Vom Dilemma von Zweifel und Glauben an das Gerücht - Antonia Rados' Mosse Lecture

Krieg – Bericht – Erstattung 

 

Vom Dilemma von Zweifel und Glauben an das Gerücht 

Antonia Rados‘ Mosse Lecture zum Semesterthema Vom Krieg berichten 

 

Tweets, Fotos, Videos vom Smartphone verändern die Berichte vom Krieg in hoher Taktung. Am Donnerstag hielt die mehrfach ausgezeichnete Kriegsreporterin Antonia Rados ihre Mosse-Lecture zum Semesterthema Vom Krieg berichten unter dem Titel Die Fronten des 21. Jahrhunderts – Kriegsberichterstattung im Nahen Osten. Antonia Rados ist seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts dabei, wenn im Nahen Osten, in Afghanistan, Irak, Libyen, Iran etc. Krieg geführt wird. Am Donnerstag berichtete sie davon, wie sie 2003 „das Schauspiel“ der Präzisionsangriffe am 16. Februar 2003 vom Hotel Palestine in Baghdad in Live-Verschaltung miterlebte. Etwas später, 8. April 2003, wurden im 15. Stock des Hotels 2 Journalisten, Kameraleute, durch eine Granate der US-Armee getötet und 3 weitere verwundet.

Heute könne man dank zweier „Hutschachteln“, wie sie es nannte, an jedem Ort der Welt jederzeit vom Krieg berichten. Die amerikanische Kriegstechnologie der Satellitenübertragung mache es jedem Kriegsberichterstatter möglich, von überall seine Berichte und Bilder in die Welt zu senden. Einerseits könnte heute viel näher frei oder embedded vom Krieg berichtet werden. Andererseits seien die Berichte ständig von Zensurbestimmungen, Lügen, Vereinnahmungen, Falschinformationen bedroht. Obwohl Antonia Rados auf die Frage der Sprache und der Bilder vom Krieg in ihrem Vortrag weniger zu sprechen kam, nannte sie eine ganze Anzahl an Problemen der Kriegsberichterstattung. Dabei wären Bilder und Sprache ein brennendes Problem, das seit alters her die Bildproduktion in Literatur und Architektur wie im Giebelfeld des Portikus der Neuen Wache von Friedrich Schinkel Unter-den-Linden anlässlich der Erinnerung an die Preußischen Befreiungskriege, 1816 und 1818 erbaut, angetrieben hat.

Die Szenen im Giebelfeld des Portikus von Friedrich Schinkels Neuer Wache erinnern an den Krieg und berichten von ihm, indem sie die Schlachtszenen, Kriegsgräuel und verstümmelten Invaliden etc. umgehen. Gleichzeitig unterscheiden sich die Darstellungsmodi augenfällig von den Trophäen auf der barocken Architektur des Zeughauses gleich nebenan. An der simplen Gegenüberstellung der Trophäen auf dem Zeughaus mit dem Schinkelschen Giebelfeld  treten unterschiedliche Bilder vom Krieg hervor. Leiden und Tod kommen im Bilder-Sujet der Trophäen nicht vor. Kinder und Frauen haben im Giebelfeld des Zeughauses nichts zu suchen.

Mit der Kriegspraxis haben sich im Giebelfeld der Neuen Wache auch die Bilder vom Krieg verschoben. Die Preußischen Befreiungskriege mussten auf das Versprechen der Beute, wie es in den Trophäen Bild wird, verzichten. Die Preußischen Befreiungskriege waren mit der Aufstellung einer Armee aus dem Volk einer anderen Erstattung der Kriegsdienste verpflichtet als die der Söldnerarmeen noch des Barock. An die Stelle von Kriegstechnologie und Herrschaftsinsignien als Beute sind aus der griechischen Klassik Bilder des Ruhmes, des Sterbens und der Trauer in die Neue Wache transformiert worden. Zwar werden Lorbeerkränze und die zentrale Siegesgöttin zur Verherrlichung des Sieges im Krieg herbeizitiert, doch Tod und Leiden, sogar ein Kind und eine Frau an einem Einzel-Grabdenkmal, wie es zu jener Zeit von Schinkel entworfen, von der Königlich Preußischen Eisengießerei produziert wird, gehören nun ebenfalls zum Bild-Repertoire vom Krieg.

