Der Sinn und das Sexuelle in der Neuen Musik - ultraschall 2018: Zum Abschlusskonzert mit Werken von Nina Senk, Bruno Mantovani, Georg Friedrich Haas und Mark Andre

Gefühl – Neue Musik – Sex 

 

Der Sinn und das Sexuelle in der Neuen Musik 

ultraschall 2018: Zum Abschlusskonzert mit Werken von Nina Ŝenk, Bruno Mantovani, Georg Friedrich Haas und Mark Andre 

 

Wie kommen Sinn, Gefühl und das Sexuelle in der Neuen Musik vor? Das Deutsche Symphonie-Orchester (DSO) unter der Leitung von Evan Christ bot in bester Form das beachtenswerte Abschlusskonzert des „festival(s) für neue musik“ im legendären Großen Sendesaal. Der finale Höhepunkt des Festivals war mit zahlreichen Festivalgästen, Komponisten, Freunden, Radiohörern und Organisatoren gut besucht. Konzentriert Radio zu hören, zählt heute im Zeitalter verkabelter und blinkender Headphones eher zu den kulturellen Randpraktiken. Beim Zuhören im Saal erinnerte Georg Friedrich Haas‘ Konzert für Posaune und Orchester nicht nur an Richard Wagner, vielmehr noch an sexuelle Praktiken, die im Einführungstext von Eckhard Weber angesprochen werden. Das Konzert, die Mitwirkenden und das Festival wurden mit langanhaltendem Schlussapplaus gefeiert.

 

Eckhard Weber schlägt im Programmheft vor, das 2016 uraufgeführte Konzert von Georg Friedrich Haas als „Prozess einer Emanzipation“ zu lesen bzw. zu hören.[1] Die Emanzipation wird demnach als Sinn der Neuen Musik und des Sprechens über Sexualität als BDSM im Kontext des Komponierens formuliert. 2016 hatte Georg Friedrich Haas mit einem Interview in der Ausgabe 3/9 des intellektuellen Pariser Buchprojektes Mémoire Universelle von Benoît Bethume[2], das als Auszug in Deutsch durch die ZEIT veröffentlicht wurde, für Furore gesorgt. Das Buch wird nur durch ausgewählte Buchhandlugen und Modeboutiquen in Frankreich wie Colette in Paris, Belgien, Großbritannien, Italien wie Armani Libri in Mailand, Portugal, USA ausschließlich in New York und Taiwan in Französisch und Englisch verkauft. Der Abdruck in der ZEIT erhielt indessen weltweite Beachtung.  

 

Welchen Sinn macht Neue Musik? Die Sinnfrage taucht auf unterschiedliche Weise in aktuellen Kompositionen diskret oder offensiv auf. Enno Poppe spricht von „Sinn“, der durch „das Zusammenfügen der Trümmer“ einer verstaubten „Rockmusik“ entsteht. Yair Klartag knüpft an die „Langeweile“ bei Martin Heidegger an, die nicht durch Sinn, sondern von uns im „Zeitvertreib“ in den Grundbegriffen der Metaphysik aufgehalten wird. Rebecca Saunders komponiert mit Void den Klang als Leere in Anknüpfung an Samuel Beckett.[3] Und Brigitta Muntendorf weist mit ihren Kompositionen auf Diskurse der Alltagswelt hin, in denen die „Vergänglichkeit“ verdrängt wird, um der Musik mit einer performativen „Vergänglichkeit“ Sinn zu geben.[4] Mark Andre knüpft last but not least in seiner 2017 uraufgeführten Komposition woher … wohin durchaus mit einem Bibel-Zitat aus dem Johannes Evangelium an die Sinnfrage der Herkunft und des Ziels an, um sie in ein Zwischen zu versetzen.

 

Mit dem Abschlusskonzert gibt Evan Christ als Dirigent des DSO seine Visitenkarte ab. Anders als mit dem Imperial March aus The Empire Strikes Back, dem fünften Teil der Star-Wars-Saga, von John Williams, den Evan Christ als Generalmusikdirektor des Philharmonischen Orchesters am Staatstheater Cottbus aufgenommen hat, geht es mit der Neuen Musik von Ŝenk, Mantovani, Haas und Andre um feinste, mikrophonische Klangnuancen. Der junge, 47jährige Dirigent, der in Los Angeles geboren wurde und in Las Vegas aufwuchs, um später in Harvard Mathematik und Komposition zu studieren, bevor er in Leipzig ein Dirigierstudium begann, hat vor allem mit den Aufführungen zeitgenössischer und Neuer Musik am Staatstheater Cottbus auf sich aufmerksam gemacht. Richard Wagners Ring und die Mahler-Sinfonien hat er mit dem Orchester ebenfalls gestemmt. Das Abschlusskonzert dürfte durchaus zu einem Meilenstein seiner internationalen Karriere werden. Christ arbeitete mit dem DSO die so unterschiedlichen feinen und feinsten Nuancen der Kompositionen heraus.

