Silvesterstimmung - Das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle mit Cecilia Bartoli

Tanz – Stimmung – Silvesterkonzert

 

Silvesterstimmung
Das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle mit Cecilia Bartoli

 

Das Konzert der Berliner Philharmoniker zu Silvester gilt als einer der Höhepunkte im Musikkalender. Alljährlich wird es vom Ersten, der ARD, am frühen Silvesterabend live übertragen. Zum Orchester unter seinem Chefdirigenten gesellt sich oft ein Star der internationalen klassischen Musik. Frühzeitig sind die Karten zu Höchstpreisen ausverkauft. Japanerinnen kleiden sich in ihren kostbarsten Kimono. Das Publikum ist international. In diesem Jahr wurde es am 29., 30. und 31. Dezember mit Cecilia Bartoli aufgeführt.

Nicht genau recherchieren ließ sich, wann das Silvesterkonzert erstmals in Berlin stattfand. Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker fand nachweislich zum ersten Mal am 31. Dezember 1939 statt. Und einiges spricht dafür, dass sie damit die Tradition der Silvesterkonzerte begründeten. Unverrückbare Programmatik der Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker sind Werke der Strauß-Dynastie, die eine beschwingte Stimmung hervorrufen sollen.

Was ist eigentlich eine Silvesterstimmung? - Die Silvesterstimmung beim Konzert der Berliner Philharmoniker unterscheidet sich von der Party am Brandenburger Tor (ZDF) oder dem Musikantenstadl (ARD), der allerdings per Jingle unmittelbar auf den ausgeblendeten Ungarischen Tanz No. 1 von Johannes Brahms rumst. Sendeplatz-Realität und eben Silvesterstimmung!

Festlichkeit heißt das Stichwort bei den Philharmonikern. Nach der Ankündigung des Konzerts auf der Website der Berliner Philharmoniker geht es um ein „festliches Konzert zu Silvester“. Im Silvesterkonzert 2012 paarte sich eine „barocke Festlichkeit“ mit dem Motiv des Tanzes aus drei Jahrhunderten. Das Silvesterkonzert des ZDF fand als Operetten-Gala aus der Semper-Oper mit der Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann bereits am späteren Sonntagabend, dem 30. Dezember, statt. Nicht nur von der Semper-Oper im Feuerwerk erleuchtet knüpft die Sendung in der Titelsequenz an Silvester an.

 

Das Konzert der Berliner Philharmoniker war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, weil es einer bestimmten Stimmungserwartung auch widerstand. Das wirkte sich nicht zuletzt im Ablauf des Konzertes aus. An das Silvesterkonzert werden andere Erwartungen geknüpft als an ein übliches Konzertprogramm. Nicht zuletzt ertappte sich der Berichterstatter dabei, dass er ein eher leichtes Programm erwartete. Um so erstaunter war er daher, dass sowohl Cecilia Bartoli, Mezzosopran, nicht nur für die Stimme, sondern auch für das Publikum, den Hörer äußerst anspruchsvolle, weil keinesfalls gefällig auf Wiedererkennung ausgerichtete Arien von Georg Friedrich Händel sang, als auch die Philharmoniker unter Simon Rattle neu zu hörendes spielten.

 

Um das Verhältnis von Erwartung und Stimmung einmal deutlich zu formulieren, können sowohl die Operetten-Gala (Online sichtbar bis 05.01.2013) als auch das Neujahrskonzert 2013 (Online sichtbar bis 07.01.2013) der Wiener Philharmoniker in der ZDF-Mediathek zum Silvesterkonzert 2012 (Online sichtbar bis 06.01.2013) der Berliner Philharmoniker in der ARD-Mediathek kontrastiert werden. Erwartungsgemäß bietet die Operetten-Gala Ausschnitte aus der unverwüstlichen Gräfin Mariza von Emmerich Kálmán u. ä. auf sehr hohem Niveau, während der schmissige Kusswalzer von Johann Strauß (Sohn) beim Neujahrskonzert den ersten Beifallssturm auslöst. Anders gesagt: Erwartungen werden quasi mühelos erfüllt. Die Stimmung um den Jahreswechsel ist heiter bis vergnügt militärisch bei den Straußens.

