Gleichheit – Kapitalismus – Buch
Wiederkehr des Kapitals als gefährliches Erbe
Zu Thomas Pikettys Democracy Lecture im HKW und die große Beschleunigung
Das Haus der Kulturen der Welt wurde am Freitagabend von Besucherinnen überrannt. Ein bisher kaum erlebter Ansturm auf das HKW brach sich aus Linienbussen und mit Fahrrädern wegen des nationalen Lokomotivführerstreiks Bahn bis vor den 50er Jahre Bau. Thomas Piketty und Das Kapital standen unter dem sperrigen Titel „Democracy Lecture der »Blätter für deutsche und internationale Politik« in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt Thomas Piketty »Das Ende des Kapitalismus im 21. Jahrhundert?«“ auf dem Programm. Das Auditorium, 1.024 Plätze, ausverkauft. Menschen, sehr junge und ältere bis alte bilden Trauben vor dem Haupteingang. Absperrbänder. Enttäuschte Schnellentschlossene machen sich auf den Rückweg.

Das Kapital und „Das Ende des Kapitalismus“ locken als Versprechen am 7. November 2014 unerwartet viele Menschen an die John-Foster-Dulles-Allee 10. Am Brandenburger Tor leuchten schon die Lichtgrenze-Ballons für die 25-Jahre-Mauerfall-Feier, die von fern an das Ende des Kommunismus 1989, wenn nicht gar an das Ende der Geschichte der Geschichte, Francis Fukuyama 1992, erinnern sollen. Doch in einem der amerikanischsten Bauten Berlins, damals an der Grenze und später am Todesstreifen gelegenen Kongresshalle der Benjamin-Franklin-Stiftung in der Architektur von Hugh Stubbins als Geschenk gebaut, steht der Kapitalismus als Wirtschafts- und Wissensmodell zur Disposition. Zwar mit Fragezeichen, doch überhaupt formulierbar. Thomas Piketty greift den Kapitalismus und sein Gleichheitsversprechen mit den Big Data der Ungleichheitsentwicklung der 0,1 Prozent Superreichen an.

Thomas Pikettys Le capital au XXIe siècle (September 2013) ist am 7. 10. 2014 in deutscher Übersetzung bei C. H. Beck erschienen. Ilse Utz und Stefan Lorenzen haben sich die vier Teile des 816-Seiten-Buches mit 97 Grafiken und 18 Tabellen plus Register beim Übersetzen geteilt. Piketty hat ein neues Kapital geschrieben. Der Titel in rotem Rot und Majuskeln sowie im roten Rahmen zieht als Versprechen. Rot ist doch nicht nur Marlboro, um noch einmal zu Volker Braun hinüberzuwinken. Das rote Rot verspricht, dezidiert gegen Amerika und das Gleichheitsversprechen des Kapitalismus gewendet, sozialwissenschaftlich noch mehr und anderes. Doch Thomas Pikettys Buch als Ergebnis einer 15jährigen Forschung an der Paris School of Economics lässt sich wie die Diskussion nach seinem frei gehaltenen Vortrag im HKW zeigte, recht unterschiedlich lesen.

Kontroverse Einschätzungen und konträre Leseweise gehören seit dem Erscheinen von Le capital zur Rezeption. Ist er für oder gegen den Kapitalismus? Hat er Marx‘ Kapital für das 21. Jahrhundert neu geschrieben? Wird Le capital dem Kapital gerecht? Im Haus der Kulturen der Welt diskutierten die Philosophin und Direktorin des Einstein Forums Potsdam Susan Neiman, der Politikwissenschaftler und Vorstandsmitglied der IG Metall Hans-Jürgen Urban sowie der Kultur-, Medien- und Literaturwissenschaftler Joseph Vogl mit Mathias Greffrath und Thomas Piketty über sein Buch. Joseph Vogl, der 2012 im Züricher Diaphanes Verlag sein Buch Das Gespenst des Kapitals veröffentlicht hatte, formulierte zu Beginn der Diskussion, die bereits in der Mediathek des HKW als Audio-Datei verfügbar ist, dass er glaube, dass das Buch „kein kapitalismuskritisches Buch“ sei. Darauf wäre zurückzukommen.

