Respekt in der Welt des Kickboxens - Zu Dalibor Musics Meisterschaftskampf bei der Dessauer Boxnacht 2013

Respekt – Kickboxen – Text

 

Respekt in der Welt des Kickboxens

Zu Dalibor Musics Meisterschaftskampf bei der Dessauer Boxnacht 2013

 

Die Welt des Kickboxens ist ein komplexes Gewebe aus Zurufen, Show, Gefühlen, Sex, Schrift und Bild, Familie, Respekt, Social Media, SMS-Nachrichten von Handy zu Handy, Konsum, Dessous, Autos, SUVs, Nebelmaschine und Pyrotechnik, Hoodies, Hosen mit Message, tätowierten Körpern, Ernährungsplan und Gewichtskontrolle, Muskeln und Medizin. Sie ist ein Cluster aus Wissensformationen, die einander durchdringen, verschieben und verändern. Ein neuer Star in der Welt des Kickboxens ist Dalibor Music (24) aus dem Wedding in Berlin.

 

Am 16. November 2013 hatte Dalibor Music in der Universal Hall in Berlin-Moabit den Weltmeistertitel der World Kickboxing and Karate Union, WKU, einem der größten Fachverbände für Kickboxen und modernes Sportkarate mit Sitz in Karlsruhe unter dem Präsidenten Klaus Nonnenmacher, gewonnen. Am 7. Dezember trat er gegen seinen Herausforderer Steven Kitzing (30) bei der 3. Dessauer Boxnacht als ein Höhepunkt im 11. Kampf des Abends um den Titel der Internationalen Deutschen Meisterschaft K1 an. Steven Kitzing beendete mit dem Kampf seine Profikarriere in seiner Geburtsstadt, wo er beim PSV Dessau zum ersten Mal mit 16 boxte, und machte seiner Freundin einen Heiratsantrag.

 

Von der Welt des Kickboxens zu schreiben, heißt nicht nur von einem „übertriebenen Schauspiel“ zu schreiben, wie es Roland Barthes 1957 in seinem Sammelband Mythologies von der „Welt des Catchens“[1] tat. Im Vorwort zur Neuveröffentlichung seines Buches rahmte er es quasi neu und schrieb im Februar 1970, dass das Buch „einerseits eine Ideologiekritik, die sich auf die Sprache der sogenannten Massenkultur richte()“ und „andererseits das einer ersten semiologischen Demontage dieser Sprache“.[2] Zwar dockt die mit NIGHT OUT @ BERLIN praktizierte Blog-Wissenschaft an Roland Barthes‘ Ideologiekritik und semiologische Demontage an, dennoch zeichnet sich die Welt des Kickboxens gerade dadurch aus, dass sie sich nicht als abgeschlossene Mythologie[3] eines bestimmten Bereichs von Kultur oder Massenkultur betrachten lässt. Vielmehr kann sie als ein hoch komplexer und sich ständig neu generierender Text aus Wissen, Vorschriften, Regeln, Blicken und Geboten formuliert werden.  

Der Polizeisportverein Dessau-Anhalt e.V., gegründet 1922, wird vom Innenministerium des Bundes gefördert und hat heute ebenso eine Thai-Kick-Boxen-Abteilung, wie sich die Taykan Sportarena in der Gerichtstraße Ecke Neue Hochstraße in Berlin von Bülent Calikiran seit 2003 auf Kampfsportarten spezialisiert hat. Während der Boxnacht in der Anhalt Arena in Dessau trafen nun sozusagen der traditionsreiche PSV Dessau auf mehrere, kleinere Kampfsportschulen. Kickboxen und Kampfsportarten haben sozusagen den traditionellen Boxsport deutlich erweitert. Gehörte Boxen noch in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland quasi zum Ausbildungsprogramm der Polizei so haben die Kampfsportarten Kick- und Thaiboxen, Muaythai, K1, Freefight heute für Jugendliche von Heide (Holstein) bis Berlin-Wedding eine größere Attraktivität.

