Von der Design-Wende - Zur Tagung Verhaltensdesign im Hybrid Lab

Verhalten – Technologie – Design 

 

Von der Design-Wende 

Zur Tagung Verhaltensdesign im Hybrid Lab 

 

„Die Hybrid Plattform verbindet Künste, Wissenschaft und Technik“, heißt es auf der Website von hybrid-plattform.org auf dem Campus Charlottenburg. Das Hybrid Lab befindet sich in der Villa Bell. Und der Berichterstatter denkt sofort „Alexander Graham Bell“, amerikanischer Erfinder des Telefons. War der denn mal hier in der alten Villa in der ehemaligen Sophienstraße im einstigen Villenviertel zwischen Marchstraße und Straße des 17. Juni? — Oben in der Villa Bell ist jetzt eine KITA der Technischen Universität Berlin, unten das Lab, ausgezeichnet 2016 als Ort im „Land der Ideen“, Deutschland. Die Villa Bell ist ziemlich mit Wissen und Ideen, Technik und Erziehung aufgeladen. Ganz einfach zu finden ist sie nicht. Jetzt geht es hier um Verhaltensdesign.

 

Im Hybrid Lab fand in der vergangenen Woche die Tagung „Verhaltensdesign. Bildungs-, Erziehungs- und Regierungsprogramme“ statt. Was ist Verhaltensdesign? Ein neuer Begriff? Zum aktuellen Verhalten am PC gehört es, dass der Begriff erst einmal online gegoogled wird. Das haben der PC und das Internet mit uns gemacht. Kein Wikipedia-Eintrag! Die Organisatorinnen Jeannie Moser und Christina Vagt arbeiten im Feld von Literatur- und Kulturwissenschaft. Sie haben wesentlich den Begriff aus Verhalten und Design montiert, um „eine Schnittstelle von computertechnischer und humaner Transformation“, kulturgeschichtlich, technisch, anthropologisch, politisch, literaturwissenschaftlich kontextualisieren zu können. Zur Eröffnung der von der „Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung“ bezuschussten Tagung formulieren sie zur Forschung einladend, dass sie auch nicht wüssten, was Verhaltensdesign sei.

 

Der thematische und methodologische Bogen ist weit gespannt. Internationale Literatur-, Kunst-, Kultur-, Internet-, Bildungs- und Lernforscherinnen sprechen an zwei Tagen über das „vermeintlich neue Wissen der Zukunftsforschung, Managementtheorie sowie des Computerdesigns“[1]. Es geht darum, mächtige Wissensformationen zu befragen. Remigius Bunia sprach beispielsweise pointiert über Das Programm der Universität. Zur Zweckbindung von Forschung und Lehre, indem er einen breiten historischen Abriss zur Herausbildung der Wissensorganisation Universität in der Moderne gab. Welchen Zweck sollte das Wissen in der Moderne und für Wilhelm von Humboldt bei der Gründung der Berliner Universität 1810 haben? Das Modell der Universität, wie es Humboldt für Berlin und den preußischen Staat formulierte, wurde weltweit insbesondere in Amerika auf die Gründung von modernen Universitäten übertragen.

 

Doch den Anfang machte Benjamin Peters von der University of Tulsa in Oklahoma mit seinem Vortrag über die unterschiedliche Entwicklung und Herausbildung des Internets in den USA und der Sowjetunion zwischen 1959 und 1989: In the Dashes of the Military-Industrial Academic Complex. Toward a Global History of Partial Cybernetics. Peters, der gerade bei MIT Press ein Buch besonders zum Internet in der Sowjetunion veröffentlicht hat[2], befasst sich mit der Geschichte der Kybernetik selbst. Die Kybernetik wird nach Peters ab 1911 bis 1913 in den „Summer Seminars“ mit dem Maschinenbauingenieur und Begründer des „system engineering“ Frederic W. Taylor entwickelt. Taylors Principals of Scientific Management (1911) wird zur Gründungsschrift für den Taylorismus der amerikanischen Fabriken und des „system engineering“ als Vorläufer des Systemdesigns. Grob gesagt, wird in Taylors Scientific Management der Arbeiter Faktor des „best mechanism“ in der Fabrik als Produktionsmaschine. 