 

Das DSO gehört seinerseits nicht zuletzt wegen des Festivals seit 20 Jahren zu den führenden Orchestern für Neue Musik. Die Stammmusiker kennen die Eigenheiten des Genres wie die oft neuartigen Spielweisen ihrer Instrumente. Nina Ŝenks Echo II (2010)[5] behandelt das Thema des Echos natürlich anders als Claudio Monteverdi in seiner Marienvesper, wenn der Himmel bzw. Gott dem Betenden auf die Bitte „Audi coelum, verba mea, plena desiderio et perfuse gaudio“ mit „… audio“, ich höre, antwortet.[6] Das betende Subjekt wird im Echoeffekt – „audio“ auf „gaudio“ – erhört und bekommt eine Antwort. Die minimale phonetische Verschiebung durch den Wegfall des Konsonanten in der Wiederholung generiert Sinn. Echo II wurde von Evan Christ 2010 mit dem Philharmonischen Orchester des Staatstheaters Cottbus uraufgeführt.

 

Zu Echo II ist Nina Ŝenk durch eine Kurzgeschichte von Michael Ende aus dem Band Der Spiegel im Spiegel (1982) angeregt worden. Verzeih mir, ich kann nicht lauter sprechen thematisiert schon im Titel die akustische Ebene der Lautstärke und das Subjekt, das „nicht lauter sprechen“, sich kaum zu Gehör bringen kann. Ŝenk hat an der Kurzgeschichte vor allem das Echo und das labyrinthisch umherirrende Subjekt Hor interessiert. Hor, der sich selbst seinen Namen gegeben hat, weiß nicht, wer oder was er ist. Während sich das Subjekt bei Monteverdi im Echo bestätigt findet, bekommt das Subjekt, das bei Michael Ende an den Mythos des Minotaurus im Labyrinth anknüpft, einen unsicheren Status. Bei Ŝenk wird das Echo niemals distinkt oder verständlich. Es bleit eher leise. Es lebt diskret in der „großen Trommel“, doch wird verschieden bearbeitet, wie sie schreibt. 

Hauptelemente in meiner Komposition sind verschiedene Bearbeitungen des Echos (direkt und indirekt) und ein rhythmisches Muster in der großen Trommel, das den Herzschlag darstellt und die Verwundbarkeit des Lebens symbolisiert.[7]

 

Niemand geringeres als Yannick Nézet-Séguin hat im Februar 2016 mit dem Rotterdams Philharmonisch Orkest und der Solistin Juliette Hurel Bruno Mantovanis Love Songs (2015) uraufgeführt.[8] Nun spielte diese das DSO unter Evan Christ mit Mugali Mosnier (Flöte). Die Neue Musik gehört heute zu den Musikgenres, die für eine internationale Karriere unverzichtbar sind. Mit Yannick Nézet-Séguin wurde das Rotterdamer Orchester zu einem vielgerühmten. Mittlerweile ist er designierter Generalmusikdirektor der MET in New York und dirigierte im Oktober 2017 Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms mit den Berliner Philharmonikern.[9] Love Songs knüpft an die populäre Musik von Annunzio Mantovani an, der mit seinem Orchester in den 50er Jahren einen eigenen, höchst erfolgreichen und populären Stil der Cascading Strings prägte. Mit dem Moulin Rouge Thema aus der Verfilmung von John Houston (1952) und Charmaine als Singles 1954 auf Platz 1 in Deutschland, aber auch mit Elisabethserrenade (1952) und Moon River (1962) wurde der instrumentale Mantovani-Sound zum Inbegriff von Romantik, Amerika und Mondschein.

