Populismus – Demokratie – Parteien
Brauchen wir mehr Populismus?
Pierre Rosanvallon hält eine Mosse-Lecture zur radikalen Demokratie
Die einzige Mosse-Lecture in diesem Semester wurde vom französischen Historiker, Professor am College de France und Pariser Intellektuellen Pierre Rosanvallon unter dem Titel Democracy and Populism in the 21st Century gehalten. Rosanvallon hat sich einen Namen unter Historikern und Demokratiekritikern auch in Deutschland so erfolgreich gemacht, dass er am 24. September 2017 in der ARD-Kultur-Sendung TTT – Titel, Thesen, Temperamente zur Demokratie in Deutschland befragt wurde und für sein Buch Die Gegen-Demokratie in der Hamburger Edition des Instituts für Sozialforschung 5:53 Minuten Sendezeit bekam. Es war der Abend des Wahlsonntags. 76,2 % Wahlberechtigte hatten gewählt. Danach rangen die Parteien monatelang um eine Koalition und die Macht.
Joseph Vogl kündigte den Vortrag als Scharnierveranstaltung zum Thema Autokratien - Herausforderungen der Demokratie im kommenden Wintersemester an. Das Demokratieverständnis steht durch den Twitter-Präsidenten, Parteienverdrossenheit sowie Parteiendemokratie und präsidialer Staatsrepräsentation beispielsweise in der Russischen Föderation unter Druck. Unvergessenes Diktum: „Putin ist lupenreiner Demokrat.“ Wie soll Demokratie verstanden werden? „Über die gängigen Populismen könnte man das sagen, was Marx von der Religion sagte: um dieser Bewegung die Stirn zu bieten, muss man von Fall zu Fall aufdecken, wie deren nationalistische und protektionistische Visionen allein auf die Ökonomie bezogen und durch sie bedingt sind“, kündigten die Mosse-Lectures Rosanvallons Vortrag an. Doch Rosanvallon bietet in seiner Mosse-Lecture keine Analyse der „gängigen Populismen“, sondern will mehr direkte Demokratie.
Im Oktober 2016 hatte Slavoj Žižek die Vorlesungsreihe Populismus und Politik eröffnet. Die Angst vor dem rechten Populismus nahm zu. Dass er zur politischen Normalität via Twitter werden könnte, konnte sich niemand vorstellen. Mittlerweile hat die CSU als Wahlkampfstrategie für die Landtagswahlen im Herbst, den rechten, nationalistischen Populismus der AfD kopiert. Es geht um den Machterhalt der CSU in Bayern. Dafür wird die bundespolitische Bühne gesucht und nutzt sie. In seinem Buch Die gute Regierung (2016) erfasst Pierre Rosanvallon diese politische Situation recht genau, obwohl er das „Verhältnis von Regierenden und Regierten“ aus der Geschichte beschreibt. Was als Volkswillen von den christlich-sozialen Wahlkämpfern aufgeführt wird, dient allein dem Machterhalt:
Man kommt an der Feststellung nicht vorbei: Es gibt heute keine demokratische Theorie des staatlichen Handelns. […] Es hat überhaupt niemals eine wirkliche Theorie des Regierens gegeben. Was wir »Exekutivgewalt« nennen, hat natürlich immer existiert. Doch wurde sie von denen, die sie ausübten, als praktische Aufgabe verstanden. Für ihre Inhaber hatte die Macht ihre Rechtfertigung in sich selbst. Ihnen ging es darum, wie man sich Gehorsam verschafft, Impulse übermittelt, Unzufriedenheiten kanalisiert, Kräfteverhältnisse beherrscht, Rivalen ausschaltet.[1]
Rosanvallon ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht müde geworden, durch detaillierte Analysen die Praktiken der Demokratie zu kritisieren. Diese Analysen beziehen sich nicht zuletzt auf die Parteien, wie sie nicht nur in Frankreich und den USA, sondern auch in Deutschland als Akteure der Demokratie unter Druck geraten sind. Es gibt eine Krise der Parteien, wie sie nicht zuletzt zum Bankrott der Parti socialiste in Frankreich geführt hat. Die SPD steckt zunehmend in einer ähnlichen Situation. Die Bewegung En Marche!, die Emmanuel Macron 2016 als Partei gegründet hatte, fegte 2017 geradezu die traditionelle Parti socialiste hinweg. Im Juni 2017 gewannen Macron und seine Bewegungspartei deutlich gegen Marine Le Pens rechtspopulistischen Front Nationale. In Frankreich zeigte sich schon 2016 sehr viel deutlicher als in Deutschland, dass „die Parteien die Repräsentationsfunktion de facto aufgegeben“[2] haben.
