Schrecken der Nachträglichkeit und Zeitgespür - Zur Berliner Aufführung von Die Stadt ohne Juden (1924) mit Musik von Olga Neuwirth

Roman – Antisemitismus – Pogrom

 

Schrecken der Nachträglichkeit und Zeitgespür 

Zur Berliner Aufführung von Die Stadt ohne Juden (1924) mit Musik von Olga Neuwirth 

 

Wien – Berlin: Der Journalist und Romanautor Hugo Bettauer nennt 1922 in seinem „Roman von übermorgen“ bereits im zweiten Satz Wien als Schauplatz. Im Rahmen von MaerzMusik, festival für zeitfragen, beginnt Josef Bierbichler die Lesung mit der Rede des Bundeskanzlers Dr. Schwertfeger vor dem Parlamentsgebäude. Bierbichler liest, man könnte sagen, bodenständig. Doch als er liest, weiß das Publikum noch nicht, dass es ein Text von 1922 ist. Schwertfegers Rede klingt, als hielte ein Herr Gauland oder ein Herr Meuthen oder eben die entsprechenden Herren in der aktuellen Regierung des wunderschönen – „Felix Austria“ – Alpenlandes sie.

Die Sprache und die Argumentation der Antisemiten haben sich auf gespenstische Weise nicht geändert, wenn es darum geht, Menschen, Bürger gar, auszugrenzen und zu vertreiben. Sie gleichen buchstäblich denen der Identitären Bewegung eines Martin Sellner aus Wien, von dem jetzt bekannt geworden sein soll, dass er als Jugendlicher Hakenkreuze an eine Synagoge geklebt habe. Es wird eine Bedrohung eines genuinen Volks konstruiert, das es so niemals gegeben hat. Schwertfeger lobt die Juden erst, um dann die Notwendigkeit ihrer Vertreibung zu rechtfertigen. Der „Roman von übermorgen“ klingt gefährlich nah. Josef Bierbichler verstärkt den Schrecken durch seine Glaubwürdigkeit. Die Lesung aus dem Roman von Bierbichler und Samuel Finzi rückt den Film Die Stadt ohne Juden von 1924 unangenehm nah an aktuelle politische Redeweisen.  

Die Lesung und die Filmvorführung mit neuer hochsensibler Musik von Olga Neuwirth für Die Stadt ohne Juden im Haus der Berliner Festspiele wirken gespenstisch. Das Gespenst des Antisemitismus wechselt seine Erscheinungsformen. Der Wiener Martin Sellner, Co-„Leiter“ der Identitären Bewegung Österreich sieht sogar ganz hübsch aus und kann sich durchaus artikulieren, obschon extrem schräg. Man braucht nicht all zu viel Fantasie, um im Islamhass des Massenmörders von Christchurch Strukturen des Antisemitismus zu erkennen. In beiden Fällen speist sich der Hass aus Fantasien der Selbst-Reinigung. Und das wird mit den ersten Sätzen der Rede von Schwertfeger klar. Der 1924 von Hans Karl Breslauer in Wien verfilmte Roman wird in ein vages „Utopia“ verlegt. Doch die antisemitischen Narrative glichen und gleichen sich in Wien wie in Berlin.


© Camille Blake

Das christlich-europäische Gespenst des Antisemitismus oder Judenhasses mündete seit der frühen Neuzeit wiederholt in Pogrome. Insofern ist Hugo Bettauers „Roman von übermorgen“ zugleich einer von vorgestern. Beispielsweise ist der Frankfurter Fettmilch-Aufstand von 1614 gut dokumentiert und wurde bereits seit 1890 von J. Kracauer in der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland aufgearbeitet.[1] Er wurde vor allem deshalb gut dokumentiert, weil es zu einem kaiserlichen Prozess gegen die aufständischen Frankfurter unter der Führung des Lebkuchenbäckers Vinzenz Fettmilch kam. Die Untersuchungen der „Kaiserlichen Commission“ umfassten über „90 Foliobände“, wie Kracauer angibt.[2] Am 23. August 1614 wurde zunächst die Frankfurter Judengasse angegriffen, zerstört und geplündert, woraufhin 1380 Juden die Stadt verlassen mussten. Nach einem langwierigen Prozess wurden Fettmilch und seine Handwerkskumpane am 28. Februar 1616 hingerichtet und die Juden feierlich in die Judengasse zurückgeführt.


