Autorität – Parasit – Vater
„In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt.“
Avital Ronells Vortrag „What Was Authority?” im Trajekte-Tagungsraum des Mosse-Hauses
In seinem Brief an den Vater schreibt Franz Kafka:
In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt.
Was kann man mehr von einer Autorität sagen? Ob der große Verleger Rudolf Mosse (1843-1920) eine Autorität war, wissen wir nicht. Für Avital Ronells Vortrag am 30. Juni 2010 zur Frage, was Autorität war, jedenfalls ist Franz Kafkas Brief an den Vater von 1919 wichtig.

Kafkas Vater Hermann wurde 1852 geboren und starb 1931. Wie Rudolf Mosse in Berlin so hatte sich Hermann Kafka um die Jahrhundertwende aus kleinsten Verhältnissen in Prag für seinen Sohn zu einem Riesen hochgearbeitet. Denn Franz nennt seinen Brief an den Vater doppeldeutig wenig später gegenüber Milena Jesenská „den Riesenbrief“.

Der Riesenbrief und vor allem, wie Kafka ihn abgefasst hat, gehörte für Avital Ronells Vortrag im Trajekte-Tagungsraum, der sich in eben jenem ehemaligen Verlagsgebäude des liberal-konservativen Verlegers Mosse befindet, das zu den Herzstücken des Berliner Zeitungsviertels zählte, zu jenem literarischen Material, das die Frage nach der Autorität aufwirft. Ronell hatte Ihren Vortrag im Untertitel vieldeutig A Parasite’s Report (On the Defeat of Politics since Kafka) genannt: Bericht eines Parasiten (Über die Niederlage der Politiken seit Kafka).

Werfen wir kurz einen Blick auf das Berliner Zeitungsviertel um die Jahrhundertwende, bevor Avital Ronell mit ihrem dekonstruktivistischen Vortrag aus einer Konstellation von Texten von Emmanuel Levinas, Hannah Arendt, Herbert Marcuse, Martin Luther, Alexandre Kojève und Franz Kafka nach der Autorität fragt. Das Berliner Zeitungsviertel war um 1900 das größte der Welt.

Rudolf Mosse war neben Leopold Ullstein (1826-1899) der größte unter den Großverlegern. Mit ihnen konnte nur August Scherl (1849-1921) konkurrieren. Doch während Ullstein und Mosse auf Seriosität bedacht waren, hatte Scherl eine Neigung zum Operettenhaften, wenn man es einmal so nennen will. Seine spätere Frau soll er auf einem Foto in einer Zeitung gesehen, sich sofort verliebt, Nachforschungen anstellen lassen und ihr umgehend auf einem Bauernhof in den Alpen einen Heiratsantrag gemacht haben.

Das Verlagshaus Rudolf Mosse in der Jerusalemerstraße Ecke Schützenstraße wurde zwischen 1900 und 1903 in einer Mischung aus Neo-Barock und Jugendstil vom Architekturbüro Cremer & Wolffenstein erbaut. Damit spiegelt es auch eine geistige Haltung wieder. Der Neo-Barock kann als bürgerlich-konservative Haltung gelten, während der Jugendstil einen nicht nur ornamentalen Aufbruch vor allem in den schmiedeeisernen Elementen beansprucht.

Im Schmuck des Verlagshauses kehren Drucktypen auf vielfache Weise wieder. Am Empfangstresen und auf einem collagenartigen Bild neuerlich, Bleisatz. An der Fassade findet sich ein Satz Drucktypen spiegelverkehrt. Währenddessen spricht Avital Ronell in Bezug auf Autorität davon, dass wir, die Anwesenden, uns über ähnliche Leselisten einander spiegeln: we are mirroring each other.

Während der revolutionären Unruhen am Ende des Ersten Weltkrieges 1918/1919 wurde die Sandsteinfassade durch Beschuss bei Straßenkämpfen stark beschädigt. Das Verlagshaus ließ Postkarten von den Zerstörungen des Mosseschen Zeitungshauses drucken. Mosses Nachfolger und Schwiegersohn Hans Lachmann-Mosse (1885-1944) soll darauf bestanden haben, dass die revolutionären Schäden nicht beseitigt werden, sondern bei der Vergrößerung und Umgestaltung des Verlagsgebäudes von 1920 bis 1923 durch Erich Mendelssohn (1887-1953) sichtbar erhalten bleiben. Es lässt sich mit der Frage nach der Autorität ein Bogen schlagen vom stark zerstörten Mosse-Verlagshaus zu den Schäden in Kafkas Brief an den Vater.