 

Im Unterschied dazu weckte bereits die Kombination von Stücken aus Jean-Phillipe Rameaus (1683-1764) letzter, erst 1982 uraufgeführter Tragédie en musique Les Boréades mit Arien von Georg Friedrich Händel (1685-1759) Erstaunen. Wie könnten die beiden Barockkomponisten im ersten Teil miteinander in Beziehung gesetzt werden? Rameau ist doch noch einmal ganz anders als Händel. Indessen kündigt sich in Les Boréades bereits eine Polyphonie oder ein „Reichtum der Musik“ an, der aufhören lässt. In den Arienkompositionen Händels wird andererseits die menschliche Stimme beispielsweise in einem beachtenswerten Wettstreit mit der Solo-Oboe inszeniert. Da passiert musikalisch Neuartiges.

 

Barocke Festlichkeit, die im Modus antiker Helden- und Göttergeschichten bei Rameau nicht zuletzt weltliche Macht inszeniert, ohne dass sie am Hof von Versailles Einlass findet, funktioniert als Gegenentwurf zur Macht der päpstlichen Kirche in Rom. Jean-Baptiste Lully (1632-1687), quasi Rameaus Vorgänger, komponierte nicht nur aus Liebe zum Tanz oder einer Karnevalslaune heraus 1653 das Ballet de la Nuit für Louis XIV. als Apollo. Der König tanzt programmatisch die göttliche Hauptrolle. Rameaus Milieu, um es einmal so zu formulieren, befindet sich musikalisch und narrativ 50 Jahre später mit seinem Mäzen Alexandre Le Riche de la Pouplinière, einem Generalsteuereinnehmer des Königs, in Paris an der Schnittstelle von Hof und Bürgertum. Damit wird das strenge barocke Reglement als Fest der Macht zwar befolgt, doch auch für weitere Nuancen durchlässig.

 

Simon Rattle hat Les Boréades als einer der ersten nach John Eliot Gardiner wiederentdeckt und bereits 1999 in Salzburg zur Aufführung gebracht. Bis hin zum Einsatz von Windmaschinen in der suite des vents (Suite der Winde) verfolgt Rameau seine auf die „natürlichen Prinzipien reduzierte Lehre der Harmonie“ oder Traité de l’harmonie réduite à ses principes naturels von 1722. Anders gesagt: Wind wird durch ein eigenes Instrument in der Suite der Winde hörbar. Wind wird nicht „nur“ komponiert beispielsweise durch das Pfeifen von Flöten komponiert und instrumentiert, sondern beansprucht ein eigenes akustisches Spektrum und findet darüber Eingang in die Komposition der Suite.

Dem Wind in der Trágedie en musiques darf durchaus ein wenig mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Denn es handelt sich mit der suite des vents auch um eine narrative Verschaltung. Die titelgebenden Boreaden sind nach der griechischen Mythologie der Gott des Nordwinds, Boreas, und seiner Nachkommen. Und die musikalische Tragödie handelt von den genealogischen Liebeshändeln der Nordwindkinder, um es einmal so zu sagen. Den kräftigen Nordwind hörbar zu machen, so abstrus die Handlung heute auch klingen mag, hat eine entscheidende Funktion durch die Verschaltung mit der Erzählung. Es ist kaum zuviel gesagt, dass zumindest in der Aufführung der suite des vents durch die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle all jene Windmaschinen anklingen, die vom Theater bis in die Filmsynchronisation für hörbaren Wind sorgen werden.

 

Während demnach mit Rameau im ersten Teil des Silvesterprogramms nun gerade keine Erwartungen bedient wurden, sondern mit dem Wind als akustischem Moment und Tänzen als Metren eingeführt waren, konnten im zweiten Teil mit Dvořáks Slawischen Tänzen 1, 3 und 4 sowie mit Orchestersuite 2 aus Ravels Daphnis et Cloé Erweiterungen und Ausarbeitungen dieses Programms beobachten werden. Und der Wechsel zwischen Rameau und Händel machte gerade viel weniger Gemeinsamkeiten als die Unterschiede im Barock deutlich. Damit nicht genug, bot Cecilia Bartoli mit den drei Arien des Programms und einer Zugabe auch noch höchst unterschiedliche Facetten bei Händel.

