Vom Kult und der Literarisierung des Theaters - Zur 304. Aufführung von Bob Wilsons Inszenierung der Dreigroschenoper im Berliner Ensemble

Kult – Verfremdung – Literarisierung 

 

Vom Kult und der Literarisierung des Theaters 

Zur 304. Aufführung von Bob Wilsons Inszenierung der Dreigroschenoper im Berliner Ensemble 

 

Am 28. Dezember feierte Die Dreigroschenoper in der Inszenierung von Robert Wilson ihre dreihundertste Aufführung seit dem 26. September 2007. Sie ist zum Kult geworden. Vor dem Berliner Ensemble stehen Menschen mit Pappzettel: „Suche Karte!“ An der Abendkasse drängen sich die Kartenhungrigen so sehr, dass die Damen und Herren an der Kasse bisweilen grantig werden und die Drängelnden zurückweisen. Vor der Vorstellung ist es ein wenig, wie es im Stück der Slogan auf den Punkt bringt: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Bei der 304. am 1. Januar 2019 ist es nicht anders als die Tage zuvor. HEUTE GROSSES HAUSDie Dreigroschenoper am BE wird als Kult gefeiert.

 

Dass es so weit kommen könnte, war bei der Premiere eher nicht vorauszusehen. Die Inszenierung von Robert Wilson ist wie alle seine Inszenierungen eine höchst artifizielle. Sie ist eine eher stille, die zum realistisch-fantastischen Bettler-Setting von Bertolt Brecht nicht zu passen scheint. Inszenierungen sind immer Momentaufnahmen einer künstlerisch-politischen Situation. An größeren Häusern werden die Inszenierungen dann manchmal zehn oder mehr Jahre gezeigt, bis sie mit ihrem Setting gar nicht mehr in die Zeit passen wollen und nur noch museal wirken. In fast magischer Weise trifft dies auf Robert Wilsons Inszenierung der Dreigroschenoper nicht zu. Sie erweist sich als so genau und lebendig wie am ersten Tag. Liegt das an Christopher Nell als Mackie Messer und Angela Winkler als Spelunken-Jenny?

 

Die Dreigroschenoper wurde 1928 in eben diesem Theaterbau uraufgeführt, stand en suite fast ein Jahr lang kommerziell im Programm, wurde zu Bertolt Brechts und Kurt Weils größtem Erfolg in der Weimarer Republik und seit 1954 krönt das Signet aus Neonröhren BERLINER ENSEMBLE den Theaterturm. Insofern ist das Theater am Schiffbauerdamm nicht nur zur Spielstätte, vielmehr zum Inbegriff der Dreigroschenoper und Bertolt Brechts geworden. Wo wenn nicht hier sollte man Die Dreigroschenoper sehen wollen? Doch es sind nicht allein Auswärtige und internationale Touristen, die unbedingt in die 300. Vorstellung hinein wollen. Am 28. Dezember haben es sich schon am frühen Abend eher Einheimische, um nicht zu sagen Berliner, neben der Tageskasse mit Picknick-Korb und Sektflasche festlich gemacht. Das sieht ein wenig nach Waldbühne oder Proms oder gar Rocky Horror Picture Show aus. Kult entwickelt eigene Praktiken der Vorfreude und der Rezeption.

 

Wahrscheinlich kommt man dem Kult nicht mit Theatergeschichte bei. Sie kann den Kult nicht erklären. Die sozialen oder religiösen Funktionen des Kults können ihn ebenfalls kaum in der Popkultur erklären. Geht es um eine Verehrung der Stars Christopher Nell und Angela Winkler? Als Christopher Nell 2007 die Rolle des Mackie Messer in Robert Wilsons Inszenierung übernahm, war er mit 28 Jahren nicht nur recht jung, sondern auch fast unbekannt. Sein androgyner Mackie Messer mit Korsett und onduliertem Blondhaar, falschen Wimpern und rotem Lippenstiftmund war ein Wagnis. Mittlerweile ist Christopher Nell 39, hat aber nichts von seiner geschlechtlichen Zweideutigkeit als „Raubtier und (…) Gentlemen“ verloren. Doch nein, selbst mit der großartigen Angela Winkler lässt sich der Kult nicht erklären. Zumal es weder Brecht noch Robert Wilson noch das Ensemble selbst auf Startheater angelegt haben.

