Entblättert. Oder was ist Blog-Science? - Kleist-Woche und die Berliner Abendblätter im Literaturforum im Brecht-Haus

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Entblättert.
Oder: Was ist Blog-Science?

Kleist-Woche und die Berliner Abendblätter im Literaturforum im Brecht-Haus

 

Roland Reuß, Peter Staengle und KD Wolff sitzen im Literaturforum im Brecht-Haus und erzählen Anekdoten zur Entstehung der Berliner Abendblätter in der Brandenburger Ausgabe. Hinter ihnen an der Wand hängt ein Ölbild, dem sein Maler, Reinhard Stangl, den Titel Botschaft an die Nation gegeben hat. Vor dem Bild und um die vortragenden Editoren haben sich wohl 60 oder mehr Zuhörer eingefunden.

Reuß, Staengle und Wolff sind legendär. Ohne sie sähe die Kleist-Rezeption anders aus. Die Brandenburger Ausgabe der Sämtlichen Werke des Heinrich von Kleist im Verlag Stroemfeld/Roter Stern wurde im Oktober 2010 nach zwanzigjähriger Arbeit abgeschlossen. Demnächst wird die Münchner Ausgabe im Hanser Verlag, die bisher noch auf die Edition durch Helmut Sembdner (1914-1997) basierte, sozusagen durch die Brandenburger als Taschenbuch ersetzt. Ein Epochenwechsel. Was ist daran so spektakulär?

 

NIGHT OUT @ BERLIN Besprechungen der Nacht @ Berlin knüpft seit dem 15. Juni 2009 an Kleists Berliner Abendblätter an. Denn Roland Reuß und Peter Staengle als Herausgeber haben seit Mitte der 80er Jahre, als der junge Heidelberger Literaturwissenschaftler Reuß auf den  Verleger Wolff bei der Frankfurter Buchmesse zukam, das Verständnis der Texte Heinrich von Kleists entschieden verändert. Übten sich die bisherigen Herausgeber in einer Normalisierung und orthographischen Angleichung der Texte, so verschafften Reuß und Staengle Kleists eigenwilligen Schreibweisen allererst Aufmerksamkeit.

 

Diese Verschiebung in der Herausgabe der Texte Heinrich von Kleists war keinesfalls selbstverständlich. Einige Anekdoten zum Verhalten ehemaliger Präsidenten der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft e.V., von Ministerialräten, Referenten, Ministern und Journalisten in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts trugen am Dienstagabend zur allseitigen Belustigung bei und lassen sich auch Unwissenschaftliche Nachschrift im Internet nachlesen. Wissenschaftspolitiken haben mit Institutionen und Personen zu tun. Mittlerweile sind Reuß und Staengle nicht zuletzt durch das von ihnen gegründete Institut für Textkritik in Heidelberg hoch angesehen und professorabel. Roland Reuß ist seit 2007 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg und hielt am 27. Januar 2011 an der Freien Universität Berlin seine Antrittsvorlesung als Honorarprofessor mit dem Titel: Philologie als Interpretation und Textkritik. Gedanken zur geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung.

Karl Dietrich Wolff, der als SDS-Vorsitzender in der 68er-Bewegung stritt, und kurz KD genannt wird, hat als hervorragender Verleger „sein“ Bundesverdienstkreuz bekommen. Wenn er sich zum Zeitgeschehen äußert, geschieht es weiterhin in polemischen Formulierungen. Und verschworene Genossen sind Wolff, Reuß und Staengle immer noch. Wie sie mit den Anekdoten die Summen für Kleist-Ausstellungen gegen Editionen hochrechnen oder KD die letzte Olympia-Bewerbung Berlins und 200 Millionen verschwundene Deutsche Mark mit Klassiker-Editionen verrechnet, hat noch immer einen kämpferischen, linken Gestus.