© Camille Blake

Diesen groben Verlauf des Fettmilch-Aufstandes vorauszuschicken, erscheint notwendig, weil der vermeintliche „Roman von übermorgen“ geradewegs dem gleichen Pogromablauf folgt. Die Frankfurter Juden, und das konnte Hugo Bettauer durch kursierende Erzählungen wissen, feiern noch heute am 28. Februar das Freudenfest Purim Vinz. In modifizierter Weise hatte sich allerdings um 1920 ein Antisemitismus in Wien verbreitet, der eine Wiederholung der Vertreibung der Juden denkbar machte. In gewisser Weise bekam die „alte“ Geschichte bei Hugo Bettauer und in der Verfilmung von Breslauer nun einen satirischen Zug. Breslauer lässt Wien durchschimmern. Doch eigentlich geht es um die Argumentationsmuster für Pogrome, wie sie seit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit den Juden immer wieder widerfahren sind. Erst im Nachhinein erhält Die Stadt ohne Juden gänzlich ohne satirischen Unterton eine prophetische Dimension.

Sonst pflegten bei ähnlichen Demonstrationen hier und dort Leute mit gebogener Nase oder besonders schwarzem Haar weidlich verprügelt zu werden; diesmal kam es zu keinem solchen Zwischenfall, denn Jüdisches war weit und breit nicht zu sehen, und zudem hatten die Kaffeehäuser und Bankgeschäfte am Franzens- und Schottenring, in weiser Erkenntnis aller Möglichkeiten, ihre Pforten geschlossen und die Rollbalken herabgezogen.[3]


© Camille Blake

Das Theater, der Roman und der Film erhielten eine enorme „öffentliche Bedeutung“, wie Hannah Arendt bereits 1951 in der Originalausgabe von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft unter dem Titel The Burden of Our Time formulierte. Das „Theater selbst wurde zum Mittelpunkt des nationalen Lebens“ und des Antisemitismus bzw. dessen Darstellung. Eine „Institution, deren öffentliche Bedeutung sicherlich größer war als die des Parlaments. Die theatralische Qualität der politischen Welt war so offensichtlich, dass das Theater als Bereich der Realität erscheinen konnte“.[4] Die darstellenden Künste übertreffen insofern die Politik im Parlament an Realität. Es ist dieses Verhältnis von Roman und Film zum Parlament, das von Hugo Bettauer als Journalisten, Romanautor und Erotikpublizist praktiziert und in einem Maße mit Die Stadt ohne Juden nutzt, dass er schließlich von einem nationalsozialistischen Attentäter tödlich angeschossen wird.  

 

Den Bundeskanzler Dr. Schwertfeger, wie Josef Bierbichler, ihn las, könnte man fast als Inkarnation des Anstandes bezeichnen. Der leicht satirische Unterton verschwindet, insofern er heute erneut von der Neuen Rechten als Wahrheit ausgeübt wird. Der und das Andere wird mit der Rhetorik des Anstandes zum Volksfeind erklärt. In dieser Rhetorik des Anstandes lässt sich der Antisemitismus mühelos durch einen Islamhass ersetzen. Hugo Bettauer zeigt sich als ein äußerst genauer Beobachter und Rhetoriker, wenn er die Rede Schwertfegers auf folgende Weise beginnen lässt.

»Verehrte Damen und Herren! Ich lege Ihnen jenes Gesetz und jene Änderungen unserer Bundesverfassung vor, die gemeinsam nichts weniger bezwecken, als die Ausweisung der nichtarischen, deutlicher gesagt, der jüdischen Bevölkerung aus Österreich. Bevor ich das tue, möchte ich aber einige rein persönliche Bemerkungen machen.
Seit fünf Jahren bin ich der Führer der christlichsozialen Partei, seit einem Jahr durch den Willen der überwiegenden Mehrheit dieses Hauses Bundeskanzler. Und durch diese fünf Jahre hindurch haben mich die sogenannten liberalen Blätter wie die sozialdemokratischen, mit einem Wort alle von Juden geschriebenen Zeitungen, als eine Art Popanz dargestellt, als einen wütenden Judenfeind, als einen fanatischen Hasser des Judentums und der Juden. Nun, gerade heute, wo die Macht dieser Presse ihrem unwiderruflichen Ende entgegengeht, drängt es mich, zu erklären, daß das alles nicht so ist. Ja, ich habe den Mut, heute von dieser Tribüne aus zu sagen, daß ich viel eher Judenfreund als Judenfeind bin!«[5]


