden Anetta Kahane kampagnenartig angegriffen. Insofern ist das „Flugblatt zur Buchmesse 2017“ von Ellen Kositza ein ziemlich alter Hut. Das Wissen über Anetta Kahane, das Kositza dem Pressesprecher der Amadeu Antonio Stiftung, Robert Lüdecke, im „Flugblatt“ vorhält, wird nach dem Motto „Steter Tropfen hölt den Stein“ eingesetzt. Gleichwohl kursieren Fakten und Erzählungen über die Tätigkeit von Anetta Kahane als IM für das Ministerium für Staatssicherheit. Die autobiographische Erzählung von Anetta Kahane, Ich sehe was, was du nicht siehst. Meine deutschen Geschichten, 2004 im Rowohlt Verlag erschienen, versucht ihre zeitweilige Mitarbeit nicht zuletzt als Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin zwischen 1979 und 1986, zu erklären.

 

Die Amadeu Antonio Stiftung hat u.a. an der Umbenennung des Kreuzberger Gröbenufers in May-Ayim-Ufer entschieden mitgewirkt.[8] Die Benennung[9] und Umbenennung sind literarische Strategien. Sie verschieben seit 2010 beim May-Ayim-Ufer die Erinnerung an den Kolonialismus mit Otto Friedrich von Groeben als deutsche Erfolgsgeschichte um 1900 zum Kolonialismus als strukturelle Ökonomisierungs- und Rassismusgeschichte. Insofern die nicht sehr bekannte Dichterin und antirassistische Aktivistin May Ayim zur Namensgeberin wird, vollzieht die Umbenennung eine Verschiebung der Erinnerungspolitik. Die eigentliche Problematik dieser Benennung als Umbenennung liegt indessen darin, dass an der naheliegenden Oberbaumbrücke mehrere Bürger der DDR versuchten, die Spree auf der Flucht schwimmend zu überqueren und dabei ertranken oder erschossen wurden. Beispielsweise sieht der Verleger Peter Engelmann, der als vermeintlicher Flüchtling verhaftet, psychisch gefoltert und traumatisiert wurde, in dieser Nicht-Benennung nach einem Mauertoten ein gewaltiges Problem. Die Liste von 140 Todesopfern an der Berliner Mauer 1961-1989 nennt zwar die Namen und Daten nicht aber den genauen Ort, wo die Opfer zu Tode kamen.[10]   

 

Peter Engelmann hat zum 30jährigen Jubiläum des Passagen Verlags „Das Passagen Buch“ STÖREN! HORS SÉRIE herausgegeben.[11] Neben den einführenden In eigener Sache und Rückkehr nach Paris, was durchaus als Replik auf Didier Eribons Rückkehr nach Reims gelesen werden darf, enthält das Buch das Interview „Zwischentöne“ von Joachim Scholl mit Peter Engelmann für den Deutschlandfunk vom 02.06.2013 in Transkription sowie Erstveröffentlichungen von Jacques Derrida, Jean-François Lyotard, Hélène Cixous, Jacques Rancière und Alain Badiou. Im Gespräch mit Joachim Scholl gibt Engelmann detailliert Auskunft darüber, wie er zufällig in Rumänien inhaftiert, freigekauft, an die DDR-Behörden überstellt, wieder inhaftiert wurde und schließlich in die Bundesrepublik ausreisen durfte. Die Geschichte des Wiener Passagen Verlags lässt sich als eine Montage unterschiedlichen Textsorten lesen. In Rückkehr nach Paris nimmt Peter Engelmann das Thema der Globalisierung auf, um es mit den „differenzphilosophischen Ansätze(n)“ der 60er-Jahre zu diskutieren. 

Heute müssen wir uns nun die Frage stellen, welche Rolle die in den 60er-Jahren entwickelten differenzphilosophischen Ansätze und die neuen libertären politischen Organisationsformen und Themen im Globalisierungsprozess und für diesen spielen.[12]

 

Rückkehr nach Paris ist in vieler Hinsicht ein ebenso literarischer wie politischer als auch philosophischer und autobiographischer Text. Der Titel spielt gleich auf mehreren Ebenen auf den Verlag und Verlagspolitiken an. Denn Rückkehr nach Reims war 2016 vor allem ein verlegerischer Diskurs-Coup des Suhrkamp Verlags.[13] Seither wird Didier Eribon als kritische, linke Stimme in Frankreich wahrgenommen. Zuvor war der Schüler Michel Foucaults so gut wie unbekannt in Deutschland, obwohl er Retour à Reims bereits 2009 veröffentlicht hatte. Der Suhrkamp Verlag spielte indessen bei der Gründung des Passagen Verlages durch Peter Engelmann eine entscheidende Rolle. Denn die Verlagsredaktion unter dem Engagement von Jacob Taubes hatte sich zwar für die Übersetzung von Die Schrift und die Differenz (1972) und Grammatologie (1983) von Jacques Derrida eingesetzt, nach dessen Ausscheiden beschloss der Suhrkamp Verlag allerdings, die Frankfurter Schule von Jürgen Habermas zu verlegen und zu fördern, nicht aber die französischen Philosophen wie Derrida, Michel Foucault, Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze, Paul Virilio und Jean Baudrillard übersetzen und publizieren zu lassen.[14] Habermas positionierte sich insbesondere gegen das Philosophieren Jacques Derridas. Auf Anregung von Michel Foucault, der nach Engelmann in Deutschland fälschlicherweise als Ideenhistoriker und nicht als Philosoph verstanden wurde, unternahm dieser das Projekt, den vorherrschenden Suhrkamp-Theorie-Diskurs mit den Philosophen aus Paris und Straßburg zu stören. 