Hier ist eine bedeutsame Aufgabe zu erfüllen, um das Gefühl des Schlechtrepräsentiertwerdens zu überwinden, das ständig an unseren Demokratien nagt und sie für die Sirenen des Populismus empfänglich macht. In Le Parlement des invisible, dem Gründungsmanifest des 2014 gestarteten Projekts »Raconter la vie«, habe ich Analyse- und Aktionswerkzeuge vorgeschlagen, um zur Wiederbelebung einer »postparteilichen« Repräsentation zu gelangen.[3]

raconter le travail (Screenshot T.F.)
»Raconter la vie« hat sich zwischenzeitlich in »raconter le travail« umbenannt. Das Parlament der Unsichtbaren und Ungehörten sollte eine Plattform im Internet bekommen. „Die Idee war einfach: Jedem einen Raum des Ausdrucks zu bieten, so dass jeder seine Lebenserfahrungen teilen und einen Austausch aufbauen konnte. Die Website RaconterLaVie.fr wurde von einer gleichnamigen literarischen Sammlung von Pauline Peretz verdoppelt.“[4] Man könnte Rosanvallons Ansatz einen basisdemokratischen des Erzählens nennen, der „den Menschen, allen, die sich nicht immer auszudrücken wagen, eine Stimme zu geben, individuelle und kollektive Lebenserfahrungen in den Mittelpunkt der öffentlichen Anliegen zu stellen“. Zusammen mit dem linken Pariser Verlag Le Seuil gründete er die Internetplattform, die es jedem ermöglichen soll, seine Geschichte der Arbeit und des Scheiterns zu erzählen. So wurde am 22. Februar 2018 von survivreBO2018 – „Survivre! Never give up!” – das, sagen wir, ebooklet mit dem wunderbar frenglischen Titel Crash professionnel für eine Lesezeit von 9 Minuten veröffentlicht.[5]
J’ai bientôt 44 ans et j’ai travaillé et sué pendant 24 ans dont 15 ans pour un groupe français international, non-stop ! Je ne me suis jamais arrêtée, jusqu’à ce que le burn-out le fasse pour moi. (Ich bin 44 Jahre alt und habe 24 Jahre lang gearbeitet und geschwitzt, einschließlich 15 Jahre für eine internationale französische Gruppe, nonstop! Ich habe nie aufgehört, bis der Burnout es für mich getan hat.)[6]
raconter le travail (Screenshot T.F.)
Der Austausch als demokratischer Prozess, wie ihn Rosanvallon mit der Plattform verfolgt, ist in der Demokratie des Internets indessen auch ein schwieriger. Das gilt nicht zuletzt für die ebooklets auf raconter le travail, die eine eigene Kommentarfunktion, Verlinkungen mit Facebook, Twitter und G+ bieten. Offenbar findet seit mittlerweile 4 Monaten kein „Austausch“, keine Debatte zum anonymen survivreBO2018 und seinem Crash professionel statt.[7] Das partizipative Erzählprojekt für mehr Demokratie erweist sich als technisch ausgefeilt, doch organisatorisch schwierig. survivreBO2018 darf sich mit seinem ebooklet oder narrativen Blog repräsentiert fühlen. Er ist sogar faktisch auf raconter le travail repräsentiert. Doch verpufft anscheinend die mikrologische Repräsentation, während auf Facebook und Twitter Scheindebatten im Sekundenlesemodus mit Icons und Emojis geführt werden. Mittlerweile könnte man fast sagen, dass nicht nur der 9-Minuten-Lesemodus, sondern die textbasierten sozialen Medien wie Facebook und Twitter zuviel Aufmerksamkeit erfordern und das Bildmedium bzw. der Bild-Blog Instagram zur Plattform von Austausch, zum, wenn überhaupt, Debattenraum wird.