Scientific management fundamentally consists of certain broad general principles, a certain philosophy, which can be applied in many ways, and a description of what any one man or men may believe to be the best mechanism for applying these general principles should in no way be confused with the principles themselves.[3]

 

Aus der Suche nach dem besten Mechanismus für das Fabrikmanagement wird Wissenschaft. Die Macy Conferences zwischen 1947 und 1953 stellen insofern einen Umbruch in der Herausbildung des system engineering dar, als mit ihnen die Neurowissenschaften quasi federführend werden. Auf dem Cerebral Inhibition Meeting im Mai 1942 werden zwei Vorträge als Scharnier und Vorbereitung gehalten. Der Vortrag des jungen Psychiaters Milton H. Erickson erfolgt nicht nur zur Hypnose, sondern zum „Hypnotism“ und Howard Liddell, der bei einem Assistenten Ivan Pavlovs studiert hatte, hält einen Vortrag zu „Conditioned reflex“ bzw. zur Reflexologie. Wie sich später mit dem Vortrag von Barbara Wurm herausstellen sollte, machen Konditionierung und Reflexologie, für die Pavlov mit Hunden und Kindern experimentierte, historisch eine entscheidende Scharnierstelle im system engineering und der Transformation in die Kybernetik aus.

Steuerungsphantasien am Menschen wie in der Hypnose und der Reflexologie werden somit in den USA in den 40er und frühen 50er Jahren zum Ausgangspunkt für die Macy Konferenzen. Zwischen dem Konferenzthema „Self-regulating and teleological mechanisms“ im März 1946 über „Child psychology“ im März 1947 sowie „Are the number of neurons and their connections sufficient to account for human capacities?” im März 1949 bis zum Thema „Meaning in language and how its acquired” in der Abschlusskonferenz im April 1953 wird ein interdisziplinäres Steuerungsprojekt entfaltet.[4] Der Ratio Club in Cambridge, Vereinigtes Königreich, brachte zwischen 1949 und 1955 mehr oder weniger gleichzeitig junge, experimentierfreudige Physiologen, Psychologen, Mathematiker und Ingenieure zu regelmäßigen Treffen zusammen. Zu ihnen gehörte Alan Turing. Auf der Dartmouth Conference trafen sich, nach Peters, schließlich 1956 die Gründungsväter der „AI“ oder Künstlichen Intelligenz: John McCarthy, Marvin Minsky, Alan Newell, Herbert Simon, Arthur Samuel, Claude Shannon und Ray Solomonoff. 

 

Während in den USA ein komplexes Netzwerk aus Militär, Wissenschaft und Wirtschaft die Computertechnologie und Internet herauszubilden begannen, wurde ein ähnliches Projekt in der UdSSR durch Interessen- und Kompetenzkonflikte eher verhindert als vorangetrieben. Die Vereinigung und Vereinheitlichung der „Soviet Machine Minds“ sah „Natural-language programs, Macro-piping processing, Automata theory, Paperless office“ und „Information immortality“ voraus. Doch die Vereinheitlichung wird zum Problem: 

After examining the midcentury rise of cybernetics, the science of self-governing systems, and the emergence in the Soviet Union of economic cybernetics, Peters complicates this uneasy role reversal while chronicling the various Soviet attempts to build a "unified information network." Drawing on previously unknown archival and historical materials, he focuses on the final, and most ambitious of these projects, the All-State Automated System of Management (OGAS), and its principal promoter, Viktor M. Glushkov. Peters describes the rise and fall of OGAS -- its theoretical and practical reach, its vision of a national economy managed by network, the bureaucratic obstacles it encountered, and the institutional stalemate that killed it.[5]

 