Spree, 27. Juli 2011, 08:06:25

Doch dann liest Peter Staengle die Kleist-Erzählung Das Bettelweib von Locarno, die im 10. Blatt der Berliner Abendblätter am 11. Oktober 1810 erschien. Das Bettelweib von Locarno geriet sozusagen als „kleine Prosaform“ um 1900 ins Interesse der Kleist-Forschung. Doch es ist nicht nur die Kurzprosa, durch die Heinrich von Kleist die Berliner Abendblätter strukturiert. Vielmehr ist es Kleist als Redakteur der von ihm herausgegebenen Zeitung, der das Projekt Tageszeitung befragt, wendet und durch witzige Fußnoten bis zum „Druckfehler“ in seiner Textlichkeit selbst inszeniert.


Spree, 27. Juli 2011, 08:10:33

 

Roland Reuß spricht als Herausgeber mit mikrologischer Kenntnis der Texte Kleists von deren „eigener Textpolitik“. Textpolitik ist politisch. Das lässt sich retrospektiv an der reglementierenden Textgestaltung durch frühere Kleist-Herausgeber festmachen wie auch an den Folgen, die die „eigene Textpolitik“ berücksichtigt. Als Philologe hat Roland Reuß dadurch nicht zuletzt die Disziplin der Philologie in Richtung einer Philo-Semiotik verschoben. Das Zeichen im Text setzt seine eigene Logik frei.


Spree, 27. Juli 2011, 08:11:53

 

In dem Maße wie Kleist in seinen Berliner Abendblättern nicht müde wird, auf das Zeichen beispielsweise als Druckfehler hinzuweisen, rückt er das Zeichen als Akteur im Vorgang des Erzählens ins Interesse. Die Berliner Abendblätter praktizieren mit dem Druckfehler eine Befragung der Lese- und Wahrnehmungsprozesse, die erst in der Wiederholung des Nachlesens eines Druckfehlers, diesen selbst zum Fragensteller eines fraglos überlesenen Textes macht. Erst im Nachhinein entsteht durch ein Nach-Lesen ein anderer Sinn.


Spree, 27. Juli 2011, 08:12:12


So lautet der Text zum Druckfehler am 9. Oktober 1810 im 8. Blatt der Berliner Abendblätter:

7tes Blatt. Seite 28. Zeile 16 von oben: lies gemahlt statt gemacht. (BKA S. 46)

Kleist hatte am 8. Oktober eine Besprechung mit dem Titel Kunst-Ausstellung (BKA S. 33-34) der Königlichen Akademie der Künste von Georg Philipp Ludolph von Beckedorff (1778-1858) veröffentlicht. Im Kontext der Ausstellungsbesprechung wird am 13. Oktober, sozusagen eingerückt, der berühmte Aufsatz Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft (BKA S. 61/62) erscheinen.


Spree, 27. Juli 2011, 08:17:00

 

Bekanntlich hatte Kleist einen Text zu Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer von Achim von Arnim und Clemens Brentano redaktionell so verändert, dass es zu einem Eklat mit den Autoren kam und Kleist am 22. Oktober im 19. Blatt eine Erklärung als Fußnote veröffentlichte, in der es heißt:

… nur der Buchstabe desselben gehört den genannten beiden Hrn.; der Geist aber, und die Verantwortlichkeit dafür, so wie er jetzt abgefasst ist, mir. H. v. K. (BKA S. 102)

Einmal abgesehen davon, dass mit dieser „Erklärung“ die Autorschaft des Textes durchaus fragwürdig wird, weist Kleist an dieser Stelle mit dem „Buchstabe(n)“ auf eine Buchstäblichkeit des Textes hin. 


Spree, 27. Juli 2011, 08:17:54

 

In Beckedorffs Text zur Kunst-Ausstellung geht es eröffnend um ein Porträt der mehr oder weniger kurz zuvor am 19. Juli 1810 verstorbenen Königin Luise von Preußen. Der Wunsch nach einem Porträt der Königin ist so groß, dass der ehemalige Arzt und preußische Staatsbeamte Beckedorff dieses zum Hauptthema der Ausstellung macht:

Gestern endlich ist auch das Porträt der hochseeligen Königinn vom Herrn Wilhelm Schadow auf die Ausstellung gebracht worden. (BKA S. 33)  

Einerseits erwähnt Beckedorff, dass es „bey Lebzeiten Ihrer Majestät … keinem Mahler gelungen“ war, „ein nur einigermaaßen ähnliches Bild von Ihr hervorzubringen“. Andererseits erklärt später „Seine Majestät, der König,“ das „Schadowsche Porträt“ für „das ähnlichere“. Die Frage nach der Ähnlichkeit eines Bildes wird die folgende, in den Berliner Abendblättern geführte Diskussion um die Kunst-Ausstellung beschäftigen.