 
© Karo Krämer

Die nach Legion klingenden satten Streichen produzierten bei Mantovani in den 50er bis 70er Jahren den Sound von Größe und kollektiver Vereinigung, der ihn zum „one of the most successful easy listening artists ever“ machte.[10] Noch 1939 spielte „Mantovani and his famous Radio Orchestra“ für British Pathé in kleiner Besetzung als Begleitung für Stella Roberta und Jack Plant.[11] In den 50er Jahren wurde die Melodie durch eigene Instrumental-Arrangements in den dominierenden Streichern im neuen Stereoton zur Chiffre einer geheilten und vereinigten Welt im Gefühl. Annunzio Mantovani schaffte es 1954 sogar gitarrespielend in das deutsche „Filmlustspiel“ Gitarren der Liebe mit Vico Torriani. Italiensehnsucht und die Versprechen auf Harmonie, Glück und Liebe wurden zu seinem Markenzeichen.  

 

Der 1974 geborene Komponist Bruno Mantovani sah sich von der zufälligen Namensgleichheit herausgefordert, so dass er die vermeintlichen Liebeslieder der Cascading Strings zum Thema machte. Die Romantic Melodies und Waltzing with Mantovani kehrten auf Langspielplatten bzw. Alben instrumental quasi endlos wieder. Der Komponist vom Pariser Konservatorium entschied sich, das populär-musikalische Phänomen der Arrangements von Annunzio Mantovani für Streichorchester und Gefühl zum Thema eines Konzerts für „Flöte und Orchester“ zu machen. Damit dreht Bruno Mantovani quasi das Prinzip der Cascading-Stings-Arrangements um. Statt hintereinander arrangierten Streichern setzt nun die einzelne Flöte ein.

 

Kaum hörbar mit erweiterter Spieltechnik setzt die Flöte wie ein Atmen zu Beginn ein. Statt überwältigender Streichermaschine erklingt bei Bruno Mantovani zunächst die kaum hörbare Einzelstimme der Flöte, noch bevor sie als Stimme wahrgenommen werden könnte. Auch erinnert die Spielweise der Flöte eher an fernöstliches Flötenspiel etwa in der japanischen, chinesischen[12] oder koreanischen Musik bei Ysang Yun.[13] Statt „easy listening“ erfordert Bruno Mantovanis Komposition ein konzentriertes, kammermusikalisches Spielen und ein Hinhören. 

Ich habe keine verwandtschaftliche Verbindung mit dem Vater des Easy Listening, aber diese Namensgleichheit gab mir immer das Gefühl einer gewissen Zuneigung gegenüber dem Künstler, der den Gegensatz zu meinen eigenen ästhetischen Überzeugungen darstellt.[14]    


© Karo Krämer 

Seit 2010 ist Bruno Mantovani Direktor des Pariser Konservatoriums. Das Gefühl spielt in den neuen Love Songs durchaus eine Rolle. Statt überwältigender Dominanz der Streicher treten sie in ein eher gleichwertiges Verhältnis zur Soloflöte. Statt eingängiger Melodienwiederholung entstehen Echoeffekte. Die Echos machen keinen distinkten Sinn und führen noch keine Kommunikation aus. Die Zartheit der Töne lässt das Gefühl zwischen Sinn und Sinnlichkeit eher in einer Schwebe. Das Flötenspiel hält sich an einer Grenze zum Sprechen, während Streicher und Schlagzeug im Ostinato geradezu gegen die leise, zarte Einzelstimme der Flöte angehen. Das Orchester und die Soloflöte verhalten sich fast disharmonisch und doch sinnlich. Bruno Mantovani hat das Stück auch „als Hommage an die Süße seiner (Annunzio Mantovanis, T.F.) Klänge“[15] komponiert. Doch die Süße und Zerbrechlichkeit verlagert sich vor allem in die Einzelstimme der Flöte.

Georg Friedrich Haas gehört nach „Jahre(n) seiner „totalen Erfolglosigkeit““[16] zu den produktivsten, erfolgreichsten und meistgespielten Komponisten der Neuen Musik. Beim Musikfest 2014 wurde sein concerto grosso Nr. 1 für vier Alpenhörner und großes Orchester aufgeführt.[17] Das traditionelle und folkloristische Alpenhorn wurde quasi denaturalisiert. Evan Christ dirigierte nun das Konzert für Posaune und Orchester mit dem Posaunisten Mike Svoboda, für den Haas es auch komponiert hat. Mike Svoboda ist als Posaunist selbst eine Legende der Neuen Musik. Er arbeitete elf Jahre lang mit Karlheinz Stockhausen zusammen und realisierte mit seinem Instrument mehr als 400 Uraufführungen. Am 16. Oktober 2016 spielte er mit dem SWR Symphonieorchester die Uraufführung bei den Donaueschinger Musiktagen.[18] Am 27. Oktober erschien das Haas-Interview von Cordula Reyer in der ZEIT und erhielt 27 teilweise despektierliche, dumme Kommentare von anonymisierten Kommentatoren. Gleich in der Eröffnungssequenz stellt Haas einen autobiographischen Kontext zur „Dunkelheit (s)einer Musik“ her.[19]     