Medien, Bildtechnologien und Formate bringen immer auch ein anderes Berichten vom Krieg hervor. Das Format Kriegsberichterstattung, wie es im Journalismus des 20. Jahrhunderts im Medium Tageszeitung als massenhaft verbreitete Reportage nicht zuletzt Karriere in der Literatur und Bildkunst von Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1922) „mit dem Bilde des Verfassers“ in Uniform und Kriegsauszeichnungen wie dem Eisernen Kreuz bis zu Ernest Hemingways Kriegsberichterstattungen und Verwicklungen in Kriegshandlungen 1944 machte, hat seinerseits die Modi in Literatur und Bildern verändert. Auch Käthe Kollwitz‘ Skulptur Mutter mit totem Sohn (1937/38), die 1993 für die Neue Wache als Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft vergrößert und neu gegossen wurde, ist ohne das Format Kriegsberichterstattung nicht denkbar.

Kriegsberichterstattung kommt beispielsweise bei dem sechszehnjährigen Kriegsteilnehmer Heinrich von Kleist später sowohl in seinen Dramen wie in seinem Zeitungsprojekt Berliner Abendblätter zur Sprache. Trotzdem ist so gut wie nichts von seinen Zeiten im Krieg überliefert worden. Biographen wie zuletzt Günter Blamberger (2011) und Norbert Bisky (2007) sind auf Rückschlüsse und Vermutungen angewiesen. In Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten thematisiert Kleist das Berichten vom Krieg selbst, indem er einen alten Offizier vom Krieg und dem seltsamen Lauf einer Kugel berichten lässt. Bereits in der Eröffnungssequenz der Berliner Abendblätter im 6. Blatt vom 6. Oktober 1870 platziert der Redakteur Kleist seine Anekdote auf dem letzten preußischen Krieg. 

… Und in dem Augenblick reiten auch die drei Franzosen schon ins Dorf. „Bassa Manelka! Ruft der Kerl, und giebt seinem Pferde die Sporen und sprengt auf sie ein; sprengt, so wahr Gott lebt, auf sie ein, und greift sie, als ob er das ganze Hohenlohische Corps hinter sich hätte an; dergestalt, daß, da die Chasseurs, ungewiß, ob nicht noch mehr Deutsche im Dorf sein mögen, einen Augenblick, wider ihre Gewohnheit, stutzen, er, mein Seel‘, ehe man noch eine Hand umkehrt, alle drei vom Sattel haut, die Pferde, die auf dem Platz herumlaufen, aufgreift, damit bei mir vorbeisprengt, und: „Bassa Teremtetem!“ ruft, und „Sieht er wohl Herr Wirth?“ und „Adies!“ und „auf Wiedersehn!“ und: „hoho! hoho! hoho!“ ─ ─ So einen Kerl, sprach der Wirth, habe ich Zeit meines Lebens nicht gesehen.[1] 

Einerseits verunglückt in der Kriegsberichterstattung Heinrich von Kleists als Anekdote die Interpunktion. Die die wörtliche Rede und damit die Sprechererzähler von einander trennenden Anführungsstriche geraten nach dem Ruf ─ „Bassa Manelka! Ruft der Kerl, und… ─ in Unordnung, was keinesfalls zufällig ist bei Kleist, sondern häufiger vorkommt. Wer berichtet? Wer spricht? Und nach zwei deutlichen Gedankenstrichen folgt ein zweifelhafter Tempus ─ habe ich Zeit meines Lebens nicht gesehen. Wäre hier nicht ein Plusquamperfekt mit hatte statt habe notwendig, um die abgeschlossene Vorvergangenheit zu anzuzeigen? Er hatte den „Kerl“ mittlerweile gesehen. Oder doch nicht?

Insofern die Schlacht der preußisch-sächsischen Armeeabteilung des Prinzen von Hohenlohe am 14. Oktober 1806 bei Jena eine geradezu traumatische Niederlage gegen die französische Armee Napoleons brachte, wird auf dem anderen Schauplatz der Anekdote, einem dörflichen Nebenschauplatz mit äußerster Nähe zum Kriegsschauplatz von einem Sieg erzählt. Ausrufe, Zwischenrufe, Reihungen von Verben, Kommentare bringen einen Kriegsbericht hervor, von dem am Schluss völlig offenbleibt, ob er wirklich vom Krieg berichtet oder einen Wunsch formuliert.