Avital Ronell hat in ihrem performativen Vortrag Autorität nicht nur befragt, vielmehr hat sie durch ihre Art und Weise des Vortrags wiederholt die Autorität unterlaufen. Vortrag als Performance im Sinne Derridas. Man kann dies durchaus eine performative Kunst der Dekonstruktion nennen, der trotzdem eine philosophische Strenge eigen ist. Wie verhält es sich mit der Autorität der Rednerin am Vortragspult einer akademischen Institution? Wo schleicht sich Autorität ein? Und lässt sich die Autorität der Sprechenden ohne weiteres dadurch unterlaufen, dass sie eingangs die Zuhörer dazu auffordert, sie zu unterbrechen?

Avital Ronell war bereits Performance-Künstlerin, bevor sie eine akademische Laufbahn durch Studien bei Jacob Taubes, Jacques Derrida, Hélène Cixous einschlug. Wobei die grammatische Konstruktion des Nachzeitigen ebenso schwierig sein könnte wie die einer Kausalität. Unterdessen ist der Vortrag nicht ohne seine performative Ausführung zu verstehen. Gerade in dem Maße wie sie die Performance einsetzt und philosophische Axiome formuliert, wird sie zur strengen Philosophin.
Das Performative hat Folgen, die bisweilen unterschätzt, überhört und übersehen werden. Denn es bekommt einen durchaus komischen Zug, wenn in der Diskussion Zuhörer dennoch so fragen, dass sie Antworten begehren. Zum Komplex der Autorität gehört nicht zuletzt die Art und Weise des Vortrags wie der der Fragen in einer Diskussion.

It was about performing authority. Avital Ronell führt den sehr komplexen Vorgang von Autorität vor. Lässt sich Autorität umgehen, auflösen gar? Allein schon mit der Formulierung der Frage „What Was Authority?“ wird das Denken der Autorität berührt. Das Past Tense drückt im Englischen eine abgeschlossene Vergangenheit aus. Im Unterschied dazu würde die Formulierung im Present Tense eine ontologische Präsenz der Autorität behaupten: What Is Authority? Doch Ronell spricht wiederholt vom Schwinden (vanishing) der Autorität.
Die Frage nach der Autorität hängt nach Ronell auch damit zusammen, dass „everyone wants to judge“. Jeder will nicht nur entscheiden, sondern über etwas urteilen, richten, Recht sprechen. Sie stellt die Frage nach der Autorität ebenso in den Kontext einer „idea of selfauthority“. Was passiert, wenn „authority slips away“, wenn jemandem Autorität entgleitet?

Zu beobachten war während des Vortrages, dass selbst Zuhörer, die schon einen Block für Notizen in der Hand hatten, sich fast keine machten. Bei einigen Zuhörern blieb die Seite fast leer. Weshalb wissen wir nicht.
War es, weil die Axiome - beispielsweise: man is no more god; man is no more subject of history; find other types of relationship - fast schlagartig aufeinander folgten? Oder wurde das Notizenmachen durch den hohen Grad der Aufmerksamkeit, den der Vortrag erforderte, bisweilen erschwert? Es könnte eine Frage sein, was die Aufmerksamkeit für den Vortrag mit dem Sinn macht.
Avital Ronell ist Professorin für Philosophie an der European Graduate School in Saas-Fee und Professorin für Deutsch, Vergleichende Literaturwissenschaft und Englisch an der New York University, wo sie das Forschungsprojekt zu Trauma und Gewalt leitet. Authority als Thema beschäftigt sie schon länger. Bereits im September 2009 hatte sie in Saas-Fee einen Vortrag über Authority gehalten, der einen Eindruck ihrer Vortragsweise vermittelt.