© Karo Krämer 

Der Rahmen für das Konzert für Posaune und Orchester, in dem es eher dunkle, wagnerianische Schattierungen gibt, ist gleichfalls ein, um es einmal so zu formulieren, mehrfach in sich gebrochener. Er ist privat wie universell, intim wie öffentlich, technisch wie emotional, individuell wie gesellschaftlich, politisch wie persönlich. Die Komposition geht keinesfalls in der autobiographischen Erzählung auf. Vielmehr spielt Mike Svoboda mit seiner Posaune eine ebenso wichtige Rolle. Haas weiß sehr genau, für welches Instrument und für welchen Solisten er das Stück komponiert. Durch die langjährige Arbeit mit Stockhausen wie beispielsweise für die Uraufführung von Signale zur Invasion „für Posaune und optional Elektronische Musik, Klangregelung“, die am 25. April 1993 „Michael Svoboda“ spielte, beherrscht er die Möglichkeiten der ausgeweiteten Spielweisen. Stockhausen erforschte mit seinen Musikern und Kompositionen immer auch die Spiel- und Klangmöglichkeiten der Instrumente.[20]

Die gerade von Stockhausen beim Musikmachen herrührende Rationalität schätzt Haas an Svoboda, um doch mit der Melodie um das Gefühl in der Musik zu ringen. Denn das Gefühl funktioniert nicht rational. Es ist nicht berechenbar, vielmehr braucht es eine Freiheit zur Irrationalität. Einerseits verzichtet Haas in seiner Komposition nun gerade auf die „Erforschung neuerer Spieltechniken“.[21] Andererseits lobt Haas die „Klangschönheit seines Spiels und die klare Rationalität seines Denkens“, um dann doch „Vierteltonschattierungen“ und „mikrotonale Melodieschritte“ einzusetzen. Er wünscht sich gar einen „singende(n) Schluss“, der sinnlich und nicht rational ausfällt. 

Wie in vielen meiner Werke arbeite ich auch hier mit kontrastierenden Abschnitten: ein tonales Harmoniezität (mit Vierteltonschattierungen) am Anfang, ein expressiver, an emotional aufgeladenen Sprachmelodien orientierter Mittelteil (der zu einer ausgedehnten Klimax führt) – und ein in engen mikrotonalen Melodieschritten singender Schluss.[22]    

 

Haas gibt im Interview in der ZEIT, das ursprünglich für die Ausgabe Never say Goodbye (2016) der Mémoire Universelle entstanden war, zwei Gründe für „die Dunkelheit seiner Musik“ an. Die „Gründe“ werden indessen vom Buchprojekt als Rahmen vorgegeben. Mémoire Universelle erscheint alle zwei Jahre und hat es sich zur Aufgabe gemacht, in einem Zeitraum von 18 Jahren neun Bände den „idiosyncrasies of private individuals meet the universylity of shared feelings and ideas“ zu veröffentlichen.[23]  Jeder Band soll „peculiar human behaviors and feelings, and the ways they are translated in various vernacular and artistic forms“ erkunden. Insofern wurde das Interview mit einer ebenso intellektuellen, eigentümlichen Geste veröffentlicht. Denn das Private in den sexuellen Wünschen und Vorlieben von Georg Friedrich Haas wird gleichsam für die Kunst universell relevant. Das privat Intime wird gerade im Buchkonzept von Mémoire Universelle zum politisch Künstlerischen. 