 

Klavierspielen oder Kickboxen ist für Jugendliche selbst in Heide an der Westküste heute eine Option. Zwar hat nicht jede/r in Deutschland die Option, Klavierspielen zu lernen, im Wedding in Berlin ist das schon schwieriger und etwas exotisch, aber Kickboxen kann eben auch in der Lemmens Akademie in Heide, Marne, Albersdorf oder Wesselburen erlernt werden. Kickboxen vereint heute Sicherheits- und Selbstschutzbedürfnisse mit Erfolgs- und Aufstiegsversprechen in der deutschen Gesellschaft. Dalibor Music, geboren 1989, war mehrfacher Berliner Meister im Kick- und Thaiboxen, bevor er unter der Fahne Serbiens in Berlin zum WKU-Weltmeister K1 wurde.

 

In der ersten Reihe des VIP-Bereichs in der Anhalt Arena sitzen nicht nur die Sponsoren des Autohauses Mitte oder anderer Firmen, sondern ebenso Mitarbeiter des Sportamtes Dessau. Der VIP-Bereich verrät insofern nicht nur etwas über Geld und gesellschaftliches Ansehen, sondern über Formationen des Wissens in Politik und Gesellschaft. Kickboxen spielt sich nicht am Rand der Gesellschaft, wohin der Wedding in Berlin und auch sonst mit überregionalen Berichten über Schießereien in der Badstraße im Gesundbrunnen als Teil des Wedding gern gedrängt wird, sondern ziemlich im Mittelfeld als Wunsch- und Projektionsfläche ab. Diese Ebene der Durchmischung kommt in ideologisch abgezirkelten Rastern beispielsweise eines Thilo Sarrazin aus dem eher gutbürgerlichen Lichterfelde in Berlin nicht vor.

Kickboxveranstaltungen finden in schicken Event-Locations wie der Universal Hall, dem ehemaligen Pumpwerk VIII des Berliner Entwässerungssystems vom Ende des 19. Jahrhunderts, oder Mehrzweckhallen wie der Anhalt Arena Dessau statt. Kickboxen selbst ist schick, weil es in Berlin und anderswo an Orten stattfindet, die Stadt-, Industrie- und Aufstiegsgeschichte miteinander verknüpfen. Es ist eben gerade keine Verweigerungs- oder Absahngeschichte, von der Sarrazin als Bedrohungsszenario spricht, sondern die Verknüpfung mit dem Wunsch des sozialen Aufstiegs unter den Bedingungen einer post-industriellen Gesellschaft. Und wahrscheinlich  spricht es gar für eine geradezu seismologische Sensibilität von Jugendlichen, wenn sie das Klavierspielen gegen den Kampfsport Kickboxen eintauschen.

 

Das ist weder ein Zeichen für eine Kulturdämmerung noch irgendeine gesellschaftliche Katastrophe. Vielmehr wird die Verknüpfungs- und Anschlussfähigkeit des Kickboxens an andere Narrative der Gesellschaft dadurch unterstrichen. Die Lemmens Akademie, in der Jugendliche in Heide Kickboxen lernen können, ist in ihrem Webauftritt klar mit „Erfolgsstories“ in der Navigation verknüpft. Und die Taykan Sportarena im Wedding knüpft auf ihrer Homepage an die chinesischen Schriftzeichen für Respekt, Ehre, Tradition und Disziplin an. Erfolgs- und Werteversprechen haben als Narrative ein humanistisches Bildungsversprechen zwar nicht gänzlich abgelöst, aber doch als Option, sich seine eigene Geschichte und Zukunft zu erzählen, erweitert. 

 

Um es an dieser Stelle einmal klar zu sagen: der Berichterstatter ist kein Kickbox-Experte. Als Experte hört und sieht man vielleicht die Kämpfe, kennt die Regeln, kann die Fitness zweier Kämpfer auf den ersten Blick einschätzen. Man sieht die Schläge, die Tritte, die Beinarbeit und die Kombinationen. Wenn ein Kämpfer zu Boden geht, dann sieht man das natürlich sowieso. Dann ist das ein K.O. und Punkte zählen ohnehin nicht mehr. Auch kann man natürlich schon deutlich sehen, ob ein Kämpfer einen anderen in die Defensive drängt und ihn mehr oder weniger durch den Ring jagt. Aber sieht ein Experte und Kampfrichter auch die Blicke der Kämpfer im Ring?

