Überfall der Schrift - Zur Koinzidenz der Besprechung von Walter Benjamins Die Zeitung und dem Attentat auf Charlie Hebdo

Literatur – Schrifttum – Satire 

 

Überfall der Schrift 

Zur Koinzidenz der Besprechung von Walter Benjamins Die Zeitung im Blog und dem Attentat auf Charlie Hebdo 

 

Während sich die Meldungen am 7. Januar aus Paris im Live auf Tickern und Kanälen überall auf der Welt schneller als jede Zeitung und jeder Blog überschlugen, schrieb der Berichterstatter konzentriert und von den sich überstürzenden Nachrichten unbehelligt über Walter Benjamins Nachtrag Die Zeitung. Der Sendemodus des Live riss die Menschen mit sich und setzte sie so sehr unter Druck, dass z.B. ein Freund dem Berichterstatter eine SMS schickte, ob man sich treffen könne. Wir sprachen an dem Abend dann lange miteinander. Und von dem Freund wurde die vielleicht auch etwas simple Frage formuliert, wie es kommen könne, dass die Menschen so unterschiedlich die Bibel bzw. wenigstens das den monotheistischen Religionen gemeinsame Alte Testament läsen.

 

Mit dem Begriff des Schrifttums hatte Walter Benjamin um 1933 einerseits einen epochalen Umbruch in Antinomien formuliert, die in einer der Zeitung eigenen und spezifisch modernen Literarisierung der Lebensverhältnisse aufgehen sollten. In Benjamins Zeitungsartikel Die Zeitung überschneiden sich drei unterschiedliche Schrift-Epochen in einer theologischen, einer antinomischen und einer, sagen wir, literarischen Lese- und Schreibweise. Mit Charlie Hebdo ging und geht es u.a. um eine spezifische Formalisierung der Zeitung als satirische Wochenzeitung, die sich dem literarischen Genre der Satire vor allem der Aufklärung eines Voltaire, eines Denis Diderot oder auch Montesquieu verpflichtet und dadurch politisch-aufklärerisch versichert weiß. In dem vielschichtigen Begriff des Schrifttums bei Walter Benjamin schimmert auch der der Satire, obgleich nicht extra benannt, durch. Wie lässt sich also das Verhältnis von Satire, Literatur, Zeitung und Schrifttum aktuell bedenken? 

Wenn die CDU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages und Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Erika Steinbach tatsächlich einen Smiley als Reaktion zum Mordanschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo getwittert haben sollte, wie von mehreren Zeitungen im Netz am 8. Januar, darunter die Rheinische Post, vermeldet worden ist, sich aber nicht mehr auf ihrer Twitter-Seite finden lässt, dann dokumentiert das Piktogramm nicht nur einen moralischen oder demokratischen Wertemangel der Twitterin. Vielmehr weist das anlässlich der Morde Freude anzeigende Piktogramm Smiley auch auf einen Mangel an Kenntnis im Schrifttum der keinesfalls homogenen, europäischen Aufklärung. Insbesondere die französische Aufklärung hat ihre Ausformulierung in der Erklärung der Menschenrechte gefunden. Denn es war Voltaire, der mit seiner Erzählung Candide, ou l’Optimisme im Januar 1759 die Satire als Genre der Aufklärung prominent formulierte. Fast gleichzeitig erschien 1760 von niemand geringem als Friedrich II. oder dem Großen Relation de Phihihu Emissaire de L’empereur de la Chine en Europe traduit de Chine, was ebenfalls dem Genre der Satire verpflichtet ist, wie im Dezember 2011 besprochen wurde.

Es ist an dieser Stelle nicht zuletzt an die Weltliteratur mit der späteren Fatwa gegen Salman Rushdie anlässlich des Erscheinens seines Romans The Satanic Verses am 26. September 1988 zu erinnern, wie es Slavoj Žižek kürzlich im New Statesman getan hat. Der Literaturwissenschaftler Srinivas Aravamudan am English Department der Duke University seinerseits las The Satanic Verses auch hinsichtlich des satirischen Potentials und als post-koloniale Weltliteratur oder World Literature.[1] Satire und Weltliteratur oder auch Weltliteratur als Satire nehmen nicht erst seit The Satanic Verses bisweilen flugblattartige Formen wie bei Friedrich II. Berichten des chinesischen Gesandten Phihihu an. Mit seinem außerordentlich erfolgreichen Candide knüpft Voltaire überspitzt an „die beste aller möglichen Welten“ aus Gottfried Wilhelm Leibniz‘ Essai de Théodicée (1710) an und wendet die Versprechen der Moderne als göttliches Programm ins Absurde und Widersprüchliche zwischen dem westfälischen Thunder-ten-tronckh und Konstantinopel. 

