Denkwürdig! Peer Gynts Suche nach sich selbst. Kurt Masur dirigiert das Orchester der Komischen Oper Berlin

Peer Gynt – Lüge – Individuum

 

Denkwürdig! Peer Gynts Suche nach sich selbst.

Kurt Masur dirigiert die Bühnenmusik zu Peer Gynt mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin

 

Die Stille, die Stille nach dem letzten Ton einer Aufführung ist der Gradmesser für ein außergewöhnliches, musikalisches Ereignis. In der Komischen Oper hielt sie für einige, lange Sekunden an, bevor sich ein erstes noch belegtes Bravo hören ließ. Dann der anschwellende Applaus, Bravos und schließlich wohl an die 10 Minuten Standing Ovations für Kurt Masur, ein so nie zuvor gehörtes Orchester der Komischen Oper, für Malin Byström und das gesamte Ensemble.

Kurt Masur beendete am Donnerstagabend die Ovationen, indem er Jördis Trebel einhakte und demonstrativ die Bühne verließ. - Bei Mahler, Bruckner, Wagner, Beethoven kann man nach sehr guten Aufführungen derartiges erleben. Aber bei Edvard Griegs (1843-1907) Musik zu Peer Gynt? Das sind doch eh nur allzu oft gehörte Kracher aus der Fernsehwerbung bis zum Klingelton, dachte man bis zu diesem Abend - vielleicht.

Die Bühnenmusik zu Henrik Ibsens (1828-1906) dramatischem Gedicht Peer Gynt von 1876 (Op. 23) bekommt man so gut wie nie zu hören. Einerseits gilt die Musik von Grieg heute für das Theater als antiquiert. Andererseits ist sie derart komplex und symphonisch, dass sie jedes Stadt- und Staatstheater mit seinen Schauspielern überfordern muss. Trotzdem kennt fast jeder einzelne Stücke wie Solvejgs Lied, Morgenstimmung oder In der Halle des Königs.

 

Griegs Bühnenmusik hat in Stücken eine beispiellose Popularisierung erfahren. Dies ist, wie sollte es anders sein, Fluch und Ehre zugleich. Ein Fluch für den Komponisten muss es bedeuten, wenn ein weltbekannter Unterhaltungsgeiger mit einer sehr blonden, sehr gelockten, sehr jungen Sängerin am Spinnrad Solveigs Lied abgemischt über die Fernsehkanäle seiner Produktionsfirma schickt. Eine Ehre wird es, wenn das Lied von Lucia Popp über Marita Solberg bis Anna Netrebko singen. Malin Byström darf in dieser Reihe seit Donnerstagabend ebenfalls genannt werden. Solveigs Lied und Solveigs Wiegenlied sang sie mit Bravour.  

Grieg hat mit seinen Peer-Gynt-Suiten nicht unwesentlich zur Popularisierung seiner Komposition beigetragen. Die beiden Peer-Gynt-Suiten als chorlose Fassung der Bühnenmusik komponierte er 1888 und 1891. Damit blieb die Musik nicht an die Aufführung des Theaters gekoppelt, sondern konnte einen eigenen Siegeszug im Konzertsaal antreten. Sie sind als Op. 46 und Op. 55 in Griegs Werk verzeichnet. Doch Grieg selbst befürchtete eine grenzenlose Popularität: „Ich vermisse nur noch die Peer-Gynt-Suite für Flöte und Posaune. Von der unerreichbaren Popularität für Drehorgel will ich gar nicht reden.“

 

Es kam besser. Im Zeitalter der Fernsehwerbung machte vor allem Griegs Morgenstimmung eine unabsehbare Karriere. Von AEG bis Rama werden wenigstens die ersten Takte geschrammelt, was das Zeug hält. Eine Musik des Versprechens schlechthin. Alles wird gut, sagen die Violinen im Allegretto pastorale. Allegretto wie munter und fröhlich, pastorale wie behütet und an Beethovens Pastorale, der 6. Sinfonie, erinnernd. Alles wird gut mit AEG und Rama. Mehr Versprechen hielt Musik nie bereit. Die Sonne geht auf, dein Tag ist gerettet. Endlos könnten die ersten Takte der Morgenstimmung fortgesetzt werden, womit sie für die Endlosschleife der Werbung prädestiniert sind.