 

Das Berliner Ensemble, dass es nur noch dem Namen nach und als Signet auf der Turmspitze gibt, und das sich nicht aus dem Sprachgebrauch vertreiben lässt – man geht weiterhin ins BE oder Berliner Ensemble –, gibt es schon lange nicht mehr. Brecht hatte ein konkretes Konzept von dem, was er „Berliner Ensemble“ nannte. Seit 1992 gibt es das Berliner Ensemble in der Konzeption Brechts nicht mehr, woran erst kürzlich Michael Bienert in seinem Buch Brechts Berlin erinnert hat: „Nach dem Ende der DDR war Weckwerth als Intendant nicht zu halten, das Berliner Ensemble rutschte mit dem Untergang des Staates, dem es als kulturelles Aushängeschild gedient hatte, in eine tiefe Sinn- und Identitätskrise.“[1] Diese galt auch dem Ensemble-Konzept, das in ganz anderer Weise von Robert Wilson umgewandelt worden ist. Auch bei ihm gibt es keine Stars, die sich produzieren. Sein Theater ist ebenfalls auf das Miteinander eines Ensembles angelegt.

 

Robert Wilsons Inszenierung beginnt mit Kreisen aus Glühbirnen, wie er sie bereits 1976 für die Uraufführung von Philipp Glass‘ Einstein on the Beach entwickelt hatte.[2] Sie haben etwas mit der Konzeption von Ensemble und dem Licht bei Wilson zu tun. So erinnerte sich gerade Christopher Nell mit einer Audition-Anekdote an seine erste Begegnung mit Robert Wilson: „Als junger Schauspieler kam mir das ein bisschen befremdlich vor, wenn man so rumsteht und dann sagt dir jemand: "Feel the stream of the light through your head."“[3] Das Licht spielt nicht nur im Bühnenbild, vielmehr noch im Ensemblekonzept von Wilson eine wichtige Rolle. Es geht ähnlich wie bei Brecht um eine Veränderbarkeit: 

Einige Eigenarten des Berliner Ensembles, die mitunter Befremden erregen, kommen von den Bemühung:

    1. Die Gesellschaft als veränderbar darzustellen.

    2. Die menschliche Natur als veränderbar darzustellen;

    3. Die menschliche Natur als abhängig von Klassenzugehörigkeit darzustellen;

    4. Konflikte als gesellschaftliche Konflikte darzustellen;

    5. Charaktere mit echten Widersprüchen darzustellen;

    6. Entwicklungen von Charakteren, Zuständen und Ereignissen als diskontinuierlich (sprunghaft) darzustellen;

    7. Die dialektische Betrachtungsweise zum Vergnügen zu machen;

    8. Die Errungenschaften der Klassik im dialektischen Sinn ,aufzuheben‘;

    9. Aus Realismus und Poesie eine neue Einheit herzustellen.[4]

  

Bertolt Brechts Konzept für das Berliner Ensemble korrespondiert in mancher Hinsicht mit dem Theater Robert Wilsons. Brecht wollte den „Kunstgenuß des Publikums nicht [schmälern], sondern nur in seiner Natur veränder(n)“.[5] Robert Wilson rückt die Sprache und das Sprechen in seiner Dreigroschenoper in den Vordergrund. Das wird nicht nur technisch durch die Mikrofone an den Mündern der Schauspieler*innen gewährleistet, es wird auch mit akustischen Tricks bewirkt. Die Überhelle der Lichtregie und die bisweilen Übersteuerung der Klangregie verlagern den Realismus Brechts durch Verfremdung in leicht psychedelische Traumsequenzen. Es ist meistens zu hell und ein wenig zu laut, was zugleich eine gewisse, unabweisbare Nähe herstellt. Es lässt sich nicht so einfach weghören oder wegsehen, selbst dann nicht, wenn man nicht genau versteht, was gerade passiert.