 

Die literarische Verschlüsselung der Autorschaft, wie sie bei Friedrich und ihm quasi vorausgehend bei Voltaire mit Mr. Le Docteur Ralph für Candide[2] praktiziert wird, produziert Welt als eine andere durch den Autor als anderen. Das Pseudonym soll den Autor nicht nur vor der Zensur und Verfolgung schützen, vielmehr eröffnet es, als merkwürdiger Doktor oder chinesischer Gesandter allererst anders und anderes zu schreiben. Gleichzeitig wird das Pseudonym mit einem Übersetzungsprozess aus dem Deutschen bzw. Chinesischen verknüpft. Denn die Übersetzung beansprucht ebenfalls keine Originalität. Insofern als sich diese literarische Verfahren nicht zuletzt mit Die Zeitung als Nachtrag zu EINBAHNSTRASSE wiederholen, lässt sich ein größerer Bogen zwischen Satire und Literatur als eine Macht destabilisierende Produktion schlagen. 

Das literarische Verfahren der Übersetzung findet in Voltaires Candide als prototypische Satire gleich auf mehreren Ebenen statt. Leibniz ist zwar ein deutscher Autor, der allerdings seinen Essai de Théodicée auf Französisch schreibt, das seinerseits von dem deutschen „Docteure Ralph“ ins Französische übersetzt wird, wobei sich der Nachname Ralph deutlich als nordischer bzw. deutscher maskuliner Vorname lesen lässt. Leibniz seinerseits schlug das Chinesisch wegen seines vermeintlich binären Schriftsystems als Wissenschaftssprache vor. Leibniz‘ Binarismus, der gleichzeitig mit einem Modell positivistischer Wissenschaft, einem Optimismus des Wissens eines lächerlich einfältigen Candide verknüpft wird, ist unauflösbar mit dem nie gefundenen „Chinesischen Schlüssel“ verbunden, worauf mit Wang Huis Mosse-Lecture zur Konzeption und Übersetzung von Wissenschaft im chinesischen Schrifttum eingegangen worden ist.

  

Der Aufklärer und Rechenmaschinenkonstrukteur Gottfried Wilhelm Leibniz schreibt über China, weil er sich mit den chinesischen Schriftzeichen eine berechenbare Schrift wünscht. Doch die Berechenbarkeit der Schrift auf einen göttlichen Sinn hin erweist sich gerade als unlösbar. Der „Chinesische Schlüssel“, mit dem sich nach und mit Leibniz der Wunsch nach einer analogen Entschlüsselung des chinesischen Schrifttums formuliert, indem sie mathematisiert und in einen Binarismus von 0 und 1 aufgespalten wird, lässt sich nicht nur nie finden, vielmehr noch funktionieren Schrift und Schrifttum gerade nicht nach einer mathematisch-rechenmaschinellen Logik. Indem Voltaire den Leibnizschen Wunsch satirisch zuspitzt und ihn zu einem Horrorszenarium verkehrt, wird die Théodizée nicht nur lächerlich, sondern zeigt ihr Wissen als Fratze.  

 

Das Wissen der Satire generiert sich aus Übersetzungsprozessen, in denen gerade das an Zeichen gekoppelte Wissen anders oder gar nicht funktioniert. Candide und sein Lehrer Panglos, der alle Sprachen (oder Zungen) spricht, lesen die Welt beispielsweise mit dem Wissen der spezifisch modernen „Experimentalphysik“, die nicht rein zufällig verführungstechnisch formuliert und genutzt wird. Kunigundes Anlagen für die Wissenschaften (disposition pour les sciences) werden von Voltaire/Docteur Ralph satirisch auf das sexuelle Begehren übertragen, so dass sich nicht mehr klar unterscheiden lässt, ob das Experiment (nur) eine Metapher für den Sexualakt oder das sexuelle Begehren quasi ein ursprüngliches Wissenwollen der Wissenschaft umschreibt.     