Was macht Franz Kafkas Brief an den Vater zu einem Schlüsseltext einer dekonstruktiven Lektüre von Autorität? Kafka beginnt seinen Brief mit einer Begründung, weshalb er ihn schreibt:
Liebster Vater,
Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir …
Doch die Begründung der Furcht, die zweifelsohne mit der Autorität des Vaters verknüpft ist, misslingt im Schreiben in dem Maße, wie Kafka sein Verhältnis zum Vater darstellen will.

Die Nichtigkeit seiner selbst formuliert Kafka eingangs in der Erzählung einer Kindheitserinnerung, nach welcher er eines Nachts wiederholt unnötig nach Wasser verlangt hatte.
… Das für mich Selbstverständliche des sinnlosen Um-Wasser-Bittens und das außerordentlich Schreckliche des Hinausgetragenwerdens konnte ich meiner Natur nach niemals in die richtige Verbindung bringen. Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, dass der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und dass ich also ein solches Nichts für ihn war.
Das war damals ein kleiner Anfang nur, aber dieses mich oft beherrschende Gefühl der Nichtigkeit (ein in anderer Hinsicht allerdings auch edles und fruchtbares Gefühl) stammt vielfach von Deinem Einfluss. …
Was Kafka auch später in seinem Brief, den er dem Vater nicht geschickt hat, nicht gelingen will, ist das Widersprüchliche der Autorität des Vaters trotz aller Traumata aufzulösen. Es bleibt auf quälende Weise ambivalent, über die Erziehungsmethoden des Vaters zu richten. Dass sie nicht gerecht waren, steht außer Frage. Aber was wären gerechte Methoden? Was wäre eine gerechte Politik?

Avital Ronells Arbeiten über Autorität, die nicht zuletzt Autorschaft in Frage stellen, versprechen die Aussicht auf eine Publikation zu diesem Thema. Man kann nur hoffen, dass Ronell bald ein Buch zu Autorität und Politik verfassen wird. Es wird sicher für anregende Diskussionen sorgen. Gespannt wird man dann auch darauf sein, welchen Raum Kafka dabei einnehmen wird.
Torsten Flüh
PS (06.07.2010): Es ist ein Vergnügen, mit Avital Ronell zu korrespondieren. Auf diesen Artikel hin reagierte Avital äußerst charmant. Sie fühlte sich inspiriert und wünschte sich insbesondere den Hinweis, dass ihr Vortrag einige wichtige philosophische Axiome formuliert habe.
Diese sollen nicht unterschlagen werden. Sie wurden allein ausgespart, weil das Bloggen auch manchmal Beschränkungen, Verkürzungen auferlegt.
Avital Ronells Vortrag über Autorität hat nicht zuletzt und sogar vor allem seinen Hintergrund in den verheerenden und unberücksichtigten Schäden der Bush-Administration. Sie versteht ihre Arbeit am Politischen als eine kämpferische, politische Haltung, die oft aus Karrieregründen aufgegeben wird. Deshalb versucht Ronell, aktuelle, institutionelle Gewißheiten zu destabilisieren.
Dem allgemeinen Verständnis von Politik stellt sie ein psychoanalytisches entgegen. Denn das Politische entsteht nach Freud durch die Bewegung vom Narzissmus zur Identifikation. Sie argumentiert mit ihrer Arbeit ebenso für eine Verschiebung in der Tropologie von einem väterlichen Paradigma zu Fragen des Urteilens, was oben auf andere Weise formuliert worden ist. Nicht zuletzt zeigt sie, dass das Zögern vor der Identifikation, dessen konstitutive Nichtvollendung und Nichtvollzug, nach Freud für die historische Panik verantwortlich ist.
Von geradezu bestechender Deutlichkeit werden Avital Ronells Fragen durch die (Nicht-)Reaktion, (Nicht-)Bewegung, Starre der amerikanischen Öffentlichkeit auf die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko eingeholt. Angesichts der Ölkatastrophe verharrt die amerikanische Öffentlichkeit in einer Untätigkeit, obwohl durch die Untersuchungsausschüsse klare Ursache für die Katastrophe benannt werden konnten. Es ist zu befürchten, dass die Starre einen Moment vor der Panik ausmacht.
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