Für die Dunkelheit meiner Musik gibt es zwei andere, sehr konkrete Gründe. Aus Scham habe ich jahrzehntelang darüber geschwiegen. Erst jetzt, da ich in New York ein in jeder Hinsicht völlig neues Leben führe, bin ich imstande, darüber zu reden. Der erste Grund wird seit meinem Coming-out Anfang des Jahres relativ häufig diskutiert: Ich habe eine sadomasochistische sexuelle Neigung, die ich 40 Jahre lang bekämpft habe. Das heißt, ich habe 40 Jahre lang in Scham gelebt, in dem Gefühl, ich bin ein schlechter Mensch, ich muss mich bessern. Ich habe verzweifelt versucht, mich zu ändern, und hatte gleichzeitig die Gewissheit, dass ich niemals ein wirklich glückliches sexuelles Leben führen kann, da ich mir meine Neigung nicht eingestanden habe.[24]


© Karo Krämer 

Der Sadomasochismus als sexuelle Praxis wird von Haas als ebenso schambesetzt wie befreiend formuliert. Doch die „Dunkelheit“ in seiner Musik lässt sich nicht einfach mit der „Scham“ in Deckung bringen. Die Dunkelheit ist nicht das Zeichen für die Scham. Vielmehr geht es im Sadomasochismus um ein besonders vertracktes Verhältnis von Dominanz. In vulgärer Weise wird landläufig angenommen, dass es beispielsweise ums pure, möglicherweise brutale Schlagen geht. Doch daraus entsteht kein „glückliches sexuelles Leben“. Vielmehr, und eben diese Ebene lässt sich im Konzert für Posaune und Orchester hören, geht es um, ebenso konzentrierte Praktiken der Verzögerung, Spannung und Entspannung, die durch Dominanz des sadistisch Agierenden geregelt werden. Die Dominanz läuft im Kopf ab, um die Lust zu steigern. Als Quickie funktionieren derartige Praktiken kaum. Das Mikrotonale in Haas‘ Musik lässt sich nicht zuletzt als eine Darstellungsweise von Sinn und Sensibilität formulieren. Stumpfe Brutalität funktioniert in der von Haas angeführten BDSM-Szene kaum oder eher unfallweise.

Man kann es einmal so formulieren, das Konzert für Posaune und Orchester, obwohl mit 20 Minuten relativ kurz für eine Session, dürfte zwischen Transzendenz und Sinnlichkeit ziemlich gut funktionieren als Begleitmusik. Die Anklänge an das Lohengrin-Vorspiel von Richard Wagner sind geradezu wohlbegründet. In der Musik Richard Wagners zwischen dem Fliegenden Holländer, Ring, Tristan und Isolde sowie Parsifal geht es unablässig um eine nicht nur lustvolle, sondern sadomasochistische Vermischung von Sinn und Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit soll beim erotomanen Wagner immer auch Sinn generieren und vergeht dann doch im nicht Nichts des flüchtig Sinnlichen.[25] Die Transzendenz von Isoldes Liebestodes im Tristan ist eben auch eine außerordentlich lustvolle. Haas geht es mit seiner Musik und dem Sinnlichen oder auch „Gefühl“ um Freiheit, einen radikalen Liberalismus, der das Sexuelle nicht verdrängt, was als emanzipatorische Geste gehört werden kann. Gleichzeitig wendet sich die zur Sprache gebrachte Sexualität, gegen die rational durchsexualisierte Ästhetik des Nationalsozialismus bei Haas. Die sexualisierte Ästhetik des Nationalsozialismus bzw. der Nazis verdrängt das Sexuelle, um es politisch nutzen und kontrollieren zu können. Davon erzählt Georg Friedrich Haas familienhistorisch und autobiographisch. 

Man kann Schönberg verehren und ein Nazi sein. Das geht. Aber nicht Cage. John Cage ist ein Komponist, für den der Freiheitsbegriff existenziell ist, der mit dem Zufall und mit der Liebe zum Zufall operiert. Cage sagt: "Wenn ein Stück von mir gespielt wird, und ich erkenne es nicht wieder, dann spricht das für mich." Wenn man diese Welt betritt, die Welt der non-intentional music, die zulässt und nicht einengt, die umarmt, was klingt, dann lässt sich das nicht mit den reaktionären Anschauungen meines Elternhauses vereinen.[26]

 