Un jour Cunégonde en se promenant auprès du Château, dans le petit bois qu’on appelait parc, vit entre des brousailles le Docteur Panglos qui donnait une leçon de phisique expérimentale à la femme de chambre de sa mère, petite brune très jolie & très docile. Comme mademoiselle Cunégonde avait beaucoup de disposition pour les sciences, elle observa, sans souffler, les expériences réitérées dont elle fut témoin ; elle vit clairement la raison suffisante du docteur, les effets et les causes, et s’en retourna tout agitée, toute pensive, toute remplie du désir d’être savante, songeant qu’elle pourrait bien être la raison suffisante du jeune Candide, qui pouvait aussi être la sienne. (Originalausgabe bei Gallica) 

 

Was Voltaire subtil in und allemal politisch unkorrekt mit Candide als sexuelles Begehren (désir) der Wissenschaft satirisch formuliert, gibt auch einen Wink auf das Problem des Wissens. Denn das Begehren geht von keinem Mangel an Daten und Wissen aus. Vielmehr gibt es ein Problem der Big Data als Wissensmasse, was wiederholt in diesem Blog angesprochen worden ist.[3] Indessen gibt es ein weiteres Problem des großen Anderen als Produzenten eines homogenen Weltbildes, das, wie Slavoj Žižek in seinem Artikel entfaltet, die konsumorientierte Weltordnung mit dem Versprechen einer Welt als Paradies des puren Konsums ─ Jungfrauen ─ und schier unerschöpflicher Potenz bekämpft. 

… The fundamentalist Islamic terror is not grounded in the terrorists’ conviction of their superiority and in their desire to safeguard their cultural-religious identity from the onslaught of global consumerist civilization. The problem with fundamentalists is not that we consider them inferior to us, but, rather, that they themselves secretly consider themselves inferior. This is why our condescending politically correct assurances that we feel no superiority towards them only makes them more furious and feeds their resentment… 

Dass Slavoj Žižek in seinem Artikel literarische Formulierungen von Salman Rushdie, Friedrich Nietzsche, William Butler Yeats und Walter Benjamin zitiert, um gegen einen Fundamentalismus im Islam und gegen den beschwichtigenden, linken Liberalismus von Simon Jenkins zu argumentieren, gibt auch einen Wink auf das Verhältnis von Formulierungen im Live-Modus und literarischen Formulierungen. Der Fundamentalismus ist an einen befehlsförmigen Live-Modus gebunden, der vorgibt aus der Tiefe eines Glaubens zu kommen. Doch diese Tiefe formuliert sich lediglich als ein Rechtsanspruch des allein richtigen Lesens. Da das Lesen nie anders und tiefer als auf der Oberfläche der Medien stattfinden kann, bleibt auch der Tiefe beanspruchende Fundamentalismus ein Oberflächenphänomen der Schrift als (heiliges) Wort. 

Die Anknüpfung an literarische Texte von Nietzsche, Yeats und Benjamin, die sich nicht als Wissenschaftler und Wissensproduzenten verstanden, sondern vorherrschende Wissensformationen beispielsweise vom Faschismus hinterfragten, ist durchaus eine strategische, um das Argumentieren im Modus der Fakten zu unterlaufen. Wenn Slavoj Žižek vom „Islamo-Fascism“ spricht, geschieht dies nicht als ein Mangel des Wissens über den Islam, sondern als eine Ausformung des Islam, der zum Bekenntnis zwingt. Doch Islam, Christentum und Judentum sind keine homogenen Lehren und Lesarten der biblischen Texte. Einzig und allein die katholische Kirche beansprucht mit dem Papst einen personalisierten Alleinvertretungsanspruch, dem eine abgleichende Glaubenskongregation unterstellt ist. Das Schrifttum generiert immer wieder neue Lesarten, nicht weil es sich den Fakten, wie Benjamin schreibt, stellen oder beugen müsste, sondern weil diese aus dem Schrifttum heraus als Wissensmodus formuliert werden. 

 

Torsten Flüh 

 

PS: Der Artikel von Slavoj Žižek ist in der aktuellen Druckausgabe der ZEIT vom 15. Januar 2015 in deutscher Übersetzung erschienen.

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[1] Vgl. dazu Aravamudan, Srinivas: „Being God’s Postman is no Fun, Yaar” Salman Rushdie’s The Satanic Verses. In: Fletcher, M. D. (ed.): Reading Rushdie: Perspectives on the Fiction of Salman Rushdie. Amsterdam 1994. p. 187-208

[2] Vgl. auch die ausführliche Besprechung von Voltaires Candide, der Satire und dem Problem des Komischen bei Lillian Hellmann und Leonard Bernsteins Musiktheaterstück Böse, bunt, berauschend – Bernstein Leonard Bernsteins Candide an der Staatsoper im Schiller Theater (25. Juni 2011)

 


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