Spree, 27. Juli 2011, 08:19:10

 

Im Kontext des postumen Porträts einer Toten formuliert Beckedorff die rhetorische Frage, die sich scheinbar selbst beantwortet und in der es zum „Druckfehler“ kommt:

… Aus welchem anderen Grunde werden wir von den Porträten alt-deutscher Meister so unwiderstehlich angezogen, als weil wir dort menschliche Gesichter erblicken, die sich gleich uns kund geben, mit denen die Bekanntschaft so leicht gemahlt ist, die wir schon gekannt zu haben glauben? … (BKA S. 38)

…: lies gemahlt statt gemacht. (BKA S. 46) 
10-11 gemahlt] gemacht BA <vgl. die Druckfehlerkorrektur BKA II/7, 46 18-20>

Mit anderen Worten: Der Druckfehler war gar keiner. Doch wenn man den Druckfehler korrigiert und „gemahlt statt gemacht“ liest, dann gerät die Frage, die scheinbar schon ihre Antwort enthält, wirklich zu einer Frage. Denn der Druckfehler bringt in Erinnerung, dass es bei diesem Bekanntschaft-machen um gemalte Porträts geht. Man könnte ein derartiges Druckfehler-Verfahren auch eine medienwissenschaftliche Methode nennen.


Spree, 27. Juli 2011, 08:20:20

 

Welche Fragen können mit dem Druckfehler angeschnitten werden? Zunächst geht es um das Erblicken von „menschliche(n) Gesichter(n)“. Dann geht es um die Porträtierten „alt-deutscher Meister“, also um Porträtierte, die schon lange tot sind und die wir nie „bey Lebzeiten“ erblickt haben. Weiterhin geht es darum, wen oder was „wir schon gekannt zu haben glauben“. Es geht demnach allererst, um das, was „wir“ im Modus eines nachträglichen Wissens bereits vorher „gekannt zu haben glauben“. In der Art und Weise wie Beckedorff das Wissen als rhetorische Frage, also in einer Figur der Täuschung, weil die Frage keine Frage, sondern bereits die Antwort enthält, formuliert, wird die Selbsttäuschung über das Wissen „menschliche(r) Gesichte(r)“ und das, was ein Gesicht des Menschen ist, allererst zur Antwort. Die Antwort erweist sich durch die Rhetorik als Täuschung „dort“ erblickter menschlicher Gesichter.


Spree, 27. Juli 2011, 08:21:36

 

Der Druckfehler ist mikrologisch: „gemahlt statt gemacht“: l statt c. Aber das „c“ muss um eine Position in der Buchstabenstellung zurück verschoben werden. Die Mikrologie erweist sich als weitreichend. Denn sie verschiebt den Sinn als Entstellung auf folgenreiche Weise. Dort, „dort“, wo „die Bekanntschaft so leicht gemacht“ wurde, gerät das versprochene Wissen außer Kontrolle. „Wir“ als dreimaliges Subjekt des Haupt-, Kausal- und des abschließenden Relativsatzes hatten geglaubt zu wissen, mit wem oder was und wo wir die Bekanntschaft machen.


Spree, 27. Juli 2011, 08:22:20

 

Die landläufige Formulierung, eine Bekanntschaft machen, hakt an der Stelle, wo sie „gemahlt ist“. Man malt eine Bekanntschaft nicht. Es sei denn, dass man darauf aufmerksam machen will, wie künstlich oder künstlerisch das Bekanntschaft-machen ist. Doch dies läuft der weithin gebräuchlichen Formulierung in der rhetorischen Frage sinnentstellend entgegen. Indem die rhetorische Frage an der medialen Schnittstelle von gemaltem Porträt und „menschliche(n) Gesichter(n)“ so gestellt wird, als beantworte sie sich von selbst, wird das Wissen „dort“ installiert, wo es mit „gemahlt statt gemacht“ fragwürdig wird.