 

 

In gewisser Weise ist weder bei Brecht noch bei Wilson das Theater auf Kult angelegt. Wilson geht es um ein schwer zu verifizierendes Dahinter. Das ist keine leichte Kost, die zum Kult taugt. „Was ich an Brechts Theater interessant finde, ist der „Raum dahinter“: hinter dem Text steht feinste Ironie, hinter der Geschichte steht Idee, hinter den Personen stehen Geschichten, hinter dem Raum ist Spannung. Es ist eine große Herausforderung, diese andere Seite des Werkes zu finden, weit darüber hinaus, was auf dem Papier steht“[6], hat Robert Wilson für seine Inszenierung geschrieben. Oder geht es mit dem Kult nicht um das Dahinter, sondern eine Art Wunscherfüllung? Elias Canetti hat 1928 als Gast der Uraufführung eine Wunscherfüllung durch Repräsentation wahrgenommen, die insofern merkwürdig ist, weil gerade keine Bettler, Huren und Verbrecher im Publikum des bürgerlichen Theaters am Schiffbauerdamm saßen.

Es war eine raffinierte Aufführung, kalt berechnet. Es war der genaueste Ausdruck dieses Berlin. Die Leute jubelten sich zu, das waren sie selbst und sie gefielen sich. Erst kam das Fressen, dann ihre Moral, besser hätte es keiner von ihnen sagen können, das nahmen sie wörtlich. Jetzt war es gesagt, keine Sau hätte sich wohler fühlen können.[7]

 

 

 

Worum geht es in der Dreigroschenoper? „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, hatte sich als Inhalt schon bei Canetti verfangen. Geht es um Moral? Zu Anfang wird die Moritat von Mackie Messer gesungen – „Und der Haifisch, der hat Zähne …“ –, die dem Genre nach eine schauerliche, unmoralische Geschichte in einer eintönigen Melodie erzählt. Macheath bringt angeblich reihenweise Menschen um. Aber ist dieses Schauermärchen von Mackie Messer nicht auch voller Widersprüche und Ironie? Wird Macheath nur für alles verantwortlich gemacht, für dass es keine Erklärung gibt? Geht es in der Moritat womöglich darum, mehr von dem widersprüchlichen Wissen und den Erklärungsversuchen zu erzählen? Die Moritat als Genre funktioniert durchaus als Erzählung für Unerklärliches. Wenn es Brecht um „Konflikte als gesellschaftliche Konflikte“ geht, dann verdeckt die Moritat von Mackie Messer dies gerade.

Wo ist Alfons Glite, der Fuhrherr?

Kommt das je ans Sonnenlicht?

Wer es immer wissen könnte –

Mackie Messer weiß es nicht.[8]     

 


Foto: Moritz Haase

 

Doch Spelunken-Jenny schickt der Moritat hinterher: „Das war Mackie Messer!“ Aus der Entstehungszeit der Dreigroschenoper gibt es so gut wie keine Kommentare von Bertolt Brecht zum Stück. Erst nachträglich hat er sich 1937 mit Das Lesen von Dramen zu ihrem Konzept geäußert. Im Nachhinein lässt sich damit die Moritat von Mackie Messer weniger auf das was, als auf das wie erzählt wird, lesen. Denn die Moritat ist musikalisch wie erzählerisch darauf angelegt, Mackie Messer als Schuldigen für alle Verbrechen anzunehmen. Gleichzeitig sind Reim und Melodie so eingängig, dass wenigstens die erste Strophe vielen Menschen einfällt, sobald von der Dreigroschenoper gesprochen wird. Brecht hat dahingehend einen Wink gegeben:

»Die Dreigroschenoper« befaßt sich mit den bürgerlichen Vorstellungen nicht nur als Inhalt, indem sie diese darstellt, sondern auch durch die Art, wie sie sie darstellt. Sie ist eine Art Referat über das, was der Zuschauer im Theater vom Leben zu sehen wünscht.[9]  

 


Foto: Barbara Braun

 

Brechts Formulierung korrespondiert auffällig mit Elias Canettis Beschreibung der Uraufführung. Der ursprüngliche Erfolg im Theater am Schiffbauerdamm könnte demnach der Figur der Verkennung geschuldet sein. Gewünscht werden Krimi und Sex, was die Endlosproduktionen von Krimis im Öffentlich-rechtlichen Fernsehen und anderswo erklärt. Krimi und Sex gehen immer. Krimis im Rotlicht-Milieu sind Erfolgsgaranten. Da darf es auch schon einmal in Wort und Bild deftig zu gehen. Nicht zuletzt die Histo-Serie Berlin Babylon profitiert davon. Die Dreigroschenoper ist Krimi und Sex. In der „Verfremdung“ von Robert Wilson funktioniert die Verkennung möglicher Weise anders als in der Inszenierung 1928 am heutigen Bertolt-Brecht-Platz mit Brecht-Denkmal. Die historische Aufladung des Platzes wie des Ortes befördert das Gefühl, das Stück nur allzu gut zu kennen. Die Weltberühmtheit wird eher gekannt als das Dahinter. Und die Weltberühmtheit als Wissensformat von Brecht und dem Berliner Ensemble generiert gewisse eigene Wünsche wie den, sich selbst nun an diesem Ort zu sehen.

 

 

Doch Die Dreigroschenoper ist immer noch ein Opernstück über Bettler, Huren und Verbrecher, sozial Ausgegrenzte und Marginalisierte. Insbesondere bezüglich der Bettler gibt es heute eine unangenehme Nähe zum Inhalt. Denn es vergeht kaum eine U- oder S-Bahnfahrt, während der man nicht von Obdachlosen mit ihren Geschichten angesprochen wird. Ohne einer gewissen Schutzhaltung, dass man das Leid dieser meist von Drogenabhängigkeit Gezeichneten nicht beheben kann, lässt sich das kaum aushalten. Natürlich sind Drogenabhängige und/oder Obdachlose eine gesellschaftliche Erscheinung, die sich unterdessen nicht mit einfachen Strategien beheben lässt. Auf der U-Bahn-Station irrt eine junge Frau mit zerzaustem Haar zwischen den Geschäftigen. Sie wirkt fast hipp, bis der Passant die zerschossenen Schuhe und die nackten Füße mit der schrundigen Haut sieht. Ein Mensch. Anders gesagt: die Bettler auf der Bühne sind schon gefährlich nah. Brecht ging es darum, dies aufzudecken.

Da er (der Zuschauer, T.F.) jedoch gleichzeitig auch einiges sieht, was er nicht zu sehen wünscht, da er also seine Wünsche nicht nur ausgeführt, sondern auch kritisiert sieht (er sieht sich nicht als Subjekt, sondern als Objekt), ist er prinzipiell imstande, dem Theater eine neue Funktion zu erteilen. Da aber das Theater selber seiner Umfunktionierung Widerstand entgegensetzt, ist es gut, wenn der Zuschauer Dramen, die nicht nur den Zweck verfolgen, auf dem Theater aufgeführt zu werden, sondern auch den, es zu verändern, selbst liest: aus Mißtrauen gegen das Theater.[10]   

 

 