 

Der Blick oder die Blicke im Ring spielen sich im Grenzbereich des Sichtbaren ab. Man sieht, zumindest als Ungeübter nicht sofort, wer wem stärker in die Augen schaut. Für den  Berichterstatter ist es überhaupt überraschend, auf einem Foto zu entdecken, dass ein Kämpfer im Ring nicht nur einfach drauflos drischt, sondern seinem Gegner in die Augen schaut. Das passiert vielleicht nicht immer und nicht in jedem Kampf, auch geht es um einen wohl äußerst flüchtigen Moment, der während des Kampfes übersehen werden kann. Doch dann kann man plötzlich auf einem Foto einen beredten Blick sehen. Die Festigkeit des Blicks, könnte man sagen, hat etwas mit dem Ausgang des Kampfes zu tun. Es könnte durchaus sein, dass das Foto einen Blick erst sichtbar macht.

 

Überhaupt gehört das Fotografieren zu einer richtigen Boxveranstaltung dazu. Am Ring fotografieren gleich eine ganze Reihe von Fotografen. Während des Kampfes können sie nur mit verschiedenen Tricks von Unten und zwischen den Seilen durch fotografieren. Ein Fotograf hat in Dessau eine lange Halterung, mit der er am unteren Ende den Auslöser der Kamera am oberen zieht. Er fotografiert wahrscheinlich fast blind und eher mit einem Gefühl für die Situation. In den Kampfpausen und am Schluss drängen sich die Fotografen auch oben an den Seilen, um die besten Bilder machen zu können.

 

Die Dessauer Boxnacht und das Kickboxen sind eng mit dem Auto und Autohandel verknüpft. Einer der Hauptsponsoren ist das Autohaus Mitte. Steven Kitzing trägt während des Kampfes auf dem Rücken wie eine Tätowierung den Namen eines Autohandels. In den Pausen und kurz vor dem nächsten Kampf läuft Werbung für das Autohaus. Natürlich sind die Parkplätze rund um die Anhalt Arena in einem Gewerbegebiet in Dessau-Roßlau frühzeitig belegt. Doch die Autos sind nicht nur Beförderungsmittel. Sie lassen sich gleichfalls über Design und PS mit Kraft und Freiheit sowie Durchsetzungsfähigkeit verknüpfen. Und die jungen Frauen in schwarzen Dessous im Ring, die die Runden anzeigen und die Pokale überreichen, gehören gleichfalls zur Ausstattung einer Autoshow. Es geht um Sex und Livestyle.

 

Die Körper der Kämpfer sind über mehr oder weniger starke Tätowierungen, die Plakat-Inszenierung mit Feuer sowie Nebel, Pyrotechnik und Lasershow beim Auftritt quasi mythologisch aufgeladen. Der Körper ist mehr als seine Physis, mehr als er selbst. Anders als im Fitness Studio oder bei sonstigen Sportveranstaltungen wie dem LZR Racer, einem Schwimmanzug als optimierende Haut, wird der Körper beim Kickboxen visuell von einer Feuersymbolik begleitet. Auf die Tätowierungen wird zurückzukommen sein. Bei der Dessauer Boxnacht spielte das Feuer eine wichtige Rolle für die Präsentation der Körper. Die Flammen im Hintergrund werden individuell auf den Körper des Kämpfers abgestimmt.

 

Die Flammen sollen etwas sichtbar machen, was das Foto vom nackten Oberkörper in Boxhaltung nicht zu zeigen vermag. Sie erzählen von einem Feuer, einer Hitze im Körper und Kopf. Die Flammen erfüllen eine narrative Funktion. Sie sind nicht einfach Zeichen für etwas ohnehin schon Sichtbares, sondern eine Ergänzung und Aufladung des Körpers. Möglicherweise haben die visuellen Flammen ihre Herkunft in der Formulierung „auf einen Kampf heiß“ zu sein. Andererseits bietet der Körper den Flammen aus dem Hintergrund einen geradezu übernatürlichen Widerstand, als wolle man sagen, dass der Körper „gestählt“ sei. Es ist nicht allein die Masse des Körpers, die hier entscheidet, sondern die Kontrastierung des Körpers vor den Flammen, die den Körper hervorbringt.