Mark Andre zum Abschluss des Konzertes mit woher … wohin (2017) aufzuführen, stellte noch einmal höchste Anforderungen an das DSO. Ist der Komponist „tief religiös“ oder ein Philosoph der Klänge und der Musik? Vor allem sträubt sich Mark Andre, über seine Musik zu sprechen. Was er sagen möchte, soll in seiner Musik hörbar werden. Die Transzendenz kommt bei Mark Andre anders vor als bei Haas und Wagner. woher … wohin stellt in der Tat die Ursprungs- und Zielfrage mit dem Wind. Der religiöse Gläubige stellt sich die Frage nicht, denn er weiß, woher er kommt und wohin er geht. Die Religion als Corpus und Codex unterschiedlichster Erzählungen gibt die alleinige Antwort. Die extremste Handlungsweise wählt für seinen Glauben der Märtyrer, ein Selbstmordattentäter. Denn er weiß, wohin er oder sie geht. Die Transzendenz wird bei Mark Andre zu einer wirklichen Fragestellung. Und dafür hakt er in das Johannes-Evangelium ein. Im „Gespräch mit Nikodemus in Jerusalem“ lautet bei Johannes 3, 8 die Formulierung: „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Die parabelartige Formulierung beantwortet Nikodemus‘ Frage an Jesus „Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Kann er etwa in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und noch einmal geboren werden?“

 

Andre nimmt sozusagen den Wind wörtlich und komponiert zunächst entschieden, äußerst feinsinnig Wind. Der Wind hat keinen Ort im Orchester.[27] Es geht weniger um eine akustische Darstellung von Wind, für die etwa bei Jean Philipp Rameau im 18. Jahrhundert in Les Boréades eine Windmaschine im Orchester vorgesehen war.[28] Bei Rameau lässt sich der Wind in der Windmaschine lokalisieren. Doch Wind ist immer in Bewegung. In der klassischen Konzertliteratur kommt Wind auf unterschiedliche, aber meist doch recht konkrete Weise vor. Bei Mark Andre geht es mit dem Wind mehr um Schwellen zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem, um „Zwischenstadien und Zwischenräume“, wie es Eckhard Weber formuliert hat.[29] Der Wind im Orchester wird äußerst nuancenreich. Überall im Orchester passiert sozusagen Wind auf sehr unterschiedliche Weise. Der Wind reicht vom Pfeifen und Atmen bis zum feinen Ziepen und einen Gong. In einem Zwischenbereich von Geist und Wind entstehen unablässig verschiedene Klänge. Das fasziniert und lässt die Frage nach dem woher … wohin durchaus offen. 

 

Torsten Flüh 

 

PS: Das Abschusskonzert wurde Live auf Deutschlandfunk Kultur und am 4. Februar 2018 im kulturradio vom rbb gesendet. Weitere Sendetermine sind nicht vorgesehen. Doch alle Musikstücke lassen sich in den Fußnoten bei soundcloud oder YouTube finden und hören.

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[1] Eckhard Weber: Georg Friedrich Haas: Konzert für Posaune und Orchester. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall Berlin 2018. Berlin, 2018, S. 120.

[3] Siehe zu Enno Poppe, Yair Klartag und Rebecca Saunders bei ultraschall 2018: Torsten Flüh: Neuer Rock und Klangzauber. ultraschall 2018: Ensemble Nikel rockt und das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin dreht an der Klangspirale. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Februar 2018 22:04.

[4] Siehe dazu: Das Flüchtige erinnern. ultraschall Berlin 2018: GrauSchumacher Piano Duo spielt Brigitta Muntendorf etc. und LUX:NM: bringt 6 Uraufführungen im Heimathafen Neukölln. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Februar 2018 20:18.

[6] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Strahlendes Antrittskonzert mit dem Geheimnis der Musik. Justin Doyle bringt Monteverdis Marienvesper mit dem RIAS Kammerchor und der Capella de la Torre zum Strahlen. In NIGHT OUT @ BERLIN 18. September 2017 18:53.

[7] Nina Ŝenk zitiert nach: Eckhard Weber: Nina Ŝenk: Echo II. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall … [wie Anm. 1] S. 118.

[8] Bruno Mantovani: Love Songs (2015) Juliette Hurel, flute, Rotterdams Philharmonisch Orkest, Yannick Nézet-Séguin, World premiere, 26 February 2016, Doelen, Rotterdam (YouTube)

[9] Siehe auch: Torsten Flüh: Tschechische Klassik neu formatiert. Yannick Nézet-Séguins und Lisa Batiashvilis höchst bemerkenswertes Waldbühnenkonzert mit den Berliner Philharmonikern. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Juli 2016 20:48.