© Camille Blake

Schwertfeger erweist sich so sehr als ein Meister der Rhetorik, dass sich in der Islamdebatte Ähnlichkeiten mit bayrisch „christlichsozialen“ Politikern der Gegenwart kaum überhören lassen. Politik ist immer Rhetorik und umgekehrt. Auch die karnevalistischen Rhetorikübungen der neuen Bundesvorsitzenden der Christlich Demokratischen Union folgen fast der gleichen Praxis. Im Karneval kann man es wenigstens einmal ausprobieren, ob man die Genderdebatte und das Gender-Sternchen* nicht wieder abschaffen sollte. Ganz gewiss wäre die bio-logische Frau, wenn es darauf ankommt, eine Freundin der Trans- und Intermenschen. Aber mit den Toiletten sollte es doch nicht zu weit gehen. Hugo Bettauer hatte als Journalist und Romanautor offenbar ein ziemlich genaues Gespür für die politische Rhetorik. Denn zum Judenfreund erklärt sich Schwertfeger nur, um sogleich deren Ausweisung zu rechtfertigen und als Gesetz zu verabschieden.

 »Trotzdem, ja gerade deshalb wuchs im Laufe der Jahre in mir immer mehr und stärker die Überzeugung, daß wir Nichtjuden nicht länger mit, unter und neben den Juden leben können, daß es entweder Biegen oder Brechen heißt, daß wir entweder uns, unsere christliche Art, unser Wesen und Sein oder aber die Juden aufgeben müssen. Verehrtes Haus! Die Sache ist einfach die, daß wir österreichische Arier den Juden nicht gewachsen sind, daß wir von einer kleinen Minderheit beherrscht, unterdrückt, vergewaltigt werden, weil eben diese Minderheit Eigenschaften besitzt, die uns fehlen! Die Romanen, die Angelsachsen, der Yankee, ja sogar der Norddeutsche wie der Schwabe -- sie alle können die Juden verdauen, weil sie an Agilität, Zähigkeit, Geschäftssinn und Energie den Juden gleichen, oft sie sogar übertreffen. Wir aber können sie nicht verdauen, uns bleiben sie Fremdkörper, die unsern Leib überwuchern und uns schließlich versklaven…«[6]  


© Camille Blake

Die Generalisierungen von Eigenschaften einer Bevölkerungsgruppe schaffen allererst einen „Fremdkörper“, der den „Volkskörper“ bedroht. Darin liegt das rhetorische Kunststück, das einen Wink gibt auf die Rede des Marcus Antonius in William Shakespeares Drama The Tragedy of Julius Caesar. Vielleicht ist Rhetorik heute nicht mehr en vogue, vielleicht nennt man es heute „Framing Handbuch“ wie die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling. Doch letztlich ist das „Framing“ ein neuartiges Wording für Rhetorik als Sprachgebrauch. Um dem „Volk“ das Ungeheuerlichste zu sagen, muss man wissen, wie man es sagen soll. Shakespeares Rede des Marcus Antonius gehörte nicht nur Generationen lang zum Schulstoff, sie lehrte wie bei Schwerdtfeger die richtige Kombination der Worte. Loben, um zu morden: „Friends, Romans, countrymen, lend me your ears“ oder nach der Übersetzung August Wilhelm von Schlegels:

Mitbürger! Freunde! Römer! hört mich an:
Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen.
Was Menschen Übles tun, das überlebt sie,
Das Gute wird mit ihnen oft begraben.
So sei es auch mit Cäsarn! Der edle Brutus
Hat euch gesagt, daß er voll Herrschsucht war;
Und war er das, so war's ein schwer Vergehen,
Und schwer hat Cäsar auch dafür gebüßt.
Hier, mit des Brutus Willen und der andern
(Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann,
Das sind sie alle, alle ehrenwert),
Komm ich, bei Cäsars Leichenzug zu reden.
Er war mein Freund, war mir gerecht und treu;
Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war,
Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.
Er brachte viel Gefangne heim nach Rom,
Wofür das Lösegeld den Schatz gefüllt.
Sah das der Herrschsucht wohl am Cäsar gleich?
[7]