Die neue Reihe der Democracy Lectures brachte Bernd Scherer einführend in den Kontext des Anthropozän-Projektes und stellte auch die Blätter für deutsche und internationale Politik als Kooperationspartner vor. Die große Beschleunigung seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts hänge auch mit dem Kapital zusammen. Neben Jürgen Habermas, Claus Leggewie, Friedrich Schorlemmer und Rosemarie Will gehört auch Hans-Jürgen Urban zum Herausgeberkreis der Monatszeitschrift. Der Soziologe Rainer Rilling von der Universität Marburg stellt in seiner aktuellen Rezension von Pikettys Buch in den Blättern klar, worum es entgegen renommiertester Gewährsmänner nicht geht. Die Kontroverse gehört damit offenbar zum Erfolg des Buches.
Der Text ist keine „einheitliche Feldtheorie der Ungleichheit“, wie der Nobelpreisträger Paul Krugman begeistert behauptete. Erst recht geht es nicht um eine „allgemeine Theorie“ des „Kapitals“ oder gar des „Kapitalismus“ (so der Weltbankökonom Branko Milanovic), auch nicht um einen aktuellen Text über Neoliberalismus oder einen „Kapitalismus des 21. Jahrhunderts“.[1]

Die schwierige Einordbarkeit des Buches hängt nicht zuletzt mit den Big Data und dem Medium Buch zusammen, die bei der Edition durchaus ein Problem darstellten. Nach der „Danksagung“ wird auf Seite 10 eine ganzseitige editorische Notiz unter dem Titel „Das Buch und der Technische Anhang/die Homepage: eine Gebrauchsanweisung“ eingeschoben. Die Daten und der Text oder der Datentext gehen, anders gesagt, über das Medium Buch hinaus. Das ist neben dem Editionsproblem ein Problem des Textes. Mit der „Gebrauchsanweisung“ wird das Medium Buch mit dem Internet-Medium Homepage verkoppelt. Diese Problematik ist nicht zuletzt eine, die mit der Formulierung des Forschungsvorhabens in der „Einleitung“ selbst korrespondiert:
… Vor dem Hintergrund dieses Dialogs von Tauben, in dem jedes Lager seine eigene intellektuelle Trägheit gern mit der des gegnerischen Lagers rechtfertigt, ist eine systematische Erforschung des Sachverhalts gefragt – auch wenn diese nie rein wissenschaftlich wird sein können… [2]

Die „systematische Erforschung des Sachverhalts“ erfordert ein „geduldig(es)“ Ermitteln von „Fakten und wiederkehrende(r) Abläufe“ als eine Verarbeitung großer Datenmengen. Das Buch in der Edition Les Livres Du Nouveau Monde und seine Daten, Graphiken, Tabellen sowie der technische Anhang fallen auch auseinander, weil die Big Data nicht mehr ins Buch passen, ließe sich sagen. Das verschiebt auch das Verhältnis von Wissenschaft und ihrer Darstellung bis hin zur Darstellbarkeit von Wissenschaft. Die ohnehin schon umfangreichen 816 Seiten verzweigen sich noch einmal in Primärquellen und „Internet-Links“, mathematische Formeln und Gleichungen. Thomas Piketty und sein Forscher- wie Editionsteam sind sich durchaus klar darüber, dass es unterschiedliche Lektüren gibt:
Der Technische Anhang und die Homepage sind also zu dem Zweck konzipiert worden, die Lektüre des Buches zu ergänzen und unterschiedliche Intensitäten der Lektüre zu ermöglichen. (S. 10)

Was heißt das für Das Kapital und seine Leseweisen, die es vermögen, große Lese(rinnen)ströme zu bewegen? Vielleicht muss man von dieser Problematik aus noch einmal auf die MEGA, die Marx-Engels-Gesamt-Ausgabe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, deren Editionsprobleme und die Zettelwirtschaft von Karl Marx für das Kapital zurückkommen. Die große Menge geordneter, ausgewerteter und in einen lesbaren Text transformierten Forschungen sowie die Umschriften und Umformulierungen Karl Marx‘ sind möglicherweise kein Zufall, sondern zeichnen den wissenschaftlichen Modus des Kapitals aus.

Die Erzählung vom Kapital seiner Akkumulation, seiner Distribution und der daraus generierenden Ungleichheit hat offenbar strukturell auch etwas mit einer Unabschließbarkeit zu tun, die bereits bei Honoré de Balsacs Romanzyklus La Comédie humaine selbst nach 88 Titeln zwischen 1829 und 1856 noch keinen Abschluss finden kann, bei Karl Marx als Balsac-Leser zu einer Zettelwirtschaft führt und bei Thomas Piketty schier endlos verdatet wird.

Thomas Piketty formuliert mit der Ungleichheit bei der Einkommensverteilung durchaus eine fast dramatische Gefahr für Politik und Gesellschaft, die mit zunehmender Geschwindigkeit stattfindet. Wenn immer weniger Menschen, Familien und Clans über immer größere Vermögen verfügen, dann hat das negative Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft. Es wird zu einem Demokratieproblem, wie es sich am krassesten in Amerika bemerkbar macht. Die großen Vermögen und ihre mediale Macht im Wahlkampf wie in ihrer Einflussnahme auf die Tagespolitik führen zum politischen Stillstand. Das zeigte sich bereits im Januar 2014 in den Auseinandersetzungen um den Haushalt. Er wird sich nach den Senatswahlen als Gefahr verschärfen.

