Ankreuzen, anstellen und dann beten - Berlinale 2012 und Directors Lounge

Berlinale 2012 – Akkreditierung – Directors Lounge

 

Ankreuzen, anstellen und dann beten

Berlinale 2012 und Directors Lounge

 

Die freundliche Frau im Service Center der Berlinale in der Eichhornstraße rät auf meine Frage um 8:58 Uhr: „Ankreuzen, anstellen und dann beten.“ Ist die Berlinale eine Religion? Ich arbeite mich als Akkreditierter in die Berlinale-Riten ein. Schritt 1: Ausweisabholung/Badge Pick-Up am Mittwoch. Schritt 2: Ticketabholung um 10:23 Uhr am Donnerstag. Nur noch Reste. Schritt 3: Ticketabholung um 8:55 Uhr am Freitag. Die Highlights waren schon weg.

Für den Donnerstag gab es um 10:23 Uhr gar nichts mehr. Was machen? Sich an den Roten Teppich stellen bei ca. -8° C? Ich glaube, dass ich nicht der Rote-Teppich-Typ bin. Nicht wirklich. Stattdessen flattert mir von einem Freund die Eröffnungsvorstellung der Directors Lounge mit Party in den digitalen Briefkasten. Warum nicht. Mal schau’n. Berlinale ist nicht nur Berlinale. Es gibt Haupt- und Nebentempel.

Die Berlinale ist eine große Maschine. Sie erfordert Einarbeitung. Und Glamour ist Arbeit. Diane Kruger (anglifiziert: Krüger), die Königin, Marie Antoinette im Eröffnungs- und Wettberwerbsfilm Les Adieux À La Reine, auf dem Roten Teppich bei deutlichen Minusgraden schulterfrei und strahlendes Lächeln ist Arbeit. Das war schon im letzten Jahr so bei Chen Hong. Männer haben das in dem Geschäft wirklich leichter. Aber sie bieten in der Regel auch weniger Glamour. In Eiseskälte schulterfrei in die Kameras lächeln und auch noch auf ein paar Reporterfragen antworten, spricht für den Stellenwert, den die Filmindustrie der Berlinale beimisst.

Eine Akkreditierung für die Berlinale zu erhalten, ist nicht einfach. Das ist schon fast wie eine Glaubensfrage. Entweder muss man als Pressevertreter richtig viel Holz, also Leser oder Clicks anbieten oder man lässt sich, sofern Grundvoraussetzungen erfüllt sind, für den Bereich Hochschule und Filmschaffende akkreditieren. Das heißt auch, dass sich sehr viele Studenten aus de Berlin und der übrigen Welt akkreditieren lassen können. Die Akkreditierten morgens um 8:00 Uhr sind nämlich überwiegend recht jung und kommen so ziemlich von überall her. Eine Akkreditierung ist ein regelrechter Initiationsritus. Die Entrichtung einer Teilnehmergebühr ist nur der allererste Schritt.

Am zweiten Tag in der Gemeinde der Berlinale-Akkreditierten bin ich zu fast klösterlicher Zeit um 7:00 Uhr aufgestanden, hatte meine Lesung schon in einer Auswahl von bevorzugten Filmen im Programmplaner vorbereitet, was – toller Service – sich prima mit meinem Outlook-Programm vorbereiten lässt, und bin um 7:30 Uhr in langer Unterhose, Adidas-Vespa-Pants, Jacke und Norwegerpulli, Mütze mit Ohrenschützern und last but not least Strickfausthandschuhen und warmen Wanderschuhen zum Potsdamer Platz gefahren. Dort muss dann der Gläubige bis 08:30 Uhr auf die Schalteröffnung warten bei -10° C.

Natürlich war ich nicht der erste Gläubige um kurz vor Acht, so dass ich auch erst um 8:40 Uhr in die warme Schalterhalle hineinkam. Alles toll organisiert. Wahrscheinlich sind Gläubige aus anderen Ländern über diese sehr deutsche Art der Perfektion hell auf begeistert. Wenn man allerdings gut 45 Minuten in der Eiseskälte wartet, dann wird natürlich der Glaube schwer auf die Probe gestellt. Ich gestehe, dass ich an meinem Glauben zu zweifeln beginne und kann nicht garantieren, dass ich da jetzt jeden Morgen um kurz vor acht stehe.

Gestern jedenfalls erteilte mir, sagen wir mal, eine freundliche Novizin den Rat, mich recht früh für Tickets anzustellen. Denn für meine Wunschfilme erhielt ich gestern gar nichts mehr. Immerhin aber für die zweite oder dritte Wiederholung des Wettbewerbfilms Les Adieux À La Reine mit Diane Kruger. Schwerer als Wettbewerbsfilme sind selbst für die Gemeinde Highlights zu bekommen. Highlights zeichnen sich dadurch aus, dass die KarteninhaberInnen leuchtende Augen bekommen, wenn sie davon sprechen. Don – The King Is Back mit Shah Rukh Khan, reines Bollywood, oder In The Land Of Blood And Honey von Angelina Jolie sind solche Highlights, die um 8:45 Uhr natürlich schon weg waren.        