 

Die Darbietungen von Cecilia Bartoli waren nicht nur von einer verehrungswürdigen Brillanz und Perfektion, sondern auch von einer bewundernswerten und mutigen Bandbreite. Letzteres führte das Publikum, das darf durchaus einmal gesagt werden, an die Grenzen seiner Offenheit. Während am 29. die Arie des Vergnügens aus dem zweiten Teil des Oratoriums Il Trionfo del Tempo e del Disinganno von Händel durchaus lebhaften Beifall erregte, war der Beifall am 31. eher nur artig, so dass die Arie der Melissa aus Händels Amadigi di Gaula als Zugabe kaum motiviert schien. Ausgerechnet mit der Arie des Vergnügens, die Händel unter den Zensurbedingungen der katholischen Kirche 1706 in Rom komponiert und zur Aufführung gebracht hatte, durchbrach Cecilia Bartoli in mehrfacher Hinsicht Erwartungen. Das Format des Oratoriums, aus dem sozusagen die Oper hervorgegangen war (siehe Representatione di Anima et di Corpo), dient dem Komponisten und seinem Librettisten Benedetto Pamphilj als Tarnung. Die Lust persönlich singt unmissverständlich doppeldeutig:

Lass die Dornen,
pflücke die Rose;
du bist auf der Suche
nach deinem Schmerz.

Weißer Reif
von verborgener Hand
stellt sich ein, wenn es
das Herz nicht erwartet.

 

Die Arie des Vergnügens - welches Vergnügen damit gemeint ist, dürfte nun deutlich geworden sein, - ist, von Cecilia Bartoli gesungen, ein Juwel, das allerdings eine gewisse Hörbereitschaft erfordert. Nachdem Cecilia Bartoli mit der Arie der Adelaide aus Händels Lotario in funkelnden Koloraturen und einem Wettstreit mit der Solo-Oboe (Jonathan Kelly) im Rezitativ und Arie der Agilea aus Teseo halsbrecherisch schnelle Koloraturen für Sopranstimme aufgeführt hatte, wechselte sie mit der Arie des Vergnügens im Grave-Tempo einer Sarabande als barockem, höfischem Gesellschaftstanz in eine Kastratenstimme. Dieser Wechsel unterstrichen durch einen Kleiderwechsel von einer smaragdgrünen Seidenrobe in Hosen, Stiefel, Hemd und Jacke führte die große Kunst von Cecilia Bartoli vor. Jeder Klassikgassenhauer hätte ihr stürmischen Beifall versprochen, doch mit der Arie des Vergnügens forderte sie die Hörer.

Mit der Arie der Melissa wechselte Cecilia Bartoli wieder in den Mezzosopran und lieferte sich nun einen Wettstreit der Koloraturen mit Solo-Oboe und Solo-Trompete. Mit den gerade einmal 4 Arien führte sie so ein ganzes Spektrum ihrer stimmlichen Möglichkeiten vor. Insbesondere die wissenschaftliche Erforschung der Kastratenstimmen und die stimmliche Umsetzung durch Cecilia Bartoli erfordern höchsten Respekt. Denn es ist zwar gängige Praxis, dass für Kastraten geschriebene Partien von Mezzosopranen gesungen werden, doch Cecilia Bartoli geht weiter und verändert ihre Stimme auf die Art und Weise wie Kastraten geklungen haben mögen. Hätte man denken können, dass man wüsste, wie „festliche Barockmusik“ klingt, so erreichte der erste Teil des Silvesterkonzerts vor allem, dass die Vielfalt des Barock vorgeführt wurde.

 

Man kann es einmal so formulieren: Cecilia Bartoli und die Berliner Philharmoniker nutzten den auch schwierigen Sendeplatz Silvesterkonzert, um auf Facetten der (klassischen) Musik aufmerksam zu machen. Darin unterscheiden sie sich deutlich von den Stimmungs- und Erwartungsmaschinen einer Operetten-Gala oder eben des Neujahrskonzertes, in dem allenfalls Vivaldis Vierjahreszeiten mit Österreich-Kolorit zum Wohlfühlen einladen.

 

Im zweiten Teil des Abends stach besonders der Klangzauber der zweiten Orchestersuite aus Daphnis et Chloé von Maurice Ravel hervor, die aus dem gleichnamigen Ballet stammt, das 1912 in Paris vom Ballets Russes nach einer Idee seines Impressarios Serge Diaghilev aufgeführt wurde. Das Thema Tanz kommt hier also anders vor und führt ihn an die Grenzen des Tanzbaren. Im Unterschied zum barocken Gesellschaftstanz, der bei Luly insbesondere durch den Gott-König als Gesellschaftspraxis angeführt wird oder bei Händel in der Sarabande der Arie des Vergnügens eine höchst „private“ Tätigkeit in Gesellschaft vorführt und verdeckt, wird der Tanz bei Ravel nun zur Signatur des komplexen Individuellen. Denn die 5/4-Takte brachten die Tänzer, wie kolportiert wird, zur Verzweiflung. Es soll geholfen haben, dass „Serge Di-a-ghi-lev“ zu skandieren. Mit anderen Worten: vom Skandieren des individuellen, komplexen Namens kommt Hilfe für den Tanz. Simon Rattle hat mit den Berliner Philharmonikern gewiss neue Maßstäbe für die Aufführung der Orchestersuite gesetzt. Es ist geradezu ein Fest des Hörens, das sich schwerlich außerhalb der Philharmonie herstellen lässt.