Instagram Kevin Systrom @kevin (Instagram CEO) (Screenshot T.F.)
Die aktuelle Krise der Demokratie hat nicht etwa nebenbei mit dem Digitalismus zu tun und ließe sich mit einer „»postparteilichen« Repräsentation“ im Internet vielversprechend lösen, vielmehr geht es um grundsätzliche Probleme der Repräsentation als Daten, Bits und Datenmengen. Für Rosanvallon ist die Krise in einer „mal-représentation“ (schlecht-Repräsentation) begründet. Damit setzte er in seinem „Gründungsmanifest“, das mit dem ersten Teil unter dem Titel Une société à la recherche d’elle-même deutlich auf die Literatur von Individuum und Gesellschaft von Marcel Prousts Á la recherche de temps perdu anspielt, gleich zu Anfang ein: „Les origines de la mal-représentation“[8] (Die Ursprünge des Schlechtrepräsentiertwerdens). Es geht demnach vor allem um eine gute oder bessere Repräsentation des Einzelnen bzw. des Volkes in der Demokratie.
Die Demokratie hat einen Souverän eingesetzt, dessen Besorgnis nicht aufgehört hat, problematisch zu sein. Diese Frage ist in der klassischen Unterscheidung zwischen formaler und realer Demokratie nicht beantwortet worden. Weil es das konkrete Volk (peuple concret) ist, das irgendwie selbst unbestimmt bleibt. Damit es aufhört, nur ein abstraktes Gebotsprinzip zu sein, mußte es fortwährend mit der doppelten Hilfe der intellektuellen Ausarbeitung und einer sinnvollen Beschreibung konstituiert werden.[9]
Die Exekutive, d.h. die Regierung, als Souverän der Demokratie sorgt sich nach Rosanvallon vor allem um ihren Machterhalt. Und das peuple concret, das nur insofern zu einem konkreten Volk wird bzw. geworden ist, als es intellektuell ausgearbeitet und mit einer sinn- wie gefühlvollen „Beschreibung“ (description sensible) versehen wird, würde demnach von der Exekutive selbst konstituiert werden. Rosanvallon schreibt und forscht mit seiner Lust an der Neuformulierung von Begriffen – mal-représentation, peuple concret – und der Literatur nicht zuletzt als Belletristik gerade im raconter-la-vie-Manifest eines Parlement des invisibles in einer entschiedenen Mehrdeutigkeit und Elastizität der Sprache. So wird er denn auch von Andreas Niederberger als ein Vertreter der Postdemokratie vorgestellt, der einen „Republikanismus jenseits der Republik“ fordere.
Ein grundlegendes Problem und eine Schwäche existierender Republiken besteht für Rosanvallon darin, dass die republikanischen Verhältnisse sich selbst bislang nicht begreifen, also die Reflexivität der Steuerung nicht zu einer Selbstreflexivität der Demokratie und ihrer Funktion zwischen Gesellschaft und Staat geführt hat.[10]
Einerseits feiert gerade der Begriff des Volkes im Verein mit der Heimat, der katholischen Religion und der ethnischen Reinheit fröhliche Urständ im bayrischen Landtagswahlkampf der CSU. Die Bilder der Wahlkampfauftritte wetteifern geradezu mit dem, was einst nur bei den Vertriebenenverbänden Usus war. Das Volk wird sichtbar in Kleinkindern, die in Trachten paarweise auf die Tanzfläche marschieren. Andererseits wird das Volk, wie es in den Erzählungen oder Berichten auf raconter le travail mit nicht kommentierten ebooklets repräsentiert wird, unendlich heterogen oder heterologisch. Das Volk, das sich mit mehr als 200.000 Bürgen (répondants) an der Beantwortung von Fragen zur Arbeit beteiligt hat, lässt sich zugleich außerhalb von statistischen Fragen schwer fassen. Zwar repräsentieren die Antworten statistisch Staatsbürger aus dem Volk. Doch bleibt es schwierig, dass sich darin jede/r Einzelne gut repräsentiert fühlt. Die Vertreter der Postdemokratie wie Rosanvallon arbeiten zumindest recht effektvoll mit den Widersprüchen der Demokratie.
raconter le travail - survivreBO2018: crash professionel (Screenshot T.F.)