Deshalb kann man die Fassung der Bühnenmusik von Friedhelm Eberle und Kurt Masur gar nicht hoch genug schätzen. Sie gibt der Komposition das Dramatische anstelle der gefühlstrunkenen Stimmungen zurück, ohne den kompletten Peer Gynt aufführen zu müssen. Auf diese Weise bringen Eberle und Masur Griegs Komposition recht eigentlich zur Geltung. Die Musik wird eine andere.

 

Die Bühnenmusik verweist entschieden auf das Musikdrama, wie es Richard Wagner entwickelt hat. Der bekannte Konflikt des Musikdramas besteht darin, entweder mit Schauspielern arbeiten zu müssen, die nicht singen können, oder mit Opersängern ein Drama aufzuführen, die nicht schauspielern können. Griegs Bühnenmusik an der Grenze zum Musikdrama spiegelt dieses Dilemma des 19. Jahrhunderts wider.    

Die Bühnenmusik korrespondiert durchaus mit dem dramatischen Gedicht von 1867, das Henrik Ibsen erst neun Jahre später auf Wunsch zu einer Bühnenfassung umarbeitete. Wenn sie von Kurt Masur dirigiert und herausmodelliert wird, dann werden in der Musik Schichten hörbar, die man schlicht für unmöglich hielt. Vom populären Versprechenssound bleibt so gut wie nichts übrig. Stattdessen sticht die Dramatik des Peer Gynt hervor.

 

Nach weitläufiger Ansicht wird Peer Gynt als der norwegische Faust aufgefasst. Doch die Konstellation ist eine völlig andere. Während Goethes Urfaust von 1772-1775 im 19. Jahrhundert mit Faust Teil 1 um 1800 und vor allem Teil 2 1825-1831 zum Nationaldrama umgedeutet wurde, greift Peer Gynt eine völlig andere Thematik auf. Kurz: Heinrich Faust will wissen. Peer Gynt lügt. Faust ist Programm. Peer Gynt ist ein Eigenname.   

Das dramatische Gedicht Peer Gynt von Henrik Ibsen in der Übersetzung von Christian Morgenstern (1871-1914) beginnt mit einer Lüge. Die Lüge ist konstitutiv für das Stück. Der erste Satz des Gedichtes und der Mutter wird zum Programm der Dichtung: „Peer, du lügst!“ „Nein, nein ich lüge nicht!“

 

Dann beginnt Peer, die Erzählung vom Ritt auf dem Bock über den Gendingrat fortzusetzen. Er redet sich derart in Rage, dass der Bock und er im Erzählen eins werden:

Da stößt
Plötzlich, wie ein Stein sich löst,
Dicht vor uns ein Schneehuhn auf,
Flattert gackernd, aufgeschreckt,
Aus dem Spalt, der es versteckt,
Meinem Bock, bums! vor die Lichter.

Peer ist, so könnte man sagen, ein Lügenbaron, der selbst zutiefst an seine Lügen glaubt, glauben muss, um nicht selbst in Frage gestellt zu werden. Nachdem er auf dem Hofplatz von Haegstad auf Drängen und Bitten die Geschichte vom Teufel in der Walnuß erzählt hat, zweifelt ein Mann an seiner Geschichte und behauptet, er kenne sie „seit uralten Zeiten“. Das ist in zweifacher Hinsicht eine Kränkung für Peer.

Ihr lügt! Es ist mir passiert.

 

Peers Geschichten passieren ihm und niemandem sonst. Henrik Ibsen hat das mir im Satz betonend hervorgehoben. Die Geschichten machen Peer aus. Indem der Mann behauptet hatte, die Geschichte „seit uralten Zeiten“ zu kennen, stellt er nicht nur ihre Glaubwürdigkeit in Frage, sondern er macht sie Peer auch streitig. Der Mann selbst hätte die (Lügen-)Geschichte erzählen können. Das ist allerdings die größere Kränkung, die man Peer zufügen kann. Was passierte, wenn Peers erfundene Geschichten austauschbar wären und jedem Anderen zugerechnet werden könnten?

 

Peer Gynt ist es gewohnt, dass seine Erzählungen aus seinem eigenen Erleben, angezweifelt werden. Doch eben darin weiß er sich einzigartig. Er weiß sich dadurch als Individuum. Er erzählt, was nur er erlebt haben kann. Die Anderen können das glauben oder nicht. Er weiß ja, dass es ihm passiert ist. Wenn das angezweifelt wird, weil die Geschichte nicht individuell ist, dann gerät Peers ganze Existenz, die eh schon eine schwankende ist, noch mehr ins Wanken.