Spree, 27. Juli 2011, 08:24:56

 

Die Suche nach einem Bild von Heinrich von Kleist ist der nach einem Porträt von Königin Luise nicht unähnlich. Erst im 19. Jahrhundert setzte eine postume Porträtproduktion ein. Reinhard Stangl zeigt nun im Literaturforum im Brecht-Haus ein kaum kenntliches Porträt und mit dem großformatigen Ölbild Botschaft an die Nation einen „Versuch über Heinrich von Kleist“. Die Fahne Frankreichs liegt auf dem Bild am Boden und Kleist steht breitbeinig daneben. „Ebenso werde ich ein Bild Kleists zeigen, denn wie wir wissen, gibt es kein authentisches Gemälde oder Abbild von Kleist“. Was ein „authentisches Gemälde oder Abbild“ sein könnte, bleibt bezüglich des Druckfehlers dahingestellt.


Spree, 27. Juli 2011, 08:25:28

 

Was ist ein menschliches Gesicht und was nicht? Was ist ein Bild? Was ist ein Druckfehler? Heinrich von Kleist organisiert und konstelliert Texte in den Berliner Abendblättern so, dass jener journalistische Prozess der Zeitung von Tag zu Tag immer wieder durchbrochen wird. Der journalistische Prozess besteht nicht zuletzt in Tagesbegebenheiten. (BKA S. 10) vom allerersten Blatt der Berliner Abendblätter am 1. Oktober 1810. Doch diese Tagesbegebenheiten. beginnen mit einem ebenfalls gesperrt gedruckten Stadtgerücht.


Spree, 27. Juli 2011, 08:25:50

 

Bereits die Eröffnung der Zeitung mit einer journalistischen „Tagesbegebenheit“, auf die ein „Stadtgerücht“ folgt, das auch die Begebenheit tendenziell zu einem Gerücht macht, rückt die Ursprungsfrage von Tagesbegebenheit und Zeitung ins Interesse. Dem Gerücht kann man nicht habhaft werden. Das Wesen eines Gerüchtes besteht nämlich darin, dass es schlüpfrig entgleitet und sich sein Ursprung nicht anders als im Prozess des Erzählens selbst ermitteln lässt. Die „Tagesbegebenheit“ wird sich insofern nur begeben haben, als sie erzählt worden sein wird.


Spree, 27. Juli 2011, 08:28:26

 

Im wiederholten Erscheinen der Tagesbegebenheiten., des Polizei-Rapport., Polizeiliche Tages-Mittheilungen. (BKA S. 35), Gerüchte. (BKA S. 36) kommt es am 8. Oktober im 7. Blatt zu einem Polizei-Ereigniß.  Das „Polizei-Ereigniß vom 7. Oktober.“ ist und wird einmalig bleiben. Die Einmaligkeit des Ereignisses ist ein Unfall, der keine Wiederholung finden wird:

Ein Arbeitsmann, dessen Namen noch nicht angezeigt ist, wurde gestern in der Königsstraße vom Kutscher des Professor Grapengießer übergefahren. Jedoch soll die Verwundung nicht lebensgefährlich sein. (BKA S. 40)  


Spree, 27. Juli 2011, 08:28:54

Das Ereignis findet indessen im Charité-Vorfall (BKA S. 63) am 13. Oktober eine unerwartete und witzige Erzählung. Im Modus einer Glosse wird von dem „übergefahrne(n) Mann“ berichtet. Glossiert wird „übergefahren“. Denn in dem schwer verständlichen Vorfall des Übergefahren-worden-seins besteht nicht zuletzt die Ereignishaftigkeit des Polizei-Ereignisses. Eine Glosse verfolgt die Erklärung oder Deutung eines schwer verständlichen Wortes durch weitere Deutungen. Genau das praktiziert Heinrich von Kleist mit dem Charité-Vorfall mit einem „abgefahren“, „ausgefahren“, „zusammen gefahren“, einer „Überfahrt“ und einem „hineingefahren“. - Die Zeitschrift der Portugiesischen Germanistik, Runa, hat mit ihrer Ausgabe 28, 1999-2000, dem Charité-Vorfall mehrere Aufsätze gewidmet.  