 

Der Körper der Kickboxers ist auf merkwürdige Weise real und irreal zugleich, denn er wird durch Inszenierung und Tätowierung zu einem Wissens- und Bilderfeld. Er muss gelenkig und kraftvoll, schnell und hart sein. Einerseits ist er das Produkt von Trainings- und Ernährungswissen. Andererseits wird er zur Fläche von Bildern und Schriftzeichen, die sein Träger ausgewählt hat. Chris Auschwitz vom Bronxx Fightclub in Bitterfeld-Wolfen trägt die Betenden Hände und eine Handschriften-Collage von Albrecht Dürer über seiner linken Brust. Steven Kitzing hat sich u.a. eine Kombination aus Schriftzug und Totenköpfen auf Höhe des Brustbeins stechen lassen. Die Bedeutung der Bilder und Schriftzüge bleibt häufig der individuellen Erinnerung des Trägers vorbehalten.

 

Die unsichere Position der Tätowierung eines Bildes oder Zeichens auf dem Körper eines Kickboxers schneidet die Frage des Ausdrucks und der Repräsentation an. Im Sommer 2012 sorgte die Tätowierung nicht eines Kickboxers, sondern eines Opernsängers für weltweites Aufsehen, als der russische Bariton Evgeny Nikitin wegen einer Swastika auf seiner Brust kurzfristig die Rolle des Holländers in Richard Wagners Oper Der fliegende Holländer in Bayreuth abgeben musste. Die Swastika wurde als Hakenkreuz und Ausdruck einer politischen Haltung verstanden. Sie war allererst durch die Fernseh-Aufnahmen des ZDF entdeckt worden. Das Zeichen im Kontext der Bayreuther Festspiele und des keinesfalls nebensächlichen Antisemitismus des Komponisten galt als unhaltbar. Nikitin leugnete, dass es sich überhaupt um ein Hakenkreuz handele.

 

Die Arbitrarität des Zeichens und durchaus auch Bildes in der Inszenierung des Kickboxens führt dazu, dass sie ständig den Text anruft und zugleich löscht. Die Betenden Hände erinnern an Albrecht Dürer und nicht nur an eine religiöse Geste. Ob sie darüber hinaus an eine nationalistische Vereinnahmung des Bildes erinnern, lässt sich schwer entscheiden, weil das Kickboxen wiederum in einem eher asiatischen Kontext des Thaiboxens auftaucht. Es ist diese Unsicherheit in der Zuschreibung, die die besondere Anschlussfähigkeit des Kickboxens ausmacht, auf die eingangs hingewiesen wurde.

 

Die geschlechtliche Zuordnung des Kickboxens ist ebenfalls nicht eindeutig. Kickboxen wird häufig als Selbstverteidigung für Frauen angeboten. Doch „der“ weitaus berühmteste und aktuell in den Medien wie in der Talkshow von Markus Lanz präsenteste „Kickboxer“ ist die mehrfache Profi-Weltmeisterin Dr. med. Christine Theiss (33). Für den 13.12.2013 ist der Revanchekampf gegen Olga Stavrova (26) angekündigt, der auf SAT.1 übertragen wird.  Während der Dessauer Boxnacht gab es dagegen nur Kämpfe unter Männern und allein die Runden wurden von zwei jungen Frauen in Dessous angezeigt. Das täuscht darüber hinweg, dass es längst eine ernstzunehmende und in den Medien erfolgreiche Frauenkickboxszene gibt. Die starke Überbetonung des Körpers der Frau durch die Dessous im Ring in Dessau erinnert an ein sexuelles Begehren, während doch vor allem Männerkörper in geringer Bekleidung vorgeführt werden. Die Hauptattraktion sind die Männerkörper, nicht nur weil sie kämpfen, sondern weil sie auf vielfache Weise aufgeladen werden. 