Benjamin Peters ging eher wenig auf die breiten Verschränkungen unterschiedlicher Wissensfelder und Zwecke für die Herausbildung der Kybernetik ein. Doch die Konstruktion der Kybernetik an der Schnittstelle von Medizin, Konditionierung und Optimierung nicht nur von Arbeitsprozessen, sondern des Menschen und seiner Fähigkeiten selbst ist nicht zuletzt durch Ivan Petrovich Pavlovs Vortrag auf dem 13. Internationalen Physiologischen Kongress im August 1929 in Boston mit dem Taylorismus, dem system engineering und den Macy Konferenzen verknüpft.[6] Pavlov wurde auf dem ersten Physiologischen Kongress außerhalb Europas gefeiert. Schon 1904 hatte er den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für seine Konditionierung von Hunden erhalten. Doch als sich Pavlov feiern ließ, arbeiteten seine Schüler und Assistenten wie Nikolai Iwanowitsch Krasnogorski[7] an der Militärmedizinischen Akademie in Leningrad an der Schaffung des Sowjetmenschen als einem Neuem Menschen durch Versuche an Kindern, Waisen, und Jugendlichen.[8] 

 

Barbara Wurm ging in ihrem Vortrag „Schaltzentrale Mensch. Spielräume und Kollateralschäden der sowjetischen Anthropotechnik der 1920er Jahre“ mit einer Lektüre von Michail Zoščenkos satirischem Roman Schlüssel des Glücks (1943) genauer auf die Menschenversuche Pavlovs ein. Nach Veröffentlichung des Romans in der Zeitschrift Oktober ereilte ihn das Schicksal der Parteikritik. Vor Sonnenaufgang, so der Originaltitel, zog die Glücksmaschinen der Biomechanik, Psychotechnik oder Konditionierung und Reflexologie in Frage. Die Partei verstand den Roman nicht zuletzt als Kritik an den populärwissenschaftlichen Lehr- und Studienfilmen von 1926 und 1927. Die Machbarkeit des Glücks für den Sowjetmenschen hatte sich in einen Erziehungs- und Glücksterror verkehrt.[9] Zoščenko hatte die ersten großen Säuberungen der 30er Jahre überlebt. Eine Kritik gegen die Glücksmaschinen der 30er und 40er Jahre musste zwangsläufig zur Maßregelung führen. Der Roman konnte als Buch nicht mehr unzensiert erscheinen. Nach Wurm galt die Devise: „Das Glück ist planbar“. Vielleicht muss man ergänzen, unter der Voraussetzung dass, wer sich dem Glück nicht unterwirft, eliminiert wird.

 

Die Neurowissenschaft als Konzeptualisierung des Denkens ist mit dem der Künstlichen Intelligenz in der Geschichte der Kybernetik verschränkt. Barbara Wurm ging auch auf Pudovkins Film Die Mechanik des Gehirns (Механика головного мозга) von 1925 ein, der als Verschränkung von Seh- und Filmtheorie sowie Neurowissenschaft u.a. mit einem Hundemodell den „"unbedingte(n) Reflex" als Kopplung von neuronalem "Seh-Bereich" und "Bewegungs- und Empfindungsbereich"“ in einer animierten Grafik des Dokumentarfilms von 90-Minuten-Spielfilmlänge vorführt.[10] Es war Vsevolod Pudovkins erster Film, der in der Militärmedizinischen Akademie mit Pavlovs Forschungsbereich und den Moskauer Filmstudios von Mezhrabpomfilm entstand. Pudovkin hatte an der Moskauer Universität Ingenieurswissenschaft studiert, war in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und hatte als Chemiker gearbeitet, bevor er zum Film kam und Regisseur wurde.[11]

 

Erzählstrategien des Stummfilms zwischen Dokumentation und Spielfilm überschneiden sich bei Pudovkin bereits während der Arbeit an Die Mechanik des Gehirns. In der damals relativ schnellen, industrieartigen Filmproduktion verschränkt sich die Arbeit am Dokumentarfilm mit der Produktion und Regie von Schachfieber als einer Filmkomödie, die gleichwohl das Moskauer Schachturnier von 1925 mit zahlreichen Cameoauftritten von Teilnehmern dokumentiert. Im Stummfilm nehmen Zwischentitel, Grafiken und Animationen wie das Hundemodell eine entscheidende, verknüpfende und erklärende bzw. sinn- und sehengenerierende Funktion ein. Erst die verzögerte Grafik erklärt die stumme Filmsequenz vom Hund, der ein elektrisches „Signal“ von einer Morsetaste an der Vorderpfote erhält, welches im Körper auf das Gehirn und über die Wirbelsäule bis in den Hundeschwanz übertragen wird.[12] Animierte Pfeile zeigen, wo genau die Verschaltung im Hundehirn passiert. Der „unbedingte Reflex“ funktioniert insofern nicht nur als Kopplung, sondern Semantisierung, er stellt Bedeutung her. Das Hundemodell wird zum Filmmodell, insofern er zeigt, wie was gesehen wird, das gesehen werden soll.