Heute haben wir weitgehend tolerante Verhältnisse in den westeuropäischen Demokratien, die nun aber unter den Druck autoritärer, intoleranter, rassistischer, nationalistischer Politiker und ihrer Parteien geraten, die dabei sind, auf demokratische Weise die Macht zu ergreifen, um diese Demokratien dann autoritär umzubauen.[15]

 

Der neugegründete, kleine Passagen Verlag wurde in den 80er und 90er Jahren mit Jacques Derrida u.a. zu einem der führenden Theorie- und das hieß insbesondere Philosophie-Verlage. Erst auf diesen Erfolg hin setzten sich Jacques Derrida, Jean Baudrillard, Jean-François Lyotard, Jacques Rancière und Alain Badiou als Lektüren relevanter Philosophen und Theoretiker in deutschen Philosophie- und Literaturseminaren an den Universitäten durch. Es ging nicht zuletzt darum, einen hermetischen deutschen akademischen Diskurs durchlässig zu machen. Aktuell fokussiert sich der Verlag auf eine stärkere Beachtung der Philosophin und Literaturtheoretikerin Hélène Cixous. Am von Cixous für die Sonderausgabe – hors série – geschriebenen Text „Max und Moritz, et Ma Mère und dann kommt der Tod herbei“ führt sie ihr Schreiben zwischen den Sprachen und den sich generierenden Mehrdeutigkeiten vor. Literatur wird so zu einer Schreibpraxis, die sich nicht auf einen Sinn oder eine Übersetzung festlegen lässt. Cixous förderte eine Pluralität von Übersetzungen auch dadurch, dass sie wie die in der Sonderausgabe abgedruckten von Esther von der Osten[16] und Claudia Simma nebeneinanderstehen lässt. Durch eine Pluralität von Sinn und Übersetzung wie mit „Wilhelm Bouche“, wenn der Busch sozusagen zum Mund wird, wirkt Hélène Cixous den Verfahren der Dichotomisierung und Fixierung in den Literaturen der Neuen Rechten entgegen.   

Je doits tout à Wilhelm Bouche, tout ce qui fait le brouet enchanté. Dès qu’on l’a goûté il transfigure la réalité en literature…[17] 

Ich verdanke Wilhelm Bouche alles, alles was da im Zaubersud singt. Kaum hat man davon gekostet, transfiguriert er die Wirklichkeit in Literatur…[18] 

Alles verdanke und schulde ich Wilhelm Bouche, alles was in die Zauberbrühe gehört. Sobald man gekostet hat, transfiguriert sie die Realität in Literatur…[19] 


© Passagen Verlag

Der Übersetzer und Passagen-Mitarbeiter Martin Born hat im kaum systematisierten Archiv des Passagen Verlags allererst die Tonbänder mit den Gesprächen von Peter Engelmann mit Jacques Derrida und François Lyotard, die jetzt in STÖREN! in Deutsch erstmals abgedruckt sind, gefunden. Es sind Novitäten vom 01.03. und 07.07.1984. Als habe sich der Verlag dem Archiv selbst verschrieben, waren die Gespräche vergessen worden. Besonders prominent wird das Gespräch vom 1. März 1984 dadurch, dass Jacques Derrida wie sonst kaum an anderer Stelle auf autobiographische Weise von der Genese seines Schrift-Begriffs spricht. Es lässt sich offenbar zum ersten Mal lesen, wie Derrida seinen Begriff der Schrift aus der Literatur entwickelte. 

Natürlich gibt es in der philosophischen Tradition bereits einen Schriftbegriff, aber meine Leidenschaft und mein Hauptinteresse galten eben der Literatur, dem literarischen Schreiben (écriture littéraire), und ich habe versucht, im Bereich der Philosophie dieses Interesse, diese Fragestellung wiederzufinden, was dazu führte, dass ich mich, als es am Ende meines Studiums darum ging, ein Thema für eine Abschlussarbeit zu finden – das war bei Hyppolite damals –, dafür entschied, eine Arbeit über den literarischen Gegenstand zu schreiben, über den idealen Gegenstand als literarischen, also den geschriebenen Gegenstand … „Was ist das Geschriebene? Was ist der geschriebene Gegenstand? Was ist die Schrift?“[20] 