Die Sprache des Kampfes ist befehlsförmig, knapp und wird vor allem vom Coach in der blauen oder roten Ecke des Rings während der Runden von 2 oder 3 min. benutzt. Es gibt immer eine blaue und eine rote Ecke. „Geh da jetzt rein, der hat seine Luft verschossen.“ „Kombiniere, kombiniere.“ „Jawohl!“ „Guter Anschluss.“ „Kopf raus.“ „Beinarbeit.“ „Weiter nach hinten.“ „Nimm das kürzere Bein.“ „Aber druckvoll immer wieder auf die Nase.“  Die Zuschauer quittieren Treffer mit einem „He, heee!“. Es gibt Rahmungen des Kampfes. Aber der Kampf selbst ist beinahe sprachlos. Es gibt Trainer, die gar keine Anweisungen rufen. Und es ist auch nicht ganz sicher, ob der jeweilige Kickboxer überhaupt die Befehle hört und umsetzt. Dennoch könnte es sein, dass die Sprache hilft.

 

Die Boxbandagen sind ein eigener Wissensbereich, der häufig sehr individuell angewendet wird. Einerseits sollen die Bandagen die Hände stabilisieren, andererseits schützen. Die Bandagen dürfen indessen auch nicht zu fest angelegt werden, weil sie dann das Gefühl in der Hand beeinträchtigen. Man kann sich die Bandagen notfalls auch selbst anlegen, doch für Dalibors Meisterschaftskampf legte sie ihm Bülent Calikiran an. Sie werden rechtzeitig angelegt, so dass der Boxer noch eine Weile Zeit hat, sich an die Bandagen zu gewöhnen. Die Bandagen entscheiden nicht nur über den Grad der Sicherheit, damit sich der Boxer keine Verletzungen an den Hand- und Fingerknochen zuzieht. Sie wirken auch auf die Schlagfähigkeit.

 

Das Verhältnis in der Kabine zwischen Boxer, Coach und Unterstützer, bei Dalibor der ebenfalls amtierende Kickboxweltmeister Femi Dadzie (27), Taykan Sportarena, ist entscheidend. Der Boxer erhält beim Bandagieren und später beim Aufwärmen mit Massageöl viel Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit ist ritualisiert und gehört zum Text eines entscheidenden Kampfes. Regelhafter Ablauf und der Modus der Wiederholung tragen zum erfolgreichen Kampf bei. Man könnte sagen, dass es darum geht, sich im Milieu eines Textes einzurichten und störende Erinnerungen, Gedanken abzuschalten. Die Kabine bietet dafür einen geschlossenen Raum der wiederkehrenden Handlungen, die durchaus mit der Ebene des Gefühls verknüpft sind.

 

Das Gefühl als ein ebenso komplexer wie vager Bereich des Wissens gehört gleich auf mehreren Ebenen zur Welt des Kickboxens. Das Publikum nimmt mit Gefühl an dem Kampf teil. Der Kickboxer braucht ein Gefühl für seinen Körper und seinen Gegner. Und er muss seine Gefühle regulieren können. Die Regulierung und Erzeugung von Gefühlen bestimmt ebenso den Verlauf eines Kampfes, wie der Umschlag eines Gefühls ihn entscheiden kann. Der Kampf selbst wird zu einem Ensemble aus Gefühlen, in denen der Gegner mit Gesten gelockt und provoziert, beschwichtigt und besiegt werden kann.

Die Gesten als ein Bereich der Gefühle, die erzeugt oder eingedämmt werden sollen, ergeben sich aus dem Moment. Sie lassen sich kaum vorhersagen oder kontrollieren. Doch es kann in einem Kampf den Moment geben, in dem die Gesten eines Kämpfers die Gefühle des Gegners zu beherrschen beginnen. Das ist wahrscheinlich der entscheidende Moment eines Kampfes. Es muss dabei gar nicht um ein K.O. gehen. Eleganter ist vielmehr die Entscheidung des Kampfes durch Gesten herbeizuführen, die den Gegner dominieren. Man kann so einen Kampf, der sehr stark auf das Gestische setzt, beispielsweise bei Femi Dadzie gegen Adrian Valentin vom 22.10.2013 auf YouTube beobachten.