Es ist alles toll und hoch technisch durchorganisiert. Die Berlinale ist so sehr durchorganisiert, dass man schnell feststellt, dass es bezüglich Karten keine Möglichkeit der Korruption geben kann. Ausgeschlossen! Es gibt Kontingente. Die Macher, die Mitglieder, die Politiker, die Presseleute, die Akkreditierten, die Internetbucher, die Schlangesteher und das Abendkassekontingent. Bei der Verteilung der Hostien wird nicht gemogelt. Als Akkreditierter ist man schon besser dran, aber weit davon entfernt, irgendwo einfach nur hinzugehen und sich beliebig ins Kino zu setzen. Das wäre der Himmel. Aber es gibt leider mehr Anwärter auf die Himmelsplätze als Sitze.

Sicher ist es bei der Auswahl der Filme nicht sehr viel anders. Zwar wächst die Berlinale ständig, aber sie kann trotzdem nicht alles zeigen, was geschickt wird. Deshalb gibt es Directors Lounge. Muss man auch erst einmal kapieren. Die Directors Lounge verfährt strikt nach dem Motto: „We understand directors!“ [DL8] findet dieses Jahr in der Naherholung statt und läuft zeitgleich mit der Berlinale. Nein, für die Naherholung muss man nicht ins Grüne oder derzeit Weiße fahren. Die Naherholung liegt in Mitte. 

Naherholung Sternchen mit den Intarsien-Wildschweinen an der Wand ist total angesagt. Wenn keine Directors Lounge läuft, ist es ein Club. Naherholung Sternchen als Diminutiv zu den großen sozialistischen Sternen, wurde 1961 ungefähr zeitgleich mit dem Kino International als Restaurant für die Nachbarschaft erbaut. Real existierender Nachbarschaftssozialismus sozusagen. Natürlich ist das Naherholung Sternchen in der Berolinastraße nicht ganz so der Glitzerschuppen wie das Premieren- und Staatsaktkino an der Karl-Marx-Allee. Was man noch vor kurzem für spießig hielt – Nierentisch und Kugelbeleuchtungskörper – beherbergt nun einen ArtSpace. Könnte sein, dass hier demnächst eine Edelgastronomie einzieht.

Doch zuvor läuft The 8th Berlin International Directors Lounge, the festival of contemporary media and film mit vielen Kurzfilmen, die man sonst sicher kaum sehen würde. Da gibt es Abseitiges und liebevoll Verspieltes, Experimentelles und Schrilles, Ernstes und Lustiges, aber immer Originelles zu sehen. Wer keine Karte mehr im International bekommt, sollte hier zumindest einmal vorbei schauen. Das Publikum ist mindestens ebenso originell wie die Filme. Und natürlich steht Club Mate im Kühlschrank. Musik wird dann auch noch gemacht. Wenn man also nicht gerade am nächsten Morgen um 7:45 Uhr vor dem Berlinale Service Center stehen will oder muss, dann lohnt sich ein später Besuch ganz sicher.


Der Initiator und Artistic Director von [DL], André Werner, führt durch das Programm und es spricht für das Festival, dass es mit zunehmenden Teilnehmern bereits im 8. Jahr stattfindet. Am Eröffnungsabend konnte man z.B. den fast 7minütigen Film Egyptian Odessa Stairs von Dalibor Martinis sehen. Es wird zwar fast ausschließlich die berühmte Szene aus Sergei M. Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin (1925) auf den Stufen von Odessa gezeigt, aber der Ton und kurze Mobile-Aufnahmen stammen von der Revolution in Ägypten. Das ist nicht besonders spektakulär, aber doch interessant.


In Dreams von Samuel Blain 3 min 57 sec., der als deutsche Premiere gezeigt wurde, ist ein sehr origineller Animationsfilm. Träume erzählen von sich. Der Gebisstraum, der Baumtraum, der Barttraum, der Augentraum. Dabei reden die Träume wie Männer und Frauen, die im Bett sitzen und von sich als Person erzählen. Natürlich hat jeder Traum eine Persönlichkeit, die sich auch im Schlafzimmer-Interieur mitteilt. André Werner, der an der Universität der Künste Berlin studierte, ist Kurator und Conferencier. Der Rauch von selbstgedrehtem Tabak zieht durch die Räume. Ein Koi-Karpfen schwebt durch die Lounge. Und man hat das Gefühl, dass es jetzt so endlos weiter gehen könnte.

Berlinale, das ist eben nicht nur der Rote Teppich vor dem Berlinale Palast, das ist nicht nur der Wettbewerb, sondern es sind die Sektionen und Seitentriebe, es sind das harte Filmgeschäft und die Partys. Berlinale ist die große Wallfahrt der Cineasten. Heute Abend gibt es Götter: Les Adieux À La Reine und Oktober von Sergei M. Eisenstein von 1927 mit Rundfunksinfonie Orchester Berlin.


Torsten Flüh  


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Categories: Film

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