 

Pudovkins Hundemodell als animierte Grafik wirkt sich selbst auf die Produktion des Films im Wechsel des visuellen Materials aus. Der Filmschnitt zeichnet sich dabei durch die Verschränkung von animierten Grafiken und Dokumentaraufnahmen aus dem Labor aus. Dadurch wird zweierlei im Modus des Films erreicht. Erstens wird im Wechsel von Text und animierter Grafik Wissen ins Bild eingeschrieben. Zweitens wird die Dokumentarsequenz im Wechsel von Totalen und Nahaufnahmen zum Wissen selbst. Der Film eröffnet mit einer ausführlichen Textsequenz als Wissenschaftserzählung. Darauf folgen animierte Grafiken von der Physiologie des Frosches. Erst nach dieser ausführlichen Übertragung von „Wissenschaft“ auf schematisierte und animierte Grafiken wird ins Labor mit dem Hundeexperiment geschnitten, um dieses wiederum in einer komplexeren animierten Grafik nicht nur zu erklären, sondern mit der Wiederholung allererst herzustellen und nunmehr auf die Dokumentaraufnahmen aus dem Labor zu übertragen.

 

Die Mechanik des Gehirns ist keinesfalls nur ein „populärwissenschaftlicher Film“ oder Populärwissenschaft, wie es häufig abwertend heißt. Was der Zuschauer mit engagiertem Interesse sehen soll, wird vielmehr mit dem Medium Stummfilm selbst eingeübt. Ein begleitender, oraler Genuss von Popcorn etc. wie in den gleichzeitig stattfindenden Versuchen an Waisenkindern mit Keksfütterungsmaschinen etc. wirkte im Kino sicherlich verstärkend. Insofern wird nicht nur dokumentiert, sondern der Dokumentarfilm enthält ein wissenschaftliches Lernprogramm, das beim Publikum das Glück des Wissens hinterlassen soll. Auf diese Weise macht Pudovkin mit Die Mechanik des Gehirns einen Stummfilm, der anders als Richard Oswalds früher sexualwissenschaftlicher Dokumentarfilm und Dokudrama Anders als die Andern (1919)[13] sowie Magnus Hirschfelds Sexualwissenschaftlicher Bilderatlas (1930)[14] keine Kontraste und Widersprüche zum § 175 StGB aufdeckt, sondern Pudovkins populärwissenschaftlicher Film übt Wissen in der Dauer des Films selbst ein.

 

Das Wissen der Kybernetik – und das macht nicht allein Pavlovs, sondern Pudovkins Hundemodell in Die Mechanik des Gehirns zu mehr als eine Fußnote, nämlich zu einem Scharnier der Übertragung vom Labor in den Dokumentarfilm, ins Kino und damit in die visuellen Medien – generiert sich aus dem Modell des frühen neurowissenschaftlichen Wissens. Margarete Pratschke von der ETH Zürich konnte mit ihrem Vortrag „Visuelles Denken unter technischen Vorzeichen. Zur Erziehung der Sinne zwischen Gestalt und Gestaltung“ insofern, obwohl Barbara Wurm Pudovkins Film nur angerissen hatte, an das Denken durch technische Laboratorien anknüpfen. Sie stellte Robert H. McKims technisches „Imaginarium“ mit dessen Artikel The Imaginarium: An Environment and Program for Opening the Mind’s Eye von 1978 in Visual Learning, Thinking and Communication[15] vor.