Es ist wie mit dem Teufel in der Walnuß:

PEER GYNT.               Ich kann den Teufel beschwören.
EIN MANN. Dazu kannt' Großmutter schon den Text.
PEER GYNT. Lügner! Woher, das möcht' ich bloß hören!
Ich hab' ihn einmal in 'ne Walnuß gehext, -
Die war wurmstichtig, seht Ihr!
MEHRERE (lachend.)                   Das läßt sich denken!
PEER GYNT. Er flucht' euch und flennt' euch und wollte mir schenken,
Was immer ich mocht' -
EINER.                                 Aber hinein mußt' er doch?
PEER GYNT. Das mußt' er. Und dann verstopft' ich das Loch.
Hei! Wie er da drinnen nun surrte und summte!
EIN MÄDEL. Nein, so was!
PEER GYNT.       Als ob eine Hummel drin brummte!

EIN MÄDEL. Hast Du ihn noch in der Nuß?

PEER GYNT.                               Nein, nein.
Jetzt ist er längst über Stock und Stein.
Der Kerl ist dran schuld, daß der Schmied mich nicht mag.
EIN BURSCHE. Wie das?
PEER GYNT. Ich geh' nach der Schmied' hin und sag',
Er soll mir doch mal die Nußschal' aufknacken.
Soll geschehn! sagt Aslak und kriegt sie zu packen, -
Doch er faßt auch gleich alles so harthändig an -
Und kommt euch nicht aus ohne Hammerschlag -
EINE STIMME AUS DEM HAUFEN. Erschlug er den Teufel?
PEER GYNT.                       Er schlug wie ein Mann.
Der Teufel aber fuhr wie ein Brand
Quer durchs Dach und zerspliß die Wand.

Glaubt man, man hätte den Teufel mit der Geschichte gefangen, so ist er auch schon quer durchs Dach gefahren. Peer ist, wie der Teufel in seinen Geschichten, nicht zu fassen. Mehr noch, sein Selbst entgleitet ihm wie der Teufel. Es sei denn, man zieht überhaupt brutal in Zweifel, dass Peer oder dem Teufel die Geschichten gehören. Der Zweifel zerschlägt die wurmstichige Nussschale der Existenz. Was zurückbleibt, sind eine zerschlagene Nuss und ein Riss in der Wand. Nichts weiter sonst. Fast nichts.

Peer Gynt trägt nicht nur zerrissene und zerlumpte Kleidung – „(Sieht an sich hinunter.) Die Hosen zerrissen. Zerlumpt, beschmiert. - Wer bloß was Neues zum Wechseln hätte!“ -, er ist in sich selbst zerrissen. Mit anderen Worten: Peer ist ein zutiefst moderner Mensch. Erst die Erzählungen machen Peer zum Individuum. Deshalb erreichen die Erzählungen immer neuere Höhen und werden zu Gratwanderungen.

 

Henrik Ibsen hatte das dramatische Gedicht Peer Gynt 1867 geschrieben. Am 24. Februar 1876 wurde es in Chrstiania, heute Oslo, uraufgeführt. In dieser historischen Konstellation wird die Frage nach dem Individuum drängend. Wenig später wird Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickeln. Carlo Ginzburg hat in Spurensicherung 1983 daraufhingwiesen, dass „im Bereich der Humanwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts stillschweigend eine neue Vorgehensweise aufgetaucht ist: ein epistemologisches Modell“, das „Indizienparadigma“ (S. 78 ff). Dieses ermöglicht es der Wissenschaft, vom Individuum zu sprechen. Das gilt nicht zuletzt nach Ginzburg für die Psychoanalyse.