Die Akkumulation großer Vermögen entsteht nicht durch Arbeitsleistung, sondern durch genealogisches Vererben. Das Thema des Erbes nimmt für die „Struktur der Ungleichheit“ vor allem für „Verdienst und Erbschaft auf lange Sicht“ eine entscheidende Funktion ein. Die „Kapitalrendite“ ist nach den von Piketty geleiteten Forschungen höher als die „Wachstumsrate“. Die anhaltend folgenreiche, sich beschleunigende Entwicklung wird sich verstärken.
… Sobald die Kapitalrendite deutlich und dauerhaft höher ist als die Wachstumsrate, überwiegt fast unvermeidlich die Erbschaft, also das aus der Vergangenheit stammende Vermögen. Unter einem strikt logischen Gesichtspunkt könnte es sich auch anders verhalten, aber die Kräfte, die eine Entwicklung in diese Hinsicht vorantreiben, sind außerordentlich stark. r > g – das heißt in gewisser Weise, dass die Vergangenheit sich anschickt, die Zukunft zu fressen… (S. 502)

Piketty will, wie er in seinem Vortrag formulierte, mit seinem Buch „mathematische Modelle, die wissenschaftlich scheinen“ durch seine umfangreiche Datenerhebung und der Auswertung als „reine Blenderei“ entlarven. Er formuliert in gewisser Weise ein Transparenz-Postulat, durch das der versteckte Reichtum und die Konsequenzen seiner Häufung auf wenige ans Licht kommen. Seine Erzählung vom Kapital in einer Zeitspanne von 250 bis 300 Jahren, versteht sich dabei vor allem als intellektuelle Gegenerzählung zum „Märchen vom Gleichheitskapitalismus“. Das heißt nicht, dass er sich automatisch für den Kommunismus begeistern müsste, wie es im 20. Jahrhundert geradezu zwanghaft folgen musste. Vielmehr fordert er eine höhere Besteuerung der Reichen und Superreichen aus der makroökonomischen und sozialwissenschaftlichen Logik heraus.

Als Gesprächspartner und Vortragsredner ist Piketty derzeit hoch gefragt. Denn das hat Das Kapital im 21. Jahrhundert offenbar vermocht, dass wegen dem hohen Grad der Institutionalisierung, der Anhäufung und Auswertung von Big Data und eine Anknüpfung an Karl Marx wieder über das Kapital, den Kapitalismus und die faktische Ungleichheit gesprochen wird. Denn „die Konfrontation von Kapitalismus und Kommunismus“ hat nach Piketty „die Forschungen über das Kapital und die Ungleichheiten“ nicht befruchtet. Deshalb distanziert er sich von „Texte(n), die Sartre, Althusser oder Badiou ihrem marxistischen oder kommunistischen Engagement gewidmet haben“. Er will stärker eine Forschung anstoßen, die dem Staat, den Steuern und den Schulden in „ihren konkreten Diemensionen“ gilt und „sich von den simplifizierenden und abstrakten Schemata (...) verabschieben, die einen ökonomischen Unter- und politischen Überbau einander gegenüberstellen wollen."[3]

Das Publikum im Auditorium und im Foyer des HKW vor Lautsprechern und Leinwänden spendete Piketty einen herzlichen Beifall. Mit der Diskussion bröckelte allerdings die Bereitschaft, sich auf eine genauere Auseinandersetzung mit dem Buch einzulassen. Wer ein mehr oder weniger 800-Seiten-Buch mit zusätzlichen Daten und Dateien im Internet schreibt, die in 15 Jahren zusammengetragen wurden, hat keine einfachen oder ideologisch eindeutigen Antworten. Piketty kritisiert mit einer intellektuellen Lust an der Formulierung und Differenzierung, um gerade einfache Antworten auszuhebeln. Vielleicht liegt darin sein Erfolg, dass der formelhaft einfache Titel sich über eine Forschung spannt, die von größter Komplexität ist.
Torsten Flüh
Thomas Piketty
Das Kapital
im 21. Jahrhundert
2. Auflage 2014. 816 S.: mit 97 Grafiken und 18 Tabellen. Gebunden.
ISBN 978-3-406-67131-9
Auch als E-Book lieferbar.
München 2014
Blätter für deutsche und internationale Politik
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[1] Rilling, Rainer: Thomas Piketty und das Märchen vom Gleichheitskapitalismus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 59. Jahrgang Heft 11/2014. S. 81
[2] Picketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2014. S.15
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