Spree, 27. Juli 2011, 08:39:14

Mit dem Charité-Vorfall geht es nicht zuletzt um die „Doktoren“ der Charité, die als Chirurgen an dem Übergefahrenen herumoperieren. Dabei kommt es zu einer „jämmerliche(n) Verstümmelung“ des Körpers. Allerdings existiert dieser verstümmelte Körper allein in seiner „jämmerliche(n) Verstümmelung“. Dies ist insofern, unter Anknüpfung an die Veranstaltung vom Dienstagabend im Literaturforum, nicht ganz uninteressant, als Peter Staengl als letzten Text Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten. (BKA II/8 II, S. 42ff) aus den Berliner Abendblättern vom 10. Januar 1811 vorlas.  


Spree, 27. Juli 2011, 08:39:58

In den Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten. erzählt „ein alter Officier in einer Gesellschaft“ drei Geschichten. In der ersten Geschichte wird ein „Chirurgus“ herbeigerufen, um eine ungewöhnliche, unerklärliche „Wunde“ zu untersuchen

und fand, dass die Kugel vom Brustknochen, den sie nicht Kraft genug gehabt, zu durchschlagen, zurückgeprellt, zwischen der Ribbe und der Haut, welche elastische Weise nachgegeben, um den ganzen Leib herumgeglitscht, und hinten, da sie sich am Ende des Rückgrads gestoßen, zu ihrer ersten senkrechten Richtung zurückgekehrt, und aus der Haut wieder hervorgebrochen war. Auch zog diese kleine Fleischwunde dem Kranken nichts als ein Wundfieber zu: und wenige Tage verflossen, so stand er wieder in Reih und Glied. (BKA S. 43)

Das Untersuchungsergebnis des „Chirurgus“ verprellt nicht zuletzt alle Zuhörer und Leser, die da an das Offensichtliche glaubten, dass die Kugel einen direkten Weg durch „den ganzen Leib“ genommen hätte, der tödlich gewesen wäre. Stattdessen nimmt die Kugel ihren Lauf „zwischen der Ribbe und der Haut“, die zwar eine „kleine Fleischwunde“ bahnt und auch ein „Wundfieber“ verursacht, das in der Regel um 1800 mangels Antikiotika tödlich verläuft, doch am Schluss, nach etlichen Gliedersätzen, „stand er“ wie die Buchstaben „wieder in Reih und Glied“. 


Spree, 27. Juli 2011, 08:40:10

Was macht Kleist mit den Berliner Abendblättern? Indem Maße wie Heinrich von Kleist vom ersten bis zum letzten Blatt das Medium Tageszeitung mit der Frage nach dem Erzählen durchdringt und durcharbeitet – „Erzählen Sie, riefen einige Mitglieder, erzählen Sie!“ (BKA S. 42) -, befragt er die Bedingungen des Erzählens, auch und nicht zuletzt als erzähltes Wissen. „… erzählen Sie!“ Das Erzählen ist nicht zuletzt ein Befehl an den Offizier, selbst wenn „die Wahrscheinlichkeit … nicht immer auf Seiten der Wahrheit“ steht. Erzählen Sie, lautet der Befehl an die Medien. - Er gilt bisweilen auch für einen Blog.


Spree, 27. Juli 2011, 08:40:16

Am 30. März 1811 schließt Kleist „das Abendblatt“ mit einer Anzeige. (BKA S. 381) Der letzte Satz lautet:

Dem Publiko wird eine vergleichende Übersicht dessen, was diese Erscheinung leistete, mit dem, was sie sich befugt glaubte, zu versprechen sammt einer historischen Construktion der etwanigen Differenz, an einem anderen Ort vorgelegt werden. H. v. K.