 

Das Programm für das Silvesterkonzert kann noch einmal auf eine andere Weise aufgefächert werden. Denn wie das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach zu Weihnachten, so gehört Beethovens Neunte zum Jahreswechsel. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin warb für die Aufführung der Neunten am 31. Dezember um 16:00 Uhr mit „Freude schöner Götterfunken“. Die Neunte hält für die Stimmung einen besonderen Effekt bereit:

… Die Funken des Werkes, das in der berühmten Ode „An die Freude“ mit dem Text von Friedrich Schiller gipfelt, springen dabei auf das Publikum über und legen den Grundstein für einen harmonisch-beflügelnden Jahreswechsel.     

Beethovens Neunte als Programm mit „Funken“, die „auf das Publikum (überspringen)“, einerseits und Tänze andererseits machen einen Unterschied, der mit der Frage der Stimmung verknüpft ist. Wie kommt es zu einem plötzlichen Überspringen von Stimmung? — Um 1800 bildet sich allererst die Stimmung als Formulierung einer Gefühlslage heraus. Denn die Stimmung kommt nach dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm allererst von der Stimme als „laut, sprachlicher Ausdruck“ und schon ein wenig früher vom Stimmen der Instrumente.

… als aber die (….) stimme ires munds gantz unverstendlichen, sollen sie mit der zeit solche underschiedlich gebraucht haben in sonderlicher stimmung und also jedes ding mit einer sonderlichen stimmung gedeut; darausz dann jedem ding sein eygener namm worden G. Rivius Vitruv (1575) 126

Die Frage der Stimmung wird bei den Gebrüdern Grimm frühzeitig etymologisch mit der des Ausdrucks verknüpft. Damit wird sie bereits einer Logik des(wahren) Ausdrucks verpflichtet und andererseits das Einrichten und Normieren von Instrumenten angesprochen. So lässt sich früh beobachten, dass die Stimmung zwischen authentisch-plötzlicher Wechselhaftigkeit im Ausdruck und kalkulierter Normierung changiert. Für die Silvesterstimmung trifft möglicherweise genau diese widersprüchliche Eigenschaft zu. Einerseits weckt sie den Wunsch nach einem „Grundstein für einen harmonisch-beflügenden Jahreswechsel“, andererseits sucht sie in ausgelassener Fröhlichkeit die riskante Offenheit des Wechsels.

 

Am Neujahrsmorgen ist die Silvesterstimmung mit ihren Hoffnungen und Ängsten im Krach der Chinaböller zerstoben, als habe der imginäre Wechsel von einem Jahr zum andern stattgefunden. Barocke Illumination und Krach als Reinigungsritual kommen heutzutage im Silvesterfeuerwerk zusammen. In chinesischen Großstädten und auch auf Taiwan dürfen Bürger gar nicht zu Silvester knallen. Doch in chinesischen Kleinstädten wird zur Reinigung von bösen Geistern mindestens so viel wie in Deutschland geknallt. Ursprünglich stammt das Krachmachen wohl aus der chinesischen Grabpflege. Zum chinesischen Neujahrsfest besuchen die Familien die Gräber der Vorfahren und zünden Knallkörper, um böse Geister zu vertreiben, wie mir einmal ein Chinese anlässlich des Rituals erklärte. Möglicherweise liegt hierin ein Ursprung der Musik.

Doch wann war nun der Jahreswechsel genau? — Wo und wann er genau stattgefunden hat, lässt sich schwer bestimmen. Wann war der Moment? Das Fernsehen ist um Sekunden langsamer als das Live des Internets. Genau das macht es nicht leicht, den Wechsel und Stimmung zu bestimmen.

 

Frohes Neues Jahr

 

Torsten Flüh

 

PS: Das Bildmaterial setzt sich aus eigenen Fotografien vom 29. und aus Screenshots während der Live-Übertragung am 31. Dezember 2012 zusammen.

PPS: Die Besprechung wurde erstmals am 1. Januar 2013 gegen 21:00 Uhr hochgeladen. Doch am 3. und 4. Januar fanden arbeiten am Server durch den Provider statt, bei denen es schließlich zu einer Zeitrückstellung kam. Der Blog musste am 4. Januar neu hochgeladen werden.


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Categories: Kultur

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