Die Mosse-Lecture von Pierre Rosanvallon in Englisch wird in absehbarer Zeit online bei YouTube nachzuhören und zu sehen sein. Die Postdemokratie als Ansatz für die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Populismus fiel zumindest für Joseph Vogl in der Diskussion ein wenig unbefriedigend aus, um es einmal so zu sagen. Denn Rosanvallon stimmte keineswegs in die Verurteilung des Populismus als demokratieschädlich und -schädigend ein. Für die Postdemokratie lässt sich der Populismus gar als Repräsentation des Volkes beschreiben. Denn Rosanvallon geht von Anfang an in seiner historischen Analyse der Demokratie davon aus, dass das Volk geradezu in einem Kongruenzverhältnis repräsentiert werden sollte. Das Konzept der demokratischen Idee ist auch nach dem Präsidenten der Central European University in Budapest, Michael Ignatieff, nicht etwas, das man als abgeschlossenes und garantiertes Wissen von der Demokratie wahrnehmen und gebrauchen sollte, vielmehr soll man darüber kritisch nachdenken.[11]
Gegenüber seinem Vortrag an der Central European Universität im November 2017, Populism and Democracy in Europe: History and Theory, geht Pierre Rosanvillon in seiner Mosse-Lecture stärker vom Konzept der demokratischen Idee aus. Es ist nur folgerichtig, dass er an einem populistischen Projekt der Demokratie festhält, wie es sich mit raconter la vie angekündigt hat und mittlerweile als raconter le travail allerdings von der CFDT, dem Französischen Demokratischen Gewerkschaftsbund, weiterentwickelt. Es geht ihm auch keinesfalls darum, die Widersprüche von Demokratie und Populismus einzuebnen. Als Beispiele bringt er nun vielmehr den südamerikanischen Populismus als ein regulativ der Herrschaft von Links. Während man in Europa und Nordamerika den Populismus eher als eine Bewegung der Rechten wahrnimmt, knüpft Paulo Gregoire im August 2017 in seinem Artikel In Latin America, Populism Is Alive and Well für Forbes an die Möglichkeit eines guten Populismus an.
Because populism is a political phenomenon, it is perhaps best viewed through the lens of political power. Rather than being champions of a particular economic vision, populist leaders are those who are able to capitalize on popular discontent with the status quo to take control of the government, where they stay by maintaining a direct connection to the masses.[12]
Ohne jetzt ein Kenner der südamerikanischen Politik zu sein, müsste man wohl Rosanvallon zustimmen, dass Populismus in demokratiedefizitären Ländern nicht nur eine Frage und Möglichkeit der politischen Macht sein kann. Vielmehr generiert sich die Macht in defizitären Regimen bestenfalls gerade aus dem Volk als Populismus. Und möglicherweise ruft eine über längere Zeit auf eine Person fokussierte Macht sowohl von links wie von rechts populistische Bewegungen hervor. Man kann dabei aktuell auch an die Regierung aus linkspopulistischer MoViemento 5 Stelle und rechtspopulistischer Lega denken. Die ökonomischen Tatsachen eines Staates oder einer Volkswirtschaft mögen selbst aufs Beste bestellt sein, wenn sich die Macht scheinbar oder tatsächlich zu sehr personalisieren lässt wie in der Bundeskanzlerin Angela Merkel, ruft sie den fast ungelenken populistischen Protest hervor, weil wie Rosanvallon es formuliert, ein diffuses Gefühl der Abwesenheit in der Repräsentation von Macht aufkommt. Wer ein ebooklet schreiben kann und tatsächlich schreibt, fühlt sich möglicherweise gar nicht erst schlecht repräsentiert.