[10] Mantovani The King Of Strings (2014) Trailer (YouTube)

[11] Mantovani (1939) (YouTube)

[12] Siehe zur chinesischen Flöte: Torsten Flüh: Zwischenspiele und Austausch in der Musik. Friedrich der Große, China und die Musik in der Kapelle des Schlosses Charlottenburg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Dezember 2012 22:20.

[13] Siehe zur koreanischen Flöte: Torsten Flüh: Isang Yuns Weltmusik der Haltung. Zum 100. Geburtstag des Komponisten Isang Yun beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. September 2017 18:23.

[14] Bruno Mantovani zitiert nach: Eckhard Weber: Bruno Mantovani: Love Songs. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall … [wie Anm. 1] S. 119. 

[15] Ebenda.

[16] Georg Friedrich Haas in Georg Friedrich Haas Biographie (Universal Edition)

[17] Siehe auch: Torsten Flüh: Der Schweizer Naturton aus der Südsee. Neue Musik mit Alphörnern und dem Ensemblekollektiv Berlin beim Musikfest 2014. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. September 2014 21:02. 

[18] Siehe SWR Classic: Georg Friedrich Haas: Konzert für Posaune und Orchester | Mike Svoboda | SWR Symphonieorchester (YouTube)

[19] Georg Friedrich Haas: „Scham ja, Schuld sein“ Interview: Cordula Reyer. In: Die Zeit 27. Oktober 2016, 3:07 Uhr / Editiert am 8. November 2016, 15:02 Uhr.

[20] Signale zur Invasion gehört nicht zuletzt zum größeren Werkrahmen von Dienstag aus Licht aus Michaels Reise um die Erde von Karlheinz Stockhausen. Siehe Liste der Werke von Karlheinz Stockhausen und Torsten Flüh: Reisen und Transit. Zu Michaels Reise um die Erde und Orfeo beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2015 21:42.  

[21] Georg Friedrich Haas zitiert nach Eckhard Weber: Georg … [wie Anm. 1].

[22] Ebenda.

[23] Benoît Bethume: Introduction. (Website)

[24] Georg Friedrich Haas: „Scham …“ [wie Anm. 19].

[25] Siehe dazu: Torsten Flüh: Nicht fürs Wohnzimmer. Sir Simon Rattle dirigiert Tristan und Isolde konzertant mit den Berliner Philharmonikern sensationell radikal. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. April 2016 22:38.

[26] Georg Friedrich Haas: „Scham …“ [wie Anm. 19].

[27] Mark Andre - Woher...wohin (for orchestra) (2017) (Aufnahme vom 21. Januar 2018) (YouTube)

[28] Siehe Torsten Flüh: Silvesterstimmung. Das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle mit Cecilia Bartoli. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Januar 2013 20:10.

[29] Eckhard Weber: Mark Andre: woher … wohin. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall … [wie Anm. 1] S. 121.

Man kann es einmal so formulieren, das Konzert für Posaune und Orchester, obwohl mit 20 Minuten relativ kurz für eine Session, dürfte zwischen Transzendenz und Sinnlichkeit ziemlich gut funktionieren als Begleitmusik. Die Anklänge an das Lohengrin-Vorspiel von Richard Wagner sind geradezu wohlbegründet. In der Musik Richard Wagners zwischen dem Fliegenden Holländer, Ring, Tristan und Isolde sowie Parsifal geht es unablässig um eine nicht nur lustvolle, sondern sadomasochistische Vermischung von Sinn und Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit soll beim erotomanen Wagner immer auch Sinn generieren und vergeht dann doch im nicht Nichts des flüchtig Sinnlichen.[25] Die Transzendenz von Isoldes Liebestodes im Tristan ist eben auch eine außerordentlich lustvolle. Haas geht es mit seiner Musik und dem Sinnlichen oder auch „Gefühl“ um Freiheit, einen radikalen Liberalismus, der das Sexuelle nicht verdrängt, was als emanzipatorische Geste gehört werden kann. Gleichzeitig wendet sich die zur Sprache gebrachte Sexualität, gegen die rational durchsexualisierte Ästhetik des Nationalsozialismus bei Haas. Die sexualisierte Ästhetik des Nationalsozialismus verdrängt das Sexuelle, um es politisch nutzen und kontrollieren zu können. Davon erzählt Georg Friedrich Haas familienhistorisch und autobiographisch.

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