 

In einer Verkopplung von Architektur, Lichtinstallation, Sound, Gruppe, Erzählung und Doku- wie Animationsfilm entwickelte McKim eine räumliche Umgebung und ein zeitliches Programm, in dem das (kreative) Auge der Seele, des Verstandes, des Sinns, der Psyche, des Gedankens, wie sich die Bedeutungsbreite von mind übersetzen lässt, geöffnet werden sollte. McKims „Mind’s Eye“ korrespondiert sicher besonders stark mit dem Begriff der Psyche. Doch der Gebrauch von mind lässt eben eine gewisse Unschärfe für das Visual Thinking zu. Denn es geht sozusagen um eine Maschine, die das visuelle Denken zugänglich machen bzw. hervorrufen soll. Und die beabsichtigte Unschärfe von mind erweist sich denn auch in der Eröffnungssequenz des Artikels mit einem Einstein-Zitat als produktiv. 

Einstein reported that he “rarely thought in words at all” and that his thinking processes were represented to his consciousness by “more or less clear images … of visual and some muscular type.” Kekulé told his colleagues that he glimpsed the ringlike structure of the benzene molecule in a dream of a snake biting its own tail. Rudolph Arnheim, in a book entitled Visual Thinking, theorizes that visual imagery is essential to all creative thinking. Verbal and mathematical thinking, he suggests, is valuable for mental operations involving logical, linear, step-by-step reasoning, but is totally inadequate for the metaphoric, wholistic, transformational operations generally associated with the initial “insight” stages of creative thinking.[16]    

 

Der elastische Begriff mind wird von McKim eingesetzt, um eine Kreativmaschine, das Imaginarium, zu konstruieren und zu bauen, die natürlich auch nicht die neurologische Dimension eines solchen visuellen Denkens außer Acht lässt. Margarete Pratschke stellte diese Maschine detailliert von den Konstruktionszeichnungen über Doku- wie Animationsfilme bis zum heutigen Verbleib des „Imaginarium“ vor. Aktuell beruft sich das „Joint Program in Design“ der Stanford Graduate School of Product Design, das 1958 von John E. Arnold im Mechanical Engineering Department und Art Department gegründet wurde, nur über Wikipedia noch auf McKim und sein Imaginarium. Für Design Impact „A Master of Science in Engineering program at Stanford“ spielt eine historische Rückbindung keine Rolle mehr, womit wohl nicht zuletzt eine Design-Wende im visuellen Denken stattgefunden hat. Es ist auch eine Bildungswende, weil in der Präsentation des Studiengangs im Design der Website Geschichte nicht (mehr) auftaucht. 

ME101: Visual Thinking was the introductory class for all product design students and the class included four "voyages" in the Imaginarium, a 16-foot geodesic dome that presented state-of-the art multimedia shows designed to stimulate creativity.[17]   

 

Folgt man Margarete Pratschke in ihrer Analyse des „Imaginarium“ hinsichtlich eines Konzeptes von Kreativität, dann wird McKims emphatischer Titel mit dem Versprechen auf ein „Opening the Mind’s Eye“ zu jenem Drehpunkt, an dem unterschiedliche Wissenskonzepte wie das lineare Denken, das schon Rudolf Arnheim als Psychologe, Kunst- und Medienwissenschaftler mit dem Visual Thinking kritisiert hatte, abgelöst und aufgehoben werden. In McKims Konstruktion des „Imaginarium“ gehen die unterschiedlichen Konzepte indessen ein, um quasi zu verschwinden. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass genau an diesem Punkt der Begriff Design in den 70er Jahren auftaucht. Er ist eine Kombination aus Mechanical Engineering und Kunst als Kreativität ohne Geschichtlichkeit. Kunst-, Film- und Technologiegeschichte verschwinden geradezu im „Design Impact“. Auch bei dieser Kombination von design und impact eröffnet sich mit Auswirkung, Aufprall, Wucht, Schlag, Wirkung etc. für impact eine Bedeutungsbreite, die eher auf Überwältigung als auf Reflexion verweist.