Der direkte Kontakt zu den Massen, der den populistischen Politiker hervorbringt, gehört wahrscheinlich auch in Lateinamerika zu den großen Mythen der Demokratie. Doch Rosanvallons Erzählprojekt gibt einen wichtigen Hinweis auf das Verhältnis von Sprache und Demokratie, Sprache und Repräsentation. Wer von sich erzählen kann, fühlt sich repräsentiert. Im Populismus spricht unterdessen ein Einziger für die Massen. Und das heißt, dass er auch die Sprache, der eben Unsichtbaren und Sprachlosen sprechen können muss. Donald Trump war durch seine Reality-Formate im Fernsehen von Anfang an dafür aufs Beste vorbereitet. Nicht was gesagt wird, ist entscheidend, sondern wie es auch durchaus ungelenk gesagt wurde und wird, verschaffte Donald Trump seine Wählbarkeit, weil sich eine Masse an amerikanischen Wählern in ihm repräsentiert sah und sieht. Die hohen Zustimmungswerte Donald Trumps unter seinen Wählern bestätigen genau dieses Verhältnis von Sprache und Repräsentation.
Demokratie heißt Partizipation, Teilhabe an politischen Entscheidungen. Pierre Rosanvallon knüpft letztlich in seiner Mosse-Lecture an die partizipative Demokratie von 1968 an. Willy Brandts Slogan „Mehr Demokratie wagen“, könnte man sagen, ist für ihn nach wie vor gültig. Ihm geht es mehr um den permanenten demokratischen Prozess und Demokratie als Prozess, denn darum eine gute Praxis zu definieren. Dass die Darstellung von Demokratie als Bild durchaus schwierig ist, kann man feststellen, wenn man bei Wikipedia Commons Bilder zur Demokratie sucht. Die Demokratie lässt sich offenbar schwer als ein Bild „repräsentieren“. Wie wird Demokratie Bild? Einerseits liefern Bilder bzw. Fotos von Parlamenten diese für die Demokratie. Doch nicht jedes Parlament funktioniert demokratisch. Auch Erdogan oder Putin berufen sich auf Parlamente, die eher autokratisch funktionieren. Peinlich genau wird die Repräsentation der chinesischen Ethnien im Volkskongress aufgeführt, während diese so gut wie keine demokratische Macht haben.
cc David Drexler: Stencil art in Madison, Wisconsin. Image taken on August 7, 2007
In Bildern von Parlamenten lässt sich schwer der Grad der Demokratie in einem Staat erkennen. Das Bild vom Parlament als Gebäude täuscht mehr über die demokratischen Verhältnisse, als dass es sie sichtbar macht. Und selbst die Wahlurne als Bild für freie, demokratische Wahlen erweist sich als ambig. „OUR DREAMS CANNOT FIT IN THEIR BALLOT BOXES“, sprühte 2007 eine politische Kunstaktion in der Universitätsstadt Madison, Wisconsin, an Gebäude. Steht die Wahlurne doch auch für eine Praxis der Eigenlegitimation von autokratischen Herrschern und eine unbefriedigende Periodisierung von Wahlen. Recht farbig wird die direkte Demokratie als Foto von einer Abstimmung einer Landsgemeinde im Schweizer Kanton Glarus von 2006 auf einem kleinstädtischen Marktplatz vor Alpenpanorama. Eine Art Paradies der Demokratie – oder auch gerade nicht. Selbst auf dem kleinen Marktplatz haben sich so viele Abstimmungsberechtigte eingefunden, dass sich viele auch nicht repräsentiert fühlen können.