Aushalten kann man Die Dreigroschenoper eigentlich nur, wenn man sie nicht mit den obdachlosen Verkäufer*innen der Berliner Straßenzeitung Motz in U- und S-Bahn, mit den Trinker*innen aus der Trinkerecke am Leopoldplatz oder anderswo in Verbindung bringt. Es gibt ebenso andere Bettler in Berlin z. B. Roma, die relativ organisiert sind. Doch auch bei ihnen wäre jegliche Bettler-Sozial-Romantik fehl am Platze. Brecht verfolgte mit seinem Stück keine bürgerliche Romantisierung, sondern eine „Literarisierung“ der sozialen Verhältnisse auf der Straße. Zwar fehlen in der Inszenierung von Wilson die „Titel der Szenen“ als Tafeln, aber sie werden aus dem Off (Walter Schmidinger) deutlich angesagt. Der Begriff der „Literarisierung“ bleibt bei Brecht unscharf. Er schreibt ihm allerdings eine entschiedene Funktion zu, die mit Walter Benjamins „Literarisierung der Lebensverhältnisse“[11] in Die Zeitung korrespondiert:

… Diese Literarisierung des Theaters muß, wie überhaupt die Literarisierung aller öffentlichen Angelegenheiten, in größerem Ausmaß weiterentwickelt werden.

Die Literarisierung bedeutet das Durchsetzen des »Gestalteten« mit »Formuliertem«, gibt dem Theater die Möglichkeit, den Anschluß an andere Institute für geistige Tätigkeit herzustellen, bleibt aber einseitig, solange sich nicht auch das Publikum an ihr beteiligt und durch sie »oben« eindringt.[12]   

 

 

 

Die Literarisierung als Strategie der Aufführungspraxis wird von Robert Wilson quasi akustisch mit der überdeutlichen Inszenierung der Sprache umgesetzt. Denn, was bei Brecht Literarisierung heißt, kommt allererst in der gesprochenen Sprache zum Vollzug. Die Literarisierung wendet sich gegen eine Naturalisierung von Verhaltens- und Redeweisen bzw. die vermeintlich „menschliche Natur“. Dadurch wird die Literarisierung zu einem Verfahren der Enthüllung oder Aufdeckung von „alle(n) öffentlichen Angelegenheiten“ und nicht nur diesen. Die Literarisierung deckt auf, wie die Lebensverhältnisse gemacht worden sind und werden. Der spaßige Streit um die richtige Benennung der Möbel und Geschenke zur Hochzeit von Polly und Mac überdeckt, dass sie eigentlich obdachlos sind.

WALTER Na, und das? Chippendale! Er enthüllt eine riesenhafte Chippendale-Standuhr.

MAC Quatorze.

POLLY Die ist großartig. Ich bin so glücklich. Ich finde keine Worte. Ihrer Aufmerksamkeiten sind so phantastisch. Schade, daß wir keine Wohnung dafür haben, nicht, Mac?[13]

 

 

Die witzigen Formulierungen werden in Robert Wilsons Inszenierung dadurch gesteigert, dass beispielsweise Polly (Johanna Griebel) mit einer hohen, sagen wir, kindlichen Stimme spricht und ihren Äußerungen ein „Puuuh“ hinterherschickt. Fast comicartig werden stereotype Phrasen wiederholt, während sich Polly und Lucy (Franziska Junge) im von Bertolt Brecht „Eifersuchtsduett“ genannten Streit in Rage bringen. Statt einem „Zickenkrieg“ wie er heute im Dschungelcamp[13], Bachelor[15] oder ähnlichen Formaten als Realität(!) inszeniert wird, werden bei Brecht und Wilson die Mechanismen der Sprache vorgeführt und offengelegt. Es geht Brecht gerade nicht darum, Polly und Lucy als, sagen wir, „Schlampen“ zu diskreditieren, sondern vorzuführen, wie ein „Eifersuchtsduett“ mit wortgleichen Wiederholungen funktioniert.