 

Das Wissen der Medizin spielt in der Welt des Kickboxens deshalb eine große Rolle, weil sich der Kickboxer beispielsweise bei Kämpfen im Verband der GBA, der German Boxing Association e. V. mit Sitz in Berlin, einem Medical Requirements Check unterwerfen muss. Es dürfen nur Kickboxer antreten, die sich einer Complete Physical Exam unterzogen haben. Diese umfasst:

*Dialated Eye Test

*EKG Heart Test

*MRT (Brain, X Ray)

*Negativ Hepatitis B
(antigen)

 *Negativ Hepatitis C

 (antibody)

 *Negativ HIV

(Aids Test)

Der Ringrichter und die Coaches tragen während des Kampfes hellblaue Schutzhandschuhe, um eine Infektionsgefahr auszuschließen. Die medizinische Standardisierung eines Kampfes im Verband der GBA wie bei der Dessauer Boxnacht bemächtigt sich nicht zuletzt des Körpers des Kickboxers.

  

Der Auftritt des Kickboxers wird zumindest in Dessau von Nebel, Lasershow und Pyrotechnik begleitet. Mit seinem schwarzen Hoodie und der grauen Boxhose mit Fransen tritt Dalibor eher zurückhaltend auf. Andere Boxer inszenieren sich mit Krone auf dem T-Shirt etc. stärker. Die schlichte Kapuzenjacke mit freiem Arm betont die muskulösen Oberarme und verleiht ihm etwas Mysteriöses, Rätselhaftes, solange  die Kapuze das Gesicht fast verdeckt. Hoodies sind gerade bei jungen Männern besonders in. Sie sind Verhüllung und, besonders durch die freien Arme, Enthüllung des Körpers zugleich.

 

Doch Hoodies sind sehr viel weiter als in der Welt des Kickboxens verbreitet. Hoodies sind cool. Shisha-Hoodies sind so ziemlich das coolste, was vor allem Jugendliche außerhalb von Berlin tragen können. Shisha-Hoodies kommen zwar aus dem Headquarter in der Legienstraße in Kiel, aber als Markenname verknüpfen sie das Rauchen der arabischen Wasserpfeife, Shisha, und die Chill-Out-Kultur mit der deutschen Mittelschicht aus der Eigenheimsiedlung. Die Shisha-Lounge oder das Shisha-Café, in der die Wasserpfeife mit verschiedenen Aromen geraucht wird, um sich zu entspannen, kommt eher aus dem Wedding oder Kreuzberg oder Feridun Zeimoglus Kiel-Gaarden. Doch Shisha-Brand und Hoodies sind längst im „Speckgürtel“ von Berlin und anderswo angekommen.      

 

Ein Schlüsselbegriff in der Welt des Kickboxens ist Respekt. Der Begriff Respekt hat in der deutschen Sprache seit dem 18. Jahrhundert eine wandelvolle Veränderung erfahren und gerade in den vielleicht letzten 10 Jahren im Umfeld von Sport, Migration und Gendering eine zunehmende Bedeutung bekommen. So gibt es seit 2005 in Berlin jedes Jahr in der ersten Juni-Woche die „Respect Gaygames“ als Sportveranstaltung des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg, die sportliche Erfolge mit Ansehen und Ehre verknüpft. „Respect“ kommt seit den 2000er Jahren aus der amerikanischen Rapper- und der Streetfight-Szene.  

 

Respekt muss man/frau sich durch sportliche, faire Leistung verdienen. Insofern verkörpert Respekt das Leistungsprinzip, das, wie eingangs entfaltet, gerade Kickboxen als Kampfsportart von Berlin-Wedding bis Heide (Holstein) tief in der deutschen Gesellschaft verankert ist. Respekt funktioniert genderübergreifend für vor allem junge Menschen unterschiedlichster Herkunft, weil damit nur bedacht werden kann, was als möglichst außergewöhnliche Leistung erbracht worden ist. Respekt ist daher nicht nur ein Wert, der aus sich selbst, etwa phänomenolgisch existiert, sondern der prozessual durch Handlungen erarbeitet werden kann und muss.