Kleist wirft damit im unsicheren Status der Anekdote ein Schlaglicht auf das Berichten vom Krieg selbst. Mit dem Schauplatz der Kriegsberichterstattung verschiebt sich der Schauplatz der Schlacht auch. Die Nähe im Berichten vom Krieg ist in Kleists Anekdote kein Problem. Sie wird im Bericht sprachlich auf so eindrückliche Weise hergestellt, als sei der Leser selbst dabei. Aber gerade diese sprachlich verfasste Nähe trügt. ─ Mit der Anekdote aus dem letzten Kriege am 20. Oktober, Französisches Exertium das man nachmachen sollte am 22. Oktober von Heinrich von Kleist sowie Kriegsregel von Fouqué kommen 3 weitere Anekdoten auf das Berichten vom Krieg zurück. Während dann formale Kriegsberichte zum Krieg in Spanien 1811 als Bulletins aus anderen Zeitungen für die Berliner Abendblätter übernommen werden.

Antonia Rados beklagte in ihrer Mosse-Lecture insbesondere die fehlende Empathie der Zuschauer, Redakteure und Senderchefs als ein großes Problem der Kriegsberichterstattung. Die Fernsehzuschauer wollen keine Kriegsberichterstattung. Sie interessieren sich nur in kurzen Zeitspannen für die Komplexen und oft verwirrenden Kriegshandlungen mit meistens desaströsen Folgen für die Zivilbevölkerung. Damit eröffnete sie ein weiteres Paradox der Kriegsberichterstattung. Kriegsreporter setzten ihr Leben für die Berichterstattung ein, doch niemand, der nicht parteiisch beteiligt ist, will sie lesen, sehen und/oder hören. „Es gibt keine Empathie für den Krieg“, obwohl immer mehr „Bilder von Leuten, die sterben“ produziert werden, gebe es einen „Mangel an Zusehern“. Das hat zur Folge, dass Programmchefs keine Kriegsreportagen z.B. aus dem Nahen Osten senden wollen. Kriege, Leiden und Probleme zwischen den Lagern geraten aus dem Interesse beispielsweise der deutschen Öffentlichkeit. Trotz Internet gibt es weiterhin so etwas wie unterschiedliche, nationale und regionale Öffentlichkeiten durch Sendeanstalten.

Für den Mangel an Empathie machte Antonia Rados fünf Faktoren verantwortlich, die bei der Kriegsberichterstattung eine Rolle spielten: „Bilderflut“, „Kriegs-Propaganda“, „Voyeurismus“ und „Kultur-Kluft“. Doch vielleicht ist es nicht nur eine Frage der Empathie, die von diesen Faktoren verhindert und bedacht werden sollte. Vielmehr haben der Krieg und die Berichterstattung darüber hinaus auch etwas mit der Schwierigkeit zu tun, wieweit und ob man sich im oder außerhalb des Krieges befindet. Denn genau das spricht ein Problem an, das jenseits von Bilderflut, Kriegs-Propaganda, Voyeurismus  und Kultur-Kluft zutiefst mit der Kriegsberichterstattung verknüpft ist. Eine Kultur-Kluft setzt homogene Kulturen voraus. Die Fragen nach der schwierigen Grenze zum Im-Krieg-sein tangiert die Kriegsreporter selbst.

An mehreren Formulierungen ihrer frei gehaltenen Mosse-Lecture flackerte bei Antonia Rados das Problem des Im-Krieg-seins auf. So sprach sie wiederholt davon, als Kriegsreporterin, den Krieg „aushalten“ oder eben nicht mehr aushalten zu können. Ob und wie sich der Berichterstatter im Krieg befindet oder sich rauszuhalten vermag, um berichten zu können, wird zu einer entscheidenden Frage, die viel mit der Empathie zu tun. Denn genau dies scheint immer wieder zu passieren, dass die Fronten, von denen Rados gestenreich sprach, überhaupt nicht klar verlaufen können. Bespielhaft wird das Verhalten von Ernest Hemmingway, der durch, sollte man sagen, Empathie, 1944 an widerrechtlichen Kampfhandlungen teilnimmt. Aber natürlich auch der Beschuss des Palestine Hotels durch die Amerikaner erinnert daran, wie der Krieg, in dem sich der Kriegsreporter bemüht, nicht zu sein, ständig überspringen kann.