© Camille Blake

Die Szene der Rede gleicht in der Verfilmung denn auch dem „Forum“ als Parlament, das Shakespeare als Schauplatz vorsieht. Hugo Bettauer wird seinen Julius Cäsar gelesen haben, um Schwertfegers Rede zu formulieren. Sie ist Fiktion, um dennoch 1922 den Nerv der Zeit genau zu treffen, weshalb ihr Autor nach mancherlei Eskalation und wochenlangen Medienkampagnen am 10. März 1925 in Tötungsabsicht von dem Mitglied der NSDAP Otto Rothstock angeschossen wird. Am 26. März erlag Bettauer den Schussverletzungen. Die Verfilmungen hatte in gewisser Weise einen Wirklichkeitseffekt generiert. Dass Hugo Bettauer als Herausgeber der „Wochenzeitschrift für Lebenskultur und Erotik“ Er und Sie seit Februar 1924 sich mit dem Sexualleben der Wiener befasste und als Leitartikel „Die erotische Revolution“ versprach, mochte das, sagen wir, Fass zum Überlaufen gebracht haben.[8] Auf frappierende Weise überschneiden sich in Bettauers Publizistik ähnliche Fragestellungen, wie sie aktuell mit der Unterschriftenaktion gegen den „Gender-Unfug“ vom Verein Deutsche Sprache angestrengt werden. Denn der vermeintliche „Gender-Unfug“ betrifft das Geschlecht in seiner Mehrdeutigkeit von biologisch-binärem Geschlecht, Sexualität und Herkunft.  

Ernst Kieninger vom Filmarchiv Austria stellt den Roman wie vor allem die Rekonstruktion des Films, der erst 1991 in einer stark beschädigten Fassung im Niederländischen Filmmuseum wieder aufgefunden wurde, in den Kontext „der europäischen Flüchtlingskrise und … (der) richtungsweisende(n) Präsidentschaftswahlkämpfe 2016 in Österreich und den USA“.[9] 2015 waren auf einem Pariser Flohmarkt zuvor verlorene Szenen gefunden wurden. 2016 engagierten sich nun „(ü)ber 700 private Unterstützer*innen weltweit“ für „die Sicherung des neu aufgefundenen Materials und die integrale Restaurierung dieses eminent wichtigen österreichischen Stummfilms“.[10] Am 7. November 2018 hatte die neue Fassung ihre Weltpremiere mit der Live Musik des Ensembles PHACE unter der Leitung von Nacho de Paz und der Klangregie von Alfred Reiter im Wiener Konzerthaus.

Der Stummfilm Die Stadt ohne Juden weist einige Besonderheiten auf. Demonstrationen in Wien werden teilweise als große Massenansammlungen gezeigt, so dass sich die Frage aufdrängt, ob Breslauer für diese Massenszenen überhaupt das Budget hatte oder dokumentarisches mit fiktivem Filmmaterial montiert wurde. In mehreren Sequenzen wird das Leben der Juden in „Utopia“ gezeigt. Doch man ist geneigt, dieses vielfältige Leben beispielsweise in der Synagoge für dokumentarisch zu halten. Hugo Eywo als Kameramann steuert originelle Effekte bei, wenn er etwa das ganze Wohnzimmer durch die Kamerabewegung zum Schwanken bringt, als es der betrunkene Rat Bernart (Hans Moser) mit Leo Strakosch (Johannes Riemann) verlassen wollen. Die trunkene Wahrnehmung von Bernart wird so zu jener der Betrachter*innen.