 

Dalibor Music hat sich als Kickboxer Respekt erarbeitet. Und der Begriff findet aus der französischen Enzyklopädie und der Ökonomie kommend um 1800 Eingang in die deutsche Sprache, bevor er über Amerika quasi aktualisiert wird. Der Hoodie wird mit dem Respekt verkoppelt. Und Steven Kitzing zollt Dalibor Music Respekt. Respekt generiert ein weitverzweigtes Netz aus Gesten und Zeichen, das allerdings auch jeder Zeit auseinanderbrechen kann.

 

Wörterbücher können einen Hinweis auf die Verschiebungen eines Begriffs geben. Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von 1811 führt Respekt noch nicht auf. Doch schon 1813 wird Respect ausführlich erstmals in der Oeconomischen Encyclopädie von Johann Georg Krünitz erwähnt.

Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft ist der Titel einer der umfangreichsten Enzyklopädien des deutschen Sprachraums. Das von J. G. Krünitz begründete Werk erschien 1773 bis 1858 in 242 Bänden und stellt eine der wichtigsten deutschsprachigen wissenschaftsgeschichtlichen Quellen für die Zeit des Wandels zur Industriegesellschaft dar.

(http://www.kruenitz1.uni-trier.de/)

 

RESPECT erscheint in Diderots und D’Alemberts Encyclopédie mit dem 14. Band im Jahr 1765 und wird dort dem Bereich der „Société civile“, was man heute mit Zivilgesellschaft übersetzen würde, zugeordnet. Einerseits ist Respekt das Eingeständnis (l’aveu) der Überlegenheit (la supériorité) in der Gesellschaft und knüpft so an ein hierarchisches Modell von Gesellschaft an, die noch mit dem Ancien Régime vereinbar ist. Andererseits setzt respect den Erwerb von Verdienst(en) (mérite) voraus.

RESPECT, s. m. (Société civile.) le respect est l’aveu de la supériorité de quelqu’un : si la supériorité du rang suivoit toujours celle du mérite, ou qu’on n’eût pas prescrit des marques extérieures de respect, son objet seroit personnel, comme celui de l’estime, & il a dû l’être originairement de quelque nature qu’ait été le mérite de mode.

 

Die Oeconomische Encyclopädie von Krünitz ist als Scharnier deshalb wichtig, weil der Begriff in der Übersetzung von der Zivilgesellschaft stärker in die Wirtschaft, Ökonomie, übergeleitet wird und nicht zuletzt den Bereich der Mode streift. Respect wird nunmehr nicht nur mit der hierarchischen „Ehrerbietung“ verknüpft, sondern vor allem mit der Praxis des Wechsels: „Respectiren, bey Kaufleuten, sich erklären, daß man einen Wechsel oder eine Anweisung annehmen und bezahlen wolle.“ Und als Respectueuse erfährt der Begriff nun bei Krünitz eine überraschende Verknüpfung mit dem erotischen Blick:

Respectueuse, ein vor mehreren Jahren moderner Frauenzimmerputz, Bedeckung des Busens mit Filet, Spitzen und andern durchsichtigen Sachen.

 

Anders als der Ruhm, der im Deutschen Wörterbuch stärker mit „geschrei“, später mit „ruf“ oder „gerücht“ verkoppelt wird, basiert der Respekt auf dem Blick. Der Blick als Formation aus Wissen und Erinnerung erzeugt Respekt. Das Spiel von Verdecken und Enthüllen, wie es mit der Respecteuse aus „Spitzen und andern durchsichtigen Sachen“ angesprochen wird, ist für die Lenkung des Blicks ausschlaggebend. Der weibliche Körper wird mit der Respectueuse verhüllt, um den Busen als begehrten Körperteil zu enthüllen.  