Die Frage der Fronten, die scheinbar so klar als Gegenstand des Wissens mit Die Fronten des 21. Jahrhunderts – Kriegsberichterstattung im Nahen Osten von Rados formuliert wird, ist eine zutiefst ungeklärte. Wo und zwischen welchen Parteien verlaufen denn die Fronten im Nahen Osten, wenn nicht einmal die israelischen Sperranlagen auf brutalstmögliche Weise Grenzen herzustellen vermögen? Ständige Wanderungen, Verschiebungen und Überschreitungen der Fronten oder Grenzen haben den Nahen Osten gerade zu einem Kriegsschauplatz werden lassen, der kaum noch zu überschauen ist. Ständig verschieben sich die Grenzen im Libanon beispielweise und machen ihn von Syrien aus (wieder) zum Kriegsschauplatz. Fronten als Grenzen im Kriegszustand wandern ständig, weil die Nicht-Akzeptanz der Grenzen zum Krieg selbst gehört. Würden Grenzen auf welcher Ebene auch immer akzeptiert, eingehalten, gebe es keinen Krieg.  Paradoxerweise gehört es insbesondere zur Aufgabe von Kriegsreportern, von den sich mehr oder weniger ständig verschiebenden Fronten zu berichten und diese allererst sprachlich zu fassen.

Mit dem Beispiel der Frauen in islamischen Ländern als Sympathieträgerinnen in einem unsympathischen Umfeld  kam Antonia Rados auf eine Grenze und Front zu sprechen, die auch in der anschließenden Diskussion von den Zuhörerinnen wiederholt angesprochen und nachgefragt wurde. Antonia Rados vertritt unter anderem die Meinung, dass Frauen anders als Männer vom Handwerk des Krieges berichten. Ob diese geschlechtliche Verortung des Berichtens und der Sprache, denn darum geht es, sich halten lässt, kann einmal dahingestellt bleiben. Sie führte dann an, dass widererwarten sehr viele Frauen in den Ländern des Arabischen Frühlings islamische oder islamistische Parteien gewählt hätten. Das müsse man zur Kenntnis nehmen und hänge mit der Kultur zusammen. Und schließlich hat sie 2009 für RTL mit der Kriegsreportage Die Taliban und die Frauen und im März 2014 Meine Schwester, meine Feindin – Eine Bauchtänzerin und eine Salafistin in Ägypten das Thema der Frau im Nahen Osten aufgegriffen.     

 

Die Taliban und die Frauen wurde offenbar von FRONTLINES produziert, wie oben links im Bild zu sehen ist. Es ist vermutlich die Produktionsfirma, für die Rados seit längerer Zeit arbeitet. Mit fester Stimme im Off spricht die Kriegsreporterin 2009 in der Eröffnungssequenz davon, wie sie mit dem Kamerateam durch Kabul fährt, wo Selbstmordattentäter der Taliban ständig an unvorhersehbaren Orten Anschläge, also Kriegshandlungen eines nicht genau definierten Krieges verüben. Untermalt wird die Sequenz von einem Bassrhythmus, der an eine höhere Herzschlagfrequenz erinnert. Unvermittelt wird der Wagen mit dem Team von bewaffneten Männern angehalten, auf die Rados furchtlos zugeht. Kontrolleure, Beschützer oder Feinde? Es handelt sich somit um ein Paradox, wenn Fronten oder Frontlines versprochen werden, weil sich die Kriegshandlungen gerade dadurch auszeichnen, dass es keine klaren Fronten, sondern punktuelle Anschläge gibt.