 

Jeannie Moser wandte sich mit ihrem Vortrag Neuzeitliches Verhaltensdesign. Zu  Graciáns Handorakel dem „diskreditierten Verhältnis zum Ungewissen, dem Misstrauen“ zu. Anders als in normativen Konzepten der Bildung entfaltet das Handorakel als Handbuch, das nicht zuletzt jeder Zeit an jedem Ort zur Hand genommen werden kann, eine Aphorismen-Sammlung. Sie hatte Arthur Schopenhauer zu einer neuerlichen Übersetzung anregte, nachdem die spanische Ausgabe von 1647 bereits 1711 ins Deutsche übersetzt worden war. Antrieb für die neuerliche Übersetzung war nicht zuletzt nach ca. 150 Jahren die Unlesbarkeit der Übersetzung von August Friedrich Müller. Schopenhauers Übersetzung beschränkte sich auf „50 Nummern“ von 300, wie Julius Frauenstädt 1861 in seiner Vorbemerkung des Herausgebers anmerkt.[18] Schopenhauer merkte in seinem Manuskript selbst ein Übersetzungsproblem „von der spanischen so himmelweit verschiedenen deutschen Sprache“ an.[19] Die Rezeption des Handorakels als einem ratgebenden Handbuch für das Leben wurde von Schopenhauer erstens mit einem Goethe-Zitat gerahmt und zweitens mit Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre verknüpft.   

 

In ihrem Vortrag machte Jeannie Moser eine andere Kontextualisierung auf. Denn Garciáns Handorakel kursiert heute als Ratgeber in amerikanischen Managerkreisen. Sie fragte: „Was weiß das Handorakel über das Verhaltensdesign?“ Der Aphorismus als literarische Form, die „stetig semantische Überschüsse“ produziert, rückt damit ins Interesse für das wahre Wissen der „Weltklugheit“. Auf diese Weise wird Bildung generiert, die nach Gracián den Mann bzw. die „persona“ macht. Sie führt zu einem „Gestaltungswissen“ als einem „machbaren Handlungswissen“. Es geht darum, „entschieden und scharfsinnig zu reagieren“. Gracián hat sein Handorakel im Umfeld des spanischen Hofs als Jesuit im Kontext des Siglo de Oro geschrieben[20], womit es auch auf die Frage des Regierens reagiert. Das Handorakel enthält nach Moser eine neue Zeitlichkeit, die auf das glückliche Ende ausgerichtet ist. Das Denken müsse nun im Voraus geschehen. Das durch den Aphorismus formulierte Wissen, wird empirisch angewendet und überprüft, so dass Moser darin eine interaktive Anwendungsweise sieht. Die Aphorismen selbst sind abstrakt und völlig losgelöst von Raum und Zeit. Es gehe um immer neue situative Entwürfe und die „Gestaltung von Spielräumen“. Im Unterschied zu späteren Bildungsprogrammen spielen Bilder, Zeichnungen oder Grafiken keine Rolle im Handorakel des 17. Jahrhunderts.

 

Die Tagung eröffnete nicht zuletzt mit dem Vortrag von Jeannie Moser ein breites Spektrum des Verhaltensdesigns. Anja Lemke ging methodologisch mit ihrem Vortrag Verhaltensdesign avant la lettre. Zum Zusammenhang von Potentialität und Einbildungskraft in ästhetischen Bildungsprogrammen um 1800 vor. Bei ihr verschob sich der Begriff Bildung insofern, als sie ihn nicht als normativ, sondern ähnlich wie bei Moser prozessual formuliert. Im „Selbstmanagement“ ginge es nunmehr schon um 1800 darum, „Kräfte, Wünsche und Vermögen im Individuum zu optimieren“. Sie geht dabei nicht zuletzt von einer entschiedenen Lektüre des Emile oder die Erziehung von Jean-Jacques Rousseau aus, bei der es keinesfalls um eine Rückkehr zur Natur, sondern um ein neues produktives Verhältnis zu sich selbst gehe.

 

 