POLLY Na, das werden wir ja sehn.

LUCY   Ja, das werden wir ja sehn.

BEIDE Mackie und ich, wir lebten wie die Tauben

         Er liebt nur mich, das laß ich mir nicht rauben.

         Da muß ich schon so frei sein

         Das kann nicht vorbei sein

         Wenn da so `n Mistvieh auftaucht!

         Lächerlich![16]

 

 

Vielleicht beruht der Kult um Die Dreigroschenoper auf eben jener Verkennung, dass das Publikum genüsslich einen popkulturell gehypten Zickenkrieg sehen will und sieht, wo es um die Entlarvung seiner sprachlichen wie gestischen Arsenale geht. Man weiß es nicht. Meine Platznachbarin, eine junge Frau, jubelte laut wie in einem Popkonzert schon nach dem Vorspiel zum Dritten Akt von Filch (Georgios Tsivanoglou), woraufhin sich der ältere Herr vor ihr umdrehte und sie anfauchte, damit aufzuhören. Die junge Frau hatte die Inszenierung schon früher sehen wollen. Für sie und vielleicht manch andere/n lassen sich die Verhaltensweisen bei einem Popkonzert mühelos auf Die Dreigroschenoper übertragen. Brecht hat keine Mühen und Direktheit in der Dreigroschenoper gescheut, um sein Publikum frontal anzusprechen.

MAC   Ihr Herren, die ihr uns lehrt, wie man brav leben

         Und Sünd und Missetat vermeiden kann

         Zuerst müßt ihr uns was zu fressen geben

         Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.

         Ihr, die ihr euren Wanst und unsre Bravheit liebt

         Das eine wisset ein für allemal:

         Wie ihr es immer dreht und wie ihr’s immer schiebt

         Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

         Erst muß es möglich sein auch armen Leuten

         Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.

STIMME hinter der Szene: Denn wovon lebt der Mensch?

MAC   Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich

         Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frißt.

         Nur dadurch lebt der Mensch, daß er so gründlich

         Vergessen kann, daß er ein Mensch doch ist.

Chor   Ihr Herren, bildet euch nur da nichts ein:

         Der Mensch lebt nur von Missetat allein![17]

 

 

Im zweiten Dreigroschen-Finale wird auch in der Inszenierung von Bob Wilson das Publikum, „der Zuschauer“ als „Herren“ frontal und massiv angegangen. Das ist durchaus gespenstisch, wenn er sich als „Objekt“ des Theaters sehen und angesprochen fühlen muss. Dafür wird das Theater selbst in Szene gesetzt, wenn die „Stimme hinter der Szene“ Mac soufflieren muss: „Denn wovon lebt der Mensch?“ Die Stimme ist eine Art großer Souffleur des Theaters oder der Dialektik. Der Mensch lebt durchaus kannibalisch vom Menschen, was nicht zuletzt Karl Marx mit anderen Worten formuliert hat. Es gibt keinen Protest aus dem Publikum, sondern Applaus nach dem zweiten Dreigroschen-Finale. Jenny (Angela Winkler) wiederholt die Anklage als Erzählung des „Weib(es)“. Doch vielleicht kommt „der Zuschauer“ so gut damit klar, weil doch alles nur im Theater und nicht auf der Straße gegen ihn gesungen wird. Fast handelt es sich schon um eine Publikumsbeschimpfung, wie sie Peter Handke 1966 rausbrachte und wie sie am 10. Januar wieder im Deutschen Theater zu hören und zu sehen sein wird.