© Passagen Verlag

Die Fraglosigkeit und befehlsförmige Benennung zeichnen insbesondere Literaturen der extremen Linken und der Neuen Rechten aus wie in der Männlichkeitserzählung Der Weg der Männer (2016) – „Masculinity is about being a man within a group of men. Above all things, masculinity is about what men want from each other.” – von Jack Donovan aus dem Amerikanischen von Martin Lichtmesz übersetzt. Roland Barthes formulierte in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France vom 7. Januar 1977 einmal, dass „die Sprache als Performanz aller Rede … faschistisch“ sei.[21] Der Neuen Rechten geht es um eine Unterwerfung des Denkens in ihrer Sprache. Neue-Rechte-Sprech benutzt den Modus der Frage, es lässt sich kaum anders formulieren, als rhetorische Figur zur Unterwerfung. Die Macht der Sprache wird „männlich“ mit Machtphantasien verknüpft. Deshalb geht es immer zuerst darum, die Sprache in den totalitären Konzepten der „Männer“ und „wirklichen“ Menschen zu analysieren. Auf diese Weise wird eine Rückkehr nach Paris als Schreibpraxis zu einem Verfahren, den sprachverliebten Revanchismus vom Rittergut zu stören.

 

Torsten Flüh

 

Peter Engelmann (Hg.) 

STÖREN! 

HORS SÉRIE. 

Erschienen 2017, Aufl. 1 

ISBN 9783709202838 

208 x 128 mm 

160 Seiten 

Preis 18,10 EUR  

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[1] Ellen Kositza: Flugblatt zur Buchmesse 2017. Offener Brief an die Amadeu Antonio Stiftung. (ohne Datum) Schnellroda, 2017.

[2] Robert Lüdecke: Zur Buchmesse: Warum eine „Diskussion auf Augenhöhe“ mit den Neuen Rechten nicht funktioniert. (ohne Datum) Amadeu Antonio Stiftung.

[3] Der Text, der wohl zunächst als Beilage zu Briefen von Goethe an engere Freunde kursierte, wurde zum Schlüsseltext der „deutschen Baukunst“. Goethe las in der Gotik des Straßburger Münsters den Höhepunkt einer „deutschen Baukunst“. In den 1820er Jahren, nachdem der Text bereits Schinkels Wiederentdeckung der Backsteingotik die Baukunst in Preußen und z.B. Köln mit der Rekonstruktion der Dom-Ruine geprägt hatte, revidierte Goethe seine Ansicht, dass die zunächst in Frankreich verbreitete Gotik eine deutsche sei. Siehe u.a.: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 37-40.

[4] Verlag Antaios. Gesamtverzeichnis 2017. Schnellroda: Antaios, 2017, S. 2.

[5] Ebenda S. 2-3.

[6] Karlheinz Weißmann: 26. August 2013. Geduld! - Lage und Möglichkeiten der intellektuellen Rechten von sezession / 15 Kommentare.

[7] Verlag Antaios … [wie Anm. 4] S. 5.

[8] Siehe auch: Torsten Flüh: Über verschiedene Lokalitäten. Quer durch Berlin: Esszimmer, Dos Palillos und Rio Grande. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. August 2014 21:33.

[9] Siehe zur Benennung als literarischer Prozess bei Wajdi Mouawad auch: Torsten Flüh: Macrons Eloquenz und das Bellen des Hundes. Zur Eröffnungsrede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron auf der Frankfurter Buchmesse. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Oktober 2017 12:05.

[10] Hans-Hermann Hertle, Maria Nooke: 140 Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989. Potsdam: Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam, ohne Jahr.

[11] Peter Engelmann (Hg.): STÖREN! HORS SÉRIE. Wien: Passagen, 2017.

[12] Ebenda S. 15.

[13] Siehe Torsten Flüh: Emotionale Verstrickungen. Zur Populismus-Debatte bei Eva Illouz und Didier Eribon. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. November 2016 19:29.

[14] Siehe dazu auch das Interview mit Peter Engelmann. In: Peter Engelmann (Hg.): STÖREN! … [wie Anm. 11], S. 56-57.

[15]Ebenda S. 15.

[16] Esther von der Osten hatte zuletzt Osnabrück von Hélène Cixous übersetzt. Siehe auch: Torsten Flüh: „Ich will die Nationalität von Osnabrück annehmen.“ Zu Hélène Cixous‘ Osnabrück und Colin Crouchs Mosse-Lecture zur Kritik des Liberalismus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Mai 2017 21:59.

[17] Hélène Cixous: Max und Moritz, et Ma Mère und dann kommt der Tod herbei. In: Peter Engelmann (Hg.): STÖREN! … [wie Anm. 11], S. 93.

[18] Esther von der Osten: MAX UND MORITZ, und Meine Mutter und dann kommt der Tod herbei. In: Peter Engelmann (Hg.): STÖREN! … [wie Anm. 11], S. 102.

[19] Claudia Simma: MAX UND MORITZ, UND MEINE MUTTER und dann kommt der Tod herbei. In: Peter Engelmann (Hg.): STÖREN! … [wie Anm. 11], S. 103.

[20] Jacques Derrida im Gespräch mit Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Martin Born. In: Ebenda S. 70.

[21] Roland Barthes: Leçon/Lektion. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1980, S. 19. 


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