 

Unter den heute üblichen medialen Verknüpfungen eines Lables wie FRONLINES ist nicht ganz unwichtig zu bedenken, dass Frontlines vor allem bekannt ist, als ein Computerspiel gleichen Namens: Frontlines: Fuel of War. Frontlines ist  seit 2008 ein sogenannter Ego-Shooter des Entwicklers KAOS Studios, das bis 2011 produziert wurde. Diese mediale Verknüpfung lässt sich über Google oder andere Suchmaschinen als semantische Überschneidung leicht recherchieren. Die Produktionsfirma für Kriegsreportagen und das Computerspiel, mit dem eine Einzelperson am Bildschirm Krieg spielen kann, überschneiden sich. Entgegen der Frage nach der Empathie könnte sich durch die semantische Überschneidung in Frontlines ein anderes Szenario der Berichterstattung ergeben. Dieses ließe sich als ein Wunsch nach Parteilichkeit und Identität im Krieg formulieren. Anders formuliert: der Kriegsberichterstatter will auch auf der richtigen Seite der Front stehen, was sich immer wieder als höchst schwierig herausstellt.

 

Antonia Rados sprach nicht zuletzt von dem Dilemma zwischen Zweifel und Glauben, mit dem sie als Kriegsreporterin wiederholt konfrontiert worden sei. Seitdem sie die ersten Gerüchte vom Völkermord in Sebrenica 1995 gehört, aber zunächst für unmöglich gehalten hätte und nicht geglaubt hatte, hätte sie sich geschworen, bei ihrer Arbeit fortan alle Gerüchte erst einmal zu glauben. Zweifel und Glauben gehören insofern zur journalistischen Arbeit der Kriegsreporterin, weil man nicht alles glauben darf, was einem erzählt wird. Erst der Zweifel an den Behauptungen und Verlautbarungen ermöglicht eine kritische Arbeit im Krieg. Man muss und sollte den Argumenten der Taliban und ihren Kriegsmeldungen nicht glauben. Doch genau diese Haltung des Zweifels hatte 1995 dazu geführt, dass sie Sebrenica nicht aufsuchte, obwohl sie sich ganz in der Nähe aufgehalten hätte.

 

Doch hilft der Glaube an das Gerücht? Das Gerücht als sprachlicher Modus ohne Urheber, der sich bestätigen ließe, als Vom-Hörensagen, das dem Wissen entgegen gestellt wird, wie bereits die Ausstellung Gerüchte im Museum für Kommunikation 2011 gezeigt hat, wirft den Hörer vehement auf die Sprache selbst zurück. Das Gerücht lässt sich nicht fassen, existiert nicht anders als in der Sprache und kann sich dennoch als wahr erweisen. An ein Gerücht zu glauben, hilft nur bedingt. Immer zeichnet sich in der Arbeit der Kriegsberichterstatter ab, dass sie auf die Ebene der Sprache zurückgeworfen werden. Der eigentliche Krieg, von dem der Kriegsberichterstatter berichten kann und von dem er berichten soll, findet trotz aller Bilderfluten in der Sprache statt. Das erfordert auch einen Glauben an die Sprache. Diese aber wird, wie Rados mit einem Beispiel aus Afghanistan illustrierte, wieder durch die Lüge oder Fehlinformation in Zweifel gezogen. Ihr sei einmal von einem Übersetzer ein Mädchen vorgestellt worden, das am ganzen Körper furchtbare Verbrennungen hatte, die von einem Angriff der Amerikaner auf ein Dorf herrührten. Später habe sich herausgestellt, dass die Verbrennungen von einem Unfall herrührten und der Übersetzer dazu gezwungen worden war, sie als Folge eines amerikanischen Angriffs darzustellen.

 

Die Erstattung eines Berichts ist immer auch befehlsförmiger und kriegerischer Natur. Antonia Rados hat das mit ihrer Mosse-Lecture aufgedeckt. Denn dem Einsatz einer Kriegsreporterin in einem Krisen- oder Kriegsgebiet geht ein Befehl voraus, dem der Sender, die Produktionsfirma oder sie sich gibt. Da musst du jetzt hingehen und davon einen Bericht erstatten. Mit der Erstattung wird auch ein Modus des Ersetzens angesprochen. Denn der Krieg als chaotisches Ereignis ohne Ereignis soll durch den Bericht erstattet, also ersetzt werden. Doch genau in diesem Modus nähert sich der Bericht medial dem Krieg selbst an und wird zu seinem Schauplatz. Das wird mit der Eröffnungssequenz von Die Taliban und die Frauen unüberhörbar und unübersehbar.  