Rat Bernart ist eine Filmfigur, die es so im Roman nicht gibt. Hans Karl Breslauer und Ida Jenbach haben insofern mit Rat Bernart eine spezifische Figur hinzuerfunden. Da Hans Moser um die gleiche Zeit in Wien als Komiker bekannt wurde und er mit Blanka Hirschler aus einer jüdischen Familie verheiratet war, rückt die Konzeption der Filmrolle des Antisemiten Rat Bernart als Komiker nah an den Schauspieler selbst. Vermutlich wurde der Schauspieler Hans Moser mit bürgerlichem Namen Joachim Julier selbst als jüdisch wahrgenommen. Die markantesten Filmeffekte wie die „schwankende“ Gaststube oder Wohnzimmer und die Einschließung in eine Zelle der Nervenheilanstalt mit den Visionen des Kranken werden Breslauer insofern für die Figur des Antisemiten eingesetzt. Man könnte sagen, wenn der Antisemit betrunken ist, dann wankt die Welt. Oder wie Bernrat in seiner Zelle sieht der Antisemit überall Davidsterne. Das ist ebenso treffend wie komisch. – Ähnlich verhält es sich heute mit dem Islamophoben. Für einige Leute wird jeder Taxifahrer zum „Muslim“, sobald das Wahrnehmungsraster erst einmal eingestellt ist.

Der Antisemitismus und dessen durchaus satirische Darstellung lässt sich als Dreh- und Angelpunkt des Stummfilms bestimmen. An Rat Bernart kristallisiert sich der Wahn des Antisemiten heraus. Zwar gibt es im Roman auch den „alte(n), graduierte(n) Antisemit(en)“ Rechtsanwalt Dr. Haberfeld und Bundeskanzler Dr. Schwertfeger ist gewiss auch einer, aber an der Filmfigur Rat Bernart wird der Wahn visualisiert. Dramaturgisch macht Leo Starkosch Bernart betrunken, damit er nicht gegen das Gesetz zum „Ende der Judenverbannung“ stimmen kann. Diese Funktion hat im Roman der Nationalrat Krötzel. Doch mit dem Komiker Hans Moser wurde die Filmrolle von Rat Bernart als Antisemiten zugespitzt. Dem Antisemiten ist nicht zu helfen.

Die Stummfilmmusik von Olga Neuwirth aktualisiert in gewisser Weise mit kleinem Ensemble und Zuspielung den alten/neuen Film. Keine Klavierbegleitung oder ein großes Orchester setzen hier die dramaturgischen Akzente. Eher schon eine beunruhigende Ironie durch das Ensemble mit umfangreichem Schlagwerk. Feintönig und sensibel werden die Filmszenen nicht einfach vertont oder mit Filmmusik untermalt. Vielmehr erzeugt Olga Neuwirths Komposition eine Art Kommentar zu den Bildern. Die Abstimmungen im Parlament werden durch ein unruhiges Crescendo begleitet. Statt Debatten laufen Erregungen hoch, was die Stummfilmszenen erschreckend nah an Shitstorms heranrückt. Debatten werden zu Erregungsschüben per Mausklick. Im Haus der Berliner Festspiele wurde die Aufführung umjubelt, obwohl sie nicht annähernd ausverkauft war, was unverständlich war.

 

Torsten Flüh

 

Olga Neuwirth: Die Stadt ohne Juden. (3SAT)

 

Ensemble PHACE

Projekt: Die Stadt ohne Juden.

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[1] Vgl. auch den umfangreichen Eintrag „Fettmilch-Aufstand“ bei Wikipedia.

[2] J. Kracauer: Die Juden Frankfurts im Fettmilch‘schen Aufstand 1612-1618. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland. Heft 2. Braunschweig 1890, S. 127. (Compact Memory Universitätsbibliothek Frankfurt am Main).

[3] Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen. Wien: Gloriette, 1922. (ohne Seitenzahl The Project Gutenberg, archive.org)

[4] „the theater itself became the focus of national life, an institution whose public signficance was certainly greater than that of Parliament. The theatrical quality of the political world had become so patent that the theater could appear as the realm of reality“. Zitiert nach: Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism. Cleveland: Meridian, 1958, S. 51. (archive.org)

[5] Hugo Bettauer: Die … [wie Anm. 3].

[6] Ebenda.

[7] William Shakespeare: Julius Cäsar. (Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel Zweite Szene)

[8] Hugo Bettauer: Die erotische Revolution. In: ders. (Hg.): Er und Sie. Nr. 1 vom 14. Februar 1924. Titelblatt.

[9] Ernst Kieninger: Die Stadt ohne Juden. In: MaerzMusik: Stadt ohne Juden. Berlin: Berliner Festspiele 2019, S. 4.

[10] Ebenda S. 4-5.


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