Wo dieser Ort sein könnte und wo er gewesen sein werde, konnte Heinrich von Kleist nicht wissen. Doch er wusste, dass es sich um eine „Construktion der etwanigen Differenz“ handeln müsste.


Spree, 27. Juli 2011, 08:40:16

Was könnte mit Kleist eine Blog-Science leisten? Wie in den Berliner Abendblättern müsste es um ein beharrliches Durcharbeiten des Mediums Blog gehen. Zwischen Disziplinen einer Wissensgesellschaft müssten die Bedingunen des Wissens zwischen Bildern und Texten befragt werden. Kleists seinerzeit weit ausgespanntes Schreiben über Tagesbegebenheiten, Chirurgie, Bildung, Theater, Kultur, Medien, Kunst, Erfindungen, Aeronautik usw. müsste mit dem Gestus des Einmal in das ad hoc des Blogs eingeschrieben werden. Vorschnell beantwortete Fragen an das Schreiben eines Blogs müssten wieder und wieder anders gestellt werden.


Spree, 27. Juli 2011, 08:42:52

Es sei für diesmal abschließend an die Frage des Bildes und dessen eines menschlichen Gesichtes erinnert. Ganz aktuell ist mit der Katastrophe von Oslo an das Enthüllen und Verbergen eines Gesichtes zu erinnern. Anders Behring Breivik arbeitete die Frage nach Islam und Nation und sich selbst nicht durch.  Er arbeitet sich daran ab. Es liegt ein großer Schrecken in dem tausendfünfhundertseitigen Pamphlet, das zur Zeit diskutiert wird. Das Pamphlet handelt nicht zuletzt von einem obsessiven Wissen von den Anderen.

Indessen ist das aktuelle Verbergen des Gesichtes durch Unschärfe eine erstaunliche und vermutlich in dieser Weise erstmalige Praxis der Medien. Denn am Tag nach den Anschlägen in Oslo wollte alle Welt wissen, wer der Mensch sei, der dieses entsetzliche Verbrechen begangen hatte. Und es gab sogleich Porträts von einem überraschend gut aussehenden, jungen Mann. Sie kursierten bereits im Internet. Anders Behring Breivik wollte gesehen werden, so wie er sich auf narzisstische Weise gern gesehen hätte.


Spree, 27. Juli 2011, 08:44:36

Offenbar trafen zwei besonders starke Formationen von Medialisierung im Porträt von B. zusammen. In dem Verlangen nach einer möglichst schlüssigen Erzählung zur Katastrophe – Erzählen Sie! – konnte mit den Porträts die Frage nach dem Wer beantwortet werden. Andererseits kreuzte sich im Porträt das Wissen um die Person mit dem tief verunsicherten Narzissmus des Attentäters. Die Medien bedienten auf ihre Weise das narzisstische Kalkül des Porträtierten. In seiner Vernehmung vor dem Haftrichter hat Anders Behring Breivik einen Computer zur Internetnutzung gefordert.


Spree, 27. Juli 2011, 08:45:10

Doch indem in Kommentaren im Internet sehr schnell darüber diskutiert wurde, ob der Attentäter ein Recht auf Unkenntlichmachung seines Gesichtes bis zum Urteil habe oder nicht, ob die Präsenz der Bilder nicht gerade die Ziele des Attentäters einlöse oder nicht, ob der Attentäter durch seine Tat nicht gar seine Rechte als Mensch verwirkt habe, ob nicht gerade die tausendfünfhundertseitige Begründung und Erklärung des Attentats verrückt sei, setzte eine Verunsicherung ein, die nun darin mündet, dass das Porträt verschleiert wird, obwohl alle Welt weiß, wie er aussieht und was er denkt. Die Verschleierung durch Unschärfe erfüllt möglicherweise die Abwehr eines Bösen Blicks.


Spree, 27. Juli 2011, 08:46:28

Darüber wäre weiter zu arbeiten.

 

Torsten Flüh

 


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