 

Die Art und Weise wie Antonia Rados in ihren Reportagen spricht, unterscheidet sich auch von der, wie sie im Vortrag im Senatssaal der Humboldt-Universität sprach. Das Format der Kriegsreportage hat nicht nur wegen des Krieges und der veränderten Kriegstechnologie einen anderen Sound. Vielmehr gehört der Sound der Reportage auch zur Herstellung des Formats selbst. Über eine feste Stimme, die mit einem Bassrhythmus unterlegt wird, und knappe rhythmische Formulierungen tritt Antonia Rados als Kriegsreporterin selbst in den Krieg ein:  

Morgens, mittags, nachmittags, zu jeder Zeit, auf jeder Straße von Kabul zeigen sie ihre Macht: die Selbstmordattentäter, der Terror der Taliban. Vor einer halben Stunde hörten wir eine Explosion. Laut unseres Übersetzers war sie auf der dicht befahrenen Dschlalabadstraße. Dorthin wollen wir…

Während das Kamerateam, der Übersetzer und die Reporterin unsichtbar in einem Auto eine Straße entlang fahren, erzählt die Stimme im Off, was nicht (!) zu sehen ist. In der kurzen Sequenz gibt es mehrere Schnitte, die die Autofahrt verkürzen, raffen und allererst herstellen. Durch Einstellungswechsel mit den Schnitten wird in den ersten 20 Sekunden gleichzeitig eine Orientierungslosigkeit des Blickens erzeugt. Wo sind wir hier? Woher kommt die Gefahr, wenn die Selbstmordattentäter immer und überall sind? In der Weise wie in der Eröffnungssequenz Sound, Erzählung und Bildregie verkoppelt werden, lässt sich an Heinrich von Kleists Drama Penthesilea erinnern. Kleist setzt dort die Sprache in der sogenannten Teichoskopie oder Mauerschau als Kriegsberichterstattung ein. Die Kampfhandlungen werden einzig und allein sprachlich verfasst und hergestellt, sozusagen in Echtzeit.

Penthesilea zeichnet sich als Dramentext dadurch aus, dass überwiegend vom Krieg zwischen Achilles und Penthesilea, den Griechen und Amazonen berichtet wird, ohne dass die Aktionen auf der Bühne stattfinden. Deshalb ist Penthesilea häufig als „Lesedrama“ bezeichnet worden und wird eher selten aufgeführt. Für die Frage der Kriegsberichterstattung und des Krieges ist die Penthesilea deshalb erhellend, weil das Drama in einer Verwechslung von Sprache und Handlung sowie Versprechen kulminiert. Doch das Versprechen lässt sich nicht mehr zurücknehmen, so sehr es Penthesilea auch versucht und wünscht.   

Penthesilea.        Laßt, laßt!      
   
(sie wickelt sich los, und läßt sich auf Knieen vor der Leiche nieder)      
Du Aermster aller Menschen, du vergiebst mir!  
Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen,      
Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin; 
Doch jetzt sag' ich dir deutlich, wie ichs meinte: 
Dies, du Geliebter, war's, und weiter nichts.      
   
(sie küßt ihn)

In den Mosse-Lectures werden in diesem Semester weitere Frauen und ausschließlich Frauen zum Thema Vom Krieg berichten sprechen. Janine di Giovanni, Elisabeth Bronfen und Carolin Emcke werden eine Mosse-Lecture halten. Am 19. Juni sollte Anja Niedringhaus (Kriegsberichterstatterin) zum Thema Krieg vor der Kamera sprechen. Sie wurde am 4. April 2014 in Afghanistan erschossen. Für und über sie werden an dem Abend Freunde und Kolleginnen sprechen. 

 

Torsten Flüh

 

Nächste Mosse-Lecture: 

Janine di Giovanni 

Autorin und Kriegsreporterin 

Second Thoughts – Life and Work of a War Correspondent 

Donnerstag, 15.05.2014 19 Uhr c.t. 

Unter den Linden 6, Senatssaal   

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[1] Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Berliner Abendblätter 1. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Brandenburger Ausgabe. Bd. II/7. Basel; Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1997. S. 35


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