 

 

Dass das zweite Finale der Dreigroschenoper weniger eine Beschimpfung abwesender, als vielmehr anwesender „Herren“ sein könnte, wird auf merkwürdige Weise übersehen und überhört. Wenn man das zweite Finale nicht gerade, als schon vorher erwarteten Song in der fast schon Schlagerparade der Brecht/Weil-Songs wahrnimmt, und endlich kommt dann die Formulierung, die alle kennen und gern zitieren – „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ –, dann müsste es eigentlich haken und „der Zuschauer“ sich fragen, wie er sich besser verhalten sollte oder seine Haltung zum Theater verändern könnte. Vielleicht sind die jubelnden und pfeifenden Zuschauer*innen genau das, was sich Brecht gewünscht hätte. Das weiß man nicht. Jedenfalls bleibt das Publikum der 304. Vorstellung überwiegend brav. Vielleicht fühlt der eine oder andere seinen Wunsch gar erfüllt und genießt es.

 

 

Wie lange der Kult um Die Dreigroschenoper in der Inszenierung von Robert Wilson anhalten, ob er vielleicht nie enden wird, lässt sich nicht im Voraus wissen. Eine grandiose Aufführung mit ebenso überzeichneten wie treffenden Typen wie dem Polizeichef von London Brown von Axel Werner oder auch der mit monströsen Hüften ausgestatteten Celian Peachum von Claudia Burckhardt wird man „allemal“ zu sehen bekommen. Und vor allem Angela Winkler, die den Salomon-Song unglaublich zerbrechlich und herzergreifend melancholisch vor dem Vorhang singt, so dass es Szenenapplaus gibt, genießt den Schlussapplaus mit Christopher Nell sichtlich. Ein großes Fest des Lebens, „allemal“.   

 

Torsten Flüh

 

Berliner Ensemble

Die Dreigroschenoper

Etwas Geduld

Weitere Termine folgen bald.

 

Deutsches Theater

Publikumsbeschimpfung

10. Januar 2019 20:00-22:00

2. März 2019 20:00-22:00

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[1] Michael Bienert: Brechts Berlin. Literarische Schauplätze. Berlin: vbb, 2018, S. 80.

[2] Siehe: Torsten Flüh: The Moon, the Shooting Star and the Happening. Einstein on the Beach im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. März 2014 20:46.

[3] "Mackie Messer ist ein Raubtier und ein Gentleman" Interview | 300 Mal "Dreigroschenoper" In: rbb24 28.12.18 | 08:18 Uhr.

[4] Zitiert nach Michael Bienert: Brechts … [wie Anm. 1] S. 78.

[5] Ebenda.

[6] Zitiert nach „Programmblatt“: Die Dreigroschenoper. Berlin: Berliner Ensemble, Spielzeit 2017/2018 #16. „Gekürzte Version des Original-Programmheftes das zu der Premiere am 17. September 2007 erschienen ist.“

[7] Zitiert nach Michael Bienert: Brechts … [wie Anm. 1] S. 76.

[8] Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1970, S. 8.

[9] Werner Hecht (Hg.): Brechts >Dreigroschenoper<. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch, 1985, S. 50.

[10] Ebenda S. 50-51.

[11] Siehe: Torten Flüh: Zeitung und Blog als „Literarisierung der Lebensverhältnisse“. Zu Walter Benjamins Buch EINBAHNSTRASSE und dem Nachtrag Die Zeitung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Januar 2015 19:22.

[12] Werner Hecht (Hg.): Brechts … [wie Anm. 9] S. 51.

[13] Bertolt Brecht: Die … [wie Anm. 8] S. 22.

[14] Mit „Zickenkrieg“ wird heute schon im Titel Werbung für bestimmte Reality-Formate gemacht. RND/tr: Zickenkrieg, Pornosucht, Hitler-Gruß: Die größten Skandale aus 14 Jahren Dschungelcamp. In: Peiner Allgemeine Zeitung 16:17 04.01.2019.

[15] Siehe: Der Bachelor 2019: Christina singt ein Ständchen und ergattert die erste Rose. In: VIP.de 04. Januar 2019 um 13:38 Uhr.

[16] Bertolt Brecht: Die … [wie Anm. 8] S. 63.

[17] Ebenda S. 69-70.


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