Wohl nicht zuletzt durch neuartige Druckverfahren und den Kupferstich verschiebt sich das Bildungsprogramm in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert. Jean Bernard Basedows Elementarwerke für die Jugend und ihre Freunde wird 1774 in Berlin und Dessau mit einem aufwendigen Tafelwerk aus 53 Tafeln in der „erste(n) Lieferung“ und 47 in der „zweite(n) Lieferung“ versehen. Die runde Anzahl von 100 „Tafeln“ erhebt offenbar einen Anspruch auf eine gewisse Vollständigkeit und Abgeschlossenheit des Bildungsprogramms. Mit dem dreisprachigen Titelblatt der „Kupfersammlung“ in Deutsch, Französisch und Latein wird ein über den deutschsprachigen Raum hinaus verallgemeinerbarer Bildungsanspruch formuliert. Anja Lemke entfaltete detailliert, wie das Sehen und die Bildung durch die Tafeln eingeübt wird. Wie und was gesehen werden soll, um die Bildung selbst anwenden und durchaus sehen lassen zu können, wird von Basedow genau formuliert. Dabei geht es auch um Selbstregulierungen in Gesellschaft und sehr viel mehr. — Wie war das eigentlich noch einmal mit dem fehlenden Wissen vom Verhaltensdesign in der Online-Enzyklopädie Wikipedia? 

 

Torsten Flüh

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[1] Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte: Verhaltensdesign | Bildungs-, Erziehungs- und Regierungsprogramme. 8./9. Dezember 2016.

[2] Benjamin Peters: How Not to Network a Nation: The Uneasy History of the Soviet Internet (Information Policy). Cambridge: MIT Press, 2016.

[3] Frederick W. Taylor: The Principles of Scientific Management. New York: Harper Bros., 1911, S. 29. Zitiert nach Internet Modern History Source Book: Paul Halsall (1998): Modern History Sourcebook: Frederick W. Taylor: The Principles of Scientific Management, 1911.

[4] Vgl. Macy conferences (Wikipedia)

[5] Verlagstext zum Buch: Benjamin Peters: How … [wie Anm. 2] bei Amazon

[6] Vgl. Mathias Schulenburg: Vom Hundespeichel zum Neuen Menschen. Deutschlandfunk 27.2.2016.

[7] Siehe Lexikon der Neurowissenschaft: Krasnogorski.

[8] Siehe HUMAN EXPERIMENT -Paplov Conditioning - Human Subject YouTube 21.11.2015.

[9] Vgl. auch: Torsten Flüh: Politik und Psyche. Zum Realismus in einer post-faktischen Mediengesellschaft und dem Film მონანიება/Reue (1984) von Tengis Abuladse. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. November 2016 18:42.

[10] Bei YouTube gibt es seit dem 3. Februar 2013 eine kürzere Fassung des Films in der Kategorie „Film & Animation“: Pudovkin Mechanics of the Brain.Пудовкин.

[11] Pudovkin spielte in unterschiedlichen Rollen Nebenrollen auch in beiden Teilen von Eisensteins Ivan Grozny mit. Siehe auch: Torsten Flüh: Vom Schrecken der Macht des Einen. Zur Welturaufführung beider Teile von Eisensteins und Prokofjews Ivan Grozny beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. September 2016 22:07.

[12] Die Sequenz mit dem Hundemodell beginnt bei 12:35 nach einer Überblendung eines Hundes vor einem Metronom und endet bei 13:59 mit einem Zwischentitel. [wie Anm. 10].

[13] Siehe u.a.: Torsten Flüh: Sonntag mit Jean. GENET – Hommage zum 100. Geburtstag im Schwulen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Dezember 2010 22:06.

[14] Siehe u.a.: Torsten Flüh: Zu Magnus Hirschfelds Bilderatlas. Aus Anlass der Spendengala Marlene für Magnus – DenkMal für Hirschfeld und die ersten Hirschfeld-Tage. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Mai 2012 22:51.

[15] Robert H. McKim: The Imaginarium: An Environment and Program for Opening the Mind’s Eye. In: Bikkar S. Randhawa, William E. Coffman (Ed.): Visual learning, thinking, and communication. New York: Academic Press, 1978, S. 61ff.

[16] Ebenda S. 61.

[18] Balthazar Gracian's Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit (nachgelassenes Manuscript). Baltasar Gracián y Morales, Vicente Juan de Lastanosa y Baraiz de Vera, Athur Schopenhauer. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1871, S. V. (BSB digital)

[19] Ebenda S. VIII.

[20] Siehe dazu auch die Besprechung zur Ausstellung Siglo de Oro in der Gemäldegalerie: Torsten Flüh: Der goldene Kreis der Bilder. Zur bezaubernden wie verstörenden Schlüsselausstellung El siglo de Oro in der Gemäldegalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. August 2016 20:43. 


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