cc Adrian Sulc: Abstimmung an der Landsgemeinde am 7. Mai 2006 in Glarus
Rosanvallon schreibt der Sprache und dem „Wahrsprechen“[13] eine entscheidende, fast positivistische Rolle der Repräsentation in der Demokratie zu. Er knüpft nicht nur an eine Bemerkung eines führenden Politikers an, dass die „öffentliche Sprache … eine tote Sprache geworden“ sei, vielmehr geht er auch von der Sprache „als Stifterin von Beziehungen und Medium gegenseitiger Verständigung einerseits, als Mittel zur wirksamen Erforschung der Wirklichkeit andererseits (Produzentin von Sinn und Erkenntnis)“ aus.[14] Die Sprache und das Wahrsprechen werden für ihn zu entscheidenden Bedingungen der Repräsentation in der demokratischen Politik, was er mit dem 2015 in Französisch erschienen Buch vielleicht noch engagierter vertreten konnte, als heute da die Lüge der Fake News etc. zur politischen Währung geworden ist.
Wahr zu sprechen bedeutet gleichzeitig, die Bürger in die Lage zu versetzen, ihr Leben besser zu bewältigen und ihnen zu ermöglichen, eine positive Beziehung zur Politik aufzubauen. Unwahr zu sprechen oder Phrasen zu dreschen, bedeutet umgekehrt, die Kluft zu vergrößern.[15]
Das sprachbasierte Projekt raconter la vie/raconter le travail als demokratisch, populistisches müsste man vielleicht noch einmal genauer dahin analysieren, wer wie spricht und sprechen kann. survivreBO2018 ist ja durchaus der französischen Sprache mächtig und kann an einen Burnout-Diskurs anknüpfen. – „Physisch ist es besser, aber psychologisch bin ich nah an einem Psychiater, wie nach einem Schock des Lebens! Ich brauche ein neutrales und fürsorgliches Zuhören: Burnout und Entlassung, es ist hart! Aber das Schwierige für mich ist, dass meine Entlassung kurz vor den Ferien stattfand Weihnachten.“[16] – Er ist von der Sprache und einem Diskurs nicht ausgeschlossen. Vielmehr reproduziert und personalisiert er ihn auf fast elegante Weise. In den USA dagegen hat die Trump-Regierung vor allem auf einen Abbau der Mittel für öffentliche Schulen mit populistischem Kalkül gesetzt. Denn der Trumpismus will vor allem nicht, dass die Bürger und Wähler durch Bildung für sich sprechen lernen können. Trump twittert gegen Sprache und Diskurs, was die tatsächliche Zukunft des Populismus werden könnte.
Torsten Flüh
Mosse-Lectures
Autokratien
Herausforderungen der Demokratie
ab 8. November 2018
_______________________
[1] Pierre Rosanvallon: Die gute Regierung. Hamburg: Hamburger Edition, 2016, S. 167.
[7] Siehe ebenda : Vôtre commentaire : postez le vôtre!
[8] Pierre Rosanvallon: Le Parlament des invisibles. Paris: Seuil, Januar 2014, S. 14-17.
[9] “La démocratie a institué un souverain don’t l’appréhension n’a cessé d’être problématique. Cette question n’a pas trouvé de réponse dans la distinction classique entre démocratie formelle et démocratie réelle. Car c’est le peuple concret qui reste d’une certain façon lui-même indéterminé. Pour qu’il cesse de n’être qu’un principe commandant abstrait, il a donc continuellement fallu le constituer avec le double secours de l’élaboration intellectuelle et de la description sensible.” Ebenda S. 17.
[10] Andreas Niederberger: Republikanismus jenseits der Republik? In: Michael Hirsch, Rüdiger Voigt (Hg.): Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken. Stuttgart: Franz Steiner, 2009, S. 109.
[11] Michael Ignatieff introducing: Pierre Rosanvallon - Populism and Democracy in Europe: History and Theory, November 30, 2017. (YouTube)
[13] Pierre Rosanvallon: Die … [wie Anm. 1] S. 293.
[16] survivreBO2018: Crash … [wie Anm. 5] (Physiquement ça va mieux, mais psychologiquement je me suis rapprochée d’un psy, comme après un choc de vie ! J’ai besoin d’une écoute neutre et bienveillante: burn-out et licenciement, c’est raide ! Mais le plus dur pour moi, c’est que mon licenciement a eu lieu juste avant les fêtes de Noël.) S. 3.
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