Peer Gynts Problem ist es, vom Individuum, von sich selbst nur in Lügen sprechen zu können. Deshalb wird im Zweiten Akt in der Szene „Völlige Finsternis.“ „Eine Stimme in der Finsternis“ zum dramatischen Gegner Peers. „Die Stimme“, von der man nicht weiß, wie Peer von ihr zu hören bekam, ob sie in der völligen Finsternis innen oder außen ist, ist zu Beginn der Szene mit einem Mal da. Peer fordert sie unvermittelt zur Antwort auf. „Gib Antwort! Wer bist du?“ Und die Stimme antwortet mit einer Formulierung, die sich nicht bestätigen lässt: „Ich selbst.“

 

Die Antwort der Stimme wird für Peer zur Prüfung. Denn während die Szene mit dem Krummen Edvard Grieg im Andante komponiert hat, verweist die Frage nach dem, wer die Stimme ist, auf Peer selbst. Im Herumgehen, Andante, fragt die Stimme: „Kannst du gleichweis reden?“ Peer antwortet patzig und hilflos: „Ich red, was ich will; …“ Und auf die neuerliche Antwort, „Ich selbst.“, entgegnet Peer nur:

Das dumme Wort

Kannst du dir sparen; das bringt uns nicht weiter fort.

Was bist du?

 „Der große Krumme, Peer! Eine einzige Eins“, antwortet die Stimme schließlich. Der große Krumme ist nicht nur er selbst, vielmehr ist er das Individuum als einzige Eins selbst. Mit anderen Worten: Das Individuum in seiner krummen und kaum bestimmbaren Existenz. Das ist allerdings furchterregend wie die Finsternis, in der die Szene stattfindet. Mögen die Menschen um Peer herum an ihre Lebenslügen glauben, an ihm wird das Individuum selbst zur Lüge.

 

Peer Gynt ist wiederholt als Geschichte um den Selbstfindungsprozess des Protagonisten verstanden worden. Zwar geht es, wie an den nur kurzen Stellen kenntlich gemacht, um Peer selbst, um Peers Selbst und um das Ich. Doch findet Peer es denn? Auf dramatischste Weise erleidet Peer bei seiner Rückkehr von Arabien nach Norwegen Schiffbruch. Peer Gynts Heimkehr ist in einem stürmischen, angriffslustigen Allegro agitato gesetzt. Mehr Fatalismus als Hoffnung auf Rettung. Gibt es ein Happyend in den Armen Solveigs? Oder was geschieht am Ende im Drama wie in der Musik?

An dieser Stelle darf man einen Moment dem Namen Solvejg nachlauschen. Der Mädchenname Solvejg heißt soviel wie der Sonnenweg oder der Weg des Lichts. Man kann den Mädchennamen des Dramas selbstverständlich auf der Ebene der Handlung belassen; man kann aber auch daran erinnern, dass mit dem Weg des Lichts als Licht-Metapher die platonischen Wahrheit aufgerufen ist. Findet Peer, muss man dann fragen, in Solvejg seine wahre Bestimmung? Oder bricht Ibsen hier nicht bereits mit dem Platonismus? 

Es sieht, um es mit aller Härte zu sagen, mehr nach Verzweiflung als nach Happyend und Wahrheitsfindung aus. Es gibt eben keine zusammenfassende Apotheose in der Musik. Es gibt auch in Solvejgs Armen nur die verzweifelte Bitte des Schiffbrüchigen, geborgen zu werden. „Oh, birg mich. Birg mich da drinnen!“ Die Musik klingt im Lento aus. Solvejg „singt lauter im Tagesglanz“ gegen die Verzweiflung des Individuums an:

Ich will dich wiegen, ich will wachen –

Schlaf und träum, mein Junge, schlaf!

Und damit verklingt die Musik. Kurt Masur lässt den hoffnungslosen Befund der Suche nach sich selbst mit Malin Byström als Solvejg und dem Orchester der Komischen Oper sehr leise ausklingen. Das darf man wohl groß nennen. Ein Teil der Stille war Erschütterung.      

Edvard Grieg soll geäußert haben, dass er den Peer Gynt nicht möge. Zum Mögen ist der ganze Furor der Trolle und der Arabischen Tänze selbst das Versprechen der Morgendämmerung wohl ein wenig zuviel. Peer Gynt ist, um es mit einer aktuellen Formulierung zu sagen, äußerst promisk. Ob Ingrid, Solvejg, die drei Sennerinnen, die Grüngekleidete, die Tochter des Trollkönigs, oder Anitra, die Tochter des Beduinenhäuptlings, Peer Gynt will sie alle und kriegt sie alle und ist doch nicht zufrieden. Vor ihm ist keine Frau sicher, weil er nur im petite mort sich selbst finden - und verlieren – kann. Dadurch praktiziert er eine ständige Wiederholung und trotstlose Bestätigung seiner selbst.    

 

Torsten Flüh


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Categories: Oper

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