 

Respekt, und das ist nicht unerheblich, überbietet die Frage der Herkunft. Dalibor Music kommt aus Berlin-Wedding und ist dort zur Schule wie eben auch in die Taykan Sportarena als Sportschule und den DRK-Jugendladen gegangen. Er hat keine deutsche Staatsbürgerschaft, aber natürlich ist er in Deutschland und Berlin sozialisiert. Wenn die doppelte Staatsbürgerschaft nach dem Koalitionsvertrag nun endlich kommen sollte, so wäre das sicher für Dalibor Music von Vorteil. Deshalb nicht zuletzt hat und musste Dalibor Music seinen Weltmeisterschaftskampf für Serbien bestreiten. Obwohl die Frage der Herkunft in der deutschen Gesellschaft insbesondere in konservativen oder gar reaktionären Kontexten eine mächtige Rolle spielt, eröffnet Respekt über Gesellschafts- und Geschlechtergrenzen hinweg andere Perspektiven. 

 

Dalibors Kampf gegen Steven Kitzing wurde von einer recht umfangreichen Inszenierung begleitet, die von Anfang an darauf abzielte, den herausgeforderten Gegner einzuschüchtern. Kitzing nahm als einziger den Weg links am Ring vorbei, wo offenbar mehrere Hundert seiner Unterstützer saßen, um in den Ring zu gelangen. Bereits bei seinem Erscheinen wurde er durch Zurufe zum Favoriten erhoben. Da gab es, obwohl mehr oder weniger der halbe Wedding für Dalibors Kampf angereist war, doch ein erhebliches Ungleichgewicht, das man nicht besonders sportlich nennen kann. Wiederum zeigt sich hier die Rolle des Gefühls und der Zuschreibungen beispielsweise auch der Herkunft für den Kampf.

 

Es ist im Text der Welt des Kickboxens auch jener Moment, der das Gefühl der Ungerechtigkeit hervorruft. Obwohl Steven Kitzing Dalibor auf der Facebook-Seite der Boxnacht als nicht zu unterschätzenden und würdigen Gegner respektierte, war die Rollenverteilung doch ziemlich klar. Denn Dalibor wurde am 17. November, nachdem er am 16. die Weltmeisterschaft in Berlin gewonnen hatte, quasi für die „KITZING-Fans“ in den Ring geschickt.

So liebe KITZING-Fans... Das Warten hat ein Ende. Nach der Absage des eigentlich geplanten Kämpfers bekommt es Steven in seinem Abschiedskampf mit DALIBOR MUSIC, einem K1 Fighter aus Berlin zu tun. Steven, welcher in 21 von seinen 29 Kämpfen siegreich war, sieht auch in seinem letzten Fight keinen Grund, gegen "Fallobst" in den Ring zu steigen. Dalibor Music ist 24 Jahre und konnte 17 von seinen 18 Kämpfen gewinnen - das ist eine klare Ansage!

 

Die Welt des Kickboxens ist heute über Social Media auf Facebook, Twitter, Google und LinkedIn wie bei der Dessauer Boxnacht hochvernetzt und sprachlich formatiert. Es geht an der Schnittstelle von Sprache, Bild und Wissen nicht nur um die Entschlüsselung von Codes. Vielmehr geht es darum, sprachliche Prozesse zu beobachten, die sich um ein Leistungsprinzip mit dem Begriff Respekt abspielen. Respekt funktioniert nicht nur über körperliche Leistung im Sport, sondern wird durchaus von einem umfangreichen Regelsystem formalisiert.

 

Im Final Fight zwischen Steven Kitzing und Dalibor Music spielten nun ausgerechnet Respekt und Herkunft eine konträre Rolle, und zwar nicht zufällig oder willkürlich, sondern von der strukturellen Anlage her.  Natürlich ging der Kampf äußerst respektvoll zwischen den beiden Kickboxern über die Runden. Aber die Herkunft spielte eben doch eine entscheidende Rolle. Damit gab dieser Kampf in der Welt des Kickboxens durchaus einen Wink auf Prozesse in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.

 

Torsten Flüh

 

Fotos: Hussein El-Issa und Torsten Flüh 

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[1] Barthes, Roland: Die Welt des Catchens. In: ders.: Mythen des Alltags. Berlin 2010. S. 15-28

[2] Ebenda S. 9